Für mich tat sich die letzte Ausgabe von EXODUS etwas schwer in der Auswahl der Kurzgeschichten; sie bewegten sich alle auf einem angemessenen Niveau, doch stachen wenige dieser Erzählungen wirklich mit einem individuellen Charakter hervor. Anders ist das in Ausgabe 44, die es erneut versteht, inhaltlich und stilistisch viele verschiedene Geschmäcker anzusprechen. Dystopische Zukunftsvisionen (Norbert Stöbe, "Beetles"; Roland Grohs, "Talion"), subtil bis explizite Konsumkritik (Barbara Ostrop, "Der Wind der neuen Zeit"), Sci-Fi-Satire (Hans Jürgen Kugler, "Flucht aus dem Fluidum"; Peter Schattschneider, "42 Milliarden Jahre"), philosophisches Gedankenexperiment (Ulf Fildebrandt, "Marys Zimmer"; Moritz Greenman, "Sehen"; Angelika Brox & Yvonne Tunnat, "Minevera"), futuristischer Sozialalltag (Thomas Kolbe, "Auf Sendung"; Christoph Grimm, "Perfect Match") – die narrativen Prämissen und stilistischen Umsetzungen der jeweiligen Erzählungen könnten unterschiedlicher nicht sein.
Hier ein kurzer Eindruck meiner drei Story-Highlights aus dem Heft:
Aiki Mira: "Die Grenze der Welt"
Lange Zeit hat Kat auf dem Mond gelebt – ein Leben in geringer Gravitation, dass auch für ihren Körper nachhaltige Folgen hat. Nun ist sie jedoch auf die Erde zurückgekehrt und kann nur noch mithilfe eines maschinellen Exoskeletts agieren. Sie sehnt sich nach Einsamkeit, möchte sich vor ihren Mitmenschen verstecken. Ein neuer Job auf einer Baustelle, für den Kat eine sogenannte Super Shell – ein gigantisches Exoskelett – steuern soll, kommt ihr da grade recht. Bis plötzlich ein kleiner Junge auf der Baustelle auftaucht …
Aiki Miras Kurzgeschichte überzeugt insbesondere in Hinblick auf die sprachliche Gestaltung, die der Erzählung einen melancholischen und doch hoffnungsvollen Anstrich verpasst.
Uwe Hermann: "Der Nachrichtenmacher"
Während Nachrichten einst noch Stunden, Tage oder gar Wochen brauchten, um uns Menschen zu erreichen, wird dieser Abstand zwischen Ereignis und Nachrichtenmeldung in der heutigen vernetzten Welt immer kürzer. In Uwe Hermanns "Der Nachrichtenmacher" ist die Technologie sogar so weit fortgeschritten, dass die Medien Newsmeldungen bereits veröffentlichen, bevor das Ereignis eintritt. Schockiert erfährt der Ich-Erzähler, dass er am nächsten Tag sterben wird. Anstatt jedoch seine Beerdigung zu planen und sich seinem Schicksal zu beugen, begibt er sich auf die Suche nach dem Newsverlag, um zu erfahren, ob es nicht doch noch einen Ausweg aus seiner Zukunft gibt. Hermanns Erzählung erinnert in puncto Prämisse an Philip K. Dick, ohne dabei jedoch in den paranoiden Fieberwahn des Amerikaners abzudriften. Vielmehr ist der Ton sachlich und lässt einen genau deswegen mit dem Protagonisten mitfühlen.
Nicole Hobusch: "Typ 4"
Über diese Erzählung will nicht zu viel verraten sein. "Typ 4" von Nicole Hobusch ist in vielerlei Hinsicht eine typische postapokalyptische Dystopie: Widerstandsgruppen, die sich vor staatskonformen Mächten verstecken, ständige Ressourcenknappheit usw. Innerhalb dieser Erzähltradition bewegt sich die Kurzgeschichte bereits auf einem recht hohen Niveau – dreht dann aber noch einmal voll auf mit einem unerwarteten Twist am Ende. Kleine stilistische Besonderheiten geben dieser Erzählung zudem einen sehr persönlichen und emotionalen Anstrich.
Achtung: Polarisierende Meinungskritik nachfolgend!
Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt jedoch der abschließende Essay "Science-Fiction und das Ende der Aufklärung" von Peter Schattschneider. Ausgehend von einem halbgaren Verständnis der Texte von Philosophen und Medienwissenschaftlern wie Marshal McLuhan, François Lyotard, Neil Postman und Co. – und als Kultur- und Medienwissenschaftlerin nehme ich es mir heraus, darauf hinzuweisen, dass es sich hier tatsächlich bestenfalls um Halbwissen dieser Denker handelt – glänzt Schattschneider mit der Perspektive eines alten, weißen Mannes, der mahnend seinen Finger hebt gegen eine Welt, mit der sich auseinanderzusetzen er nicht bereit ist. In der Aufklärung sieht der Autor scheinbar das Heil des Menschen; doch die Aufklärung schlug laut Schattschneider fehl aufgrund sich immer schneller entwickelnder Medien, die inzwischen wie Magie wirken und letztlich nur Echokammern und Filterblasen erzeugen. Es ist hier die Rede von Druckerzeugnissen wie Pamphleten, die einst noch politische Nachrichten senden konnten; moderne Medien sind nach Ansicht des Autors aber völlig wertlos: "TV sendet Konformismus oder Eskapismus, Instagram coole Bilder, Twitter Gezwitscher, TikTok Quatsch, usw". Bereits diese Behauptung ist sehr eindimensional gedacht und übersieht geschickt die mediengeschichtliche Komplexität, die für sowohl die politische Bedeutsamkeit von Pamphleten als auch die angebliche Entpolitisierung digitaler Medien zahlreiche relevante Gegenbeispiele liefert. Weiter wird ein angebliches Verbot von politischer Inkorrektheit moniert und Kulturvandalismus angeprangert, sobald die Existenz gewisser Denkmäler hinterfragt wird. Auch ist die Rede von "Sprach- und Grammatikverboten", ein offensichtlicher Seitenhieb auf gegenderte Sprache.
Um ein paar Dinge klarzustellen: Es gibt weder dieser Verbote, noch ist das Hinterfragen eines Denkmals mit dem Zerstören ebenjenes Denkmals gleichzusetzen. Doch Schattschneider ist nicht bereit, diese Dinge in irgendeiner Weise zu differenzieren, geschweige denn, den kritischen Wert dieser Fragen zu betrachten. So kann man sich das Leben natürlich auch einfach machen. Heute darf man nach wie vor noch alles sagen, was man denkt – sogar völlig ungegendert! –, sofern das Gesagte nicht die juristischen Grenzen der Meinungsfreiheit überschreitet. Aber man muss damit rechnen, eventuell unliebsamen Gegenwind zu erhalten, und dass eben nicht alles einfach kommentarlos stehen gelassen wird, sondern dass Widerrede erteilt wird – so wie ich in dieser Rezension Stellung zu Schattschneiders Essay nehme.
Eigentlich hätte ich schon vorher wissen müssen, was mich hier erwartet: Visuell gerahmt wird der Aufsatz von vielen anderen weißen Männern, die ohne Zweifel alle einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung, naturwissenschaftlichen Forschung und/oder Science-Fiction geleistet haben. Aber auffällig ist die Einseitigkeit des Essays bereits in dieser grafischen Gestaltung.
Das Highlight der Ausgabe: Die visuelle Gestaltung
Wie gewohnt wird jede Kurzgeschichte von einer oder zwei Illustrationen begleitet. Die Grafiken zwölf verschiedene Künstler*innen bilden mein persönliches Highlight von EXODUS 44, denn sie alle erzählen ihre eigene Geschichte. Mario Frankes Illustration der Erzählung "Sehen" (Moritz Greenman) greift die nachdenkliche, abstrakte Stimmung des Textes wunderbar auf. Detlef Klewers Bebilderung von "Marys Zimmer" (Ulf Fildebrandt) zieht allein schon ob der farblichen Gestaltung in den Bann und erfreut mit zahlreichen story-relevanten Details. Frauke Bergers comichafte Käfer wandern auffällig über gleich zwei Seiten der Erzählung "Beetles" (Norbert Stöbe).
Hinzu kommen die Kunstwerke von Thomas Thiemeyer, dem in dieser Ausgabe auch die Künstlergalerie gewidmet ist. Thiemeyers Grafiken machen bereits den Einband von EXODUS 44 zu einem echten Hingucker. In der Heftmitte werden seinen Bildern mehr als 20 Seiten gewidmet, für die allein sich bereits der Kauf der Ausgabe lohnen würde. Es sind Bilder, die zum Tagträumen einladen, die ferne Realitäten mit fliegenden Schiffen und futuristischen Städten imaginieren. Einfach atemberaubend!
Negativ fällt jedoch der Essay der Ausgabe auf, der eine problematisch festgefahrene Perspektive und ablehnende Haltung allem Neuen gegenüber offenbart. Dadurch, dass dieser Aufsatz den Abschluss des Hefts bildet, bleibt am Schluss doch noch ein bitterer Nachgeschmack.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.