Liebe Zauberweltler*innen,
wow, nunmehr fünf Jahre habe ich nun die Redaktionsleitung für Zauberwelten-Online gemacht. Was für eine aufregende Zeit das war. Als ich im Februar 2016 begonnen habe, für ZWO zu schreiben, hätte ich nie gedacht, wo sich diese spannende Reise hinentwickelt.
Jetzt blicke ich zurück auf viele ereignisreiche Jahre als Teil einer Plattform, deren Ziel es war und ist, die Phantastik mit all ihren schillernden Facetten vorzustellen. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, die Werke der bekannteren Autoren und Autorinnen zu fördern, sondern vor allem auch die noch unbekannteren Schätze zu entdecken, die vielleicht noch nicht so viele Augen gesehen haben.
Momentan gibt es eine große – wenn nicht sogar riesige – Auswahl an Büchern, die nur darauf wartet, gelesen zu werden. Das ist ein Vorteil für uns Leseratten, birgt aber auch ein paar Risiken. Denn die Autor*innen, die sich weniger auf Selbstvermarktung verstehen als auf ihr Talent zu schreiben, oder nicht das Glück hatten, einen geeigneten und geneigten Verlag zu finden, gehen dabei eventuell mit ihren Werken unter. Zwischen eindrucksvollen Covern und Farbschnitten schlummern aber eben auch diese verborgenen Schätze, die nach außen vielleicht nicht so zu beeindrucken wissen, aber dennoch wunderbare Geschichten und Abenteuer enthalten, sodass wir uns immer wieder freuen, ihnen einen kleinen Schubs in die bekannte Welt geben zu können. Genauso ging es uns mit kleineren Verlagen, die getränkt sind vom Herzblut ihrer Inhaber*innen, aber vielleicht nicht das Budget für umfangreiche Werbung haben, da sie ihre wenigen Münzen lieber in fantastische Geschichten stecken. Danke, dass ihr uns trotz knappem Geldbeutel immer wieder Rezensionsexemplare geschickt habt.
Nach ca. 145 Artikeln auf meinem Content-Konto bin ich ganz zuversichtlich, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe, diesen kleinen Schatzberg an wunderbaren Werken aufzuhäufen, auf dem ich mich jetzt ausruhen möchte, wie ein fauler Drache; nur ohne die Zähne, das Feuer und das Gemetzel, versteht sich.
Ich bedanke mich bei allen, die mir auf dieser Reise gefolgt sind, ob nun als Mitwirkende der Plattform oder als Lesende unserer Artikel und Rezensionen. Ohne Euch Zauberweltler*innen wäre Zauberwelten-Online niemals so groß, vielfältig und bunt geworden wie es das heute ist und dafür bin ich mehr als dankbar. Ich freue mich über jede*n, den wir mit unserer Leidenschaft für Phantastik, Science-Fiction, Horror, LARP, Cosplay, Rollenspiel und all die anderen fantastischen Hobbies anzünden und begeistern konnten.
Ein dickes Danke-schön auch für all die Zeit, das Engagement und die vielen wunderbaren Kontakte mit Euch, den Redakteur*innen, den Lesenden, den Verlagen, Autoren und Autorinnen sowie allen anderen, die auf ihren eigenen Wegen mit ZWO in Berührung gekommen sind, einen Teil des Weges mit uns gegangen sind und dann ihre eigenen gefunden haben - oder immer noch mit uns gehen.
Ich freue mich sehr, Teil dieser Geschichte gewesen zu sein, und werde sicher noch die ein oder andere Artikel-Münze meinem ZWO-Juwelenberg hinzufügen. Doch die Redaktionsleitung gebe ich nun mit einem letzten Seufzen in andere Hände.
Die folgende Kurzgeschichte hat sich aus meinen Gedanken, Beweggründen und Argumenten ergeben, die ich abgewägt habe, um diese Entscheidung zu treffen. Es fällt nie leicht, eine liebgewonnene Aufgabe abzugeben, an der man gewachsen und mit der man sich entwickelt hat. Ich könnte es in erklärenden Worten vermutlich nicht so ausdrücken, wie es sich in der KG beim Schreiben einfach entwickelt hat.
Bleibt fantastisch,
Eure Ruka
PS: *jingle jingle* Wenn ihr mich weiter begleiten möchtet, bei dem, was ich so tue, findet ihr mich auf meiner Facebookseite. *jingle jingle* Werbung Ende. ;)
Seitenwechsel
Tessa hob den Blick von ihrem Magazin und lauschte in den Raum hinein. Irgendetwas war anders als sonst, allerdings konnte sie noch nicht so wirklich greifen, was das sein sollte. Langsam ließ sie den Blick über die Wände schweifen, um herauszufinden, was ihre Aufmerksamkeit erweckt haben könnte. Die Möbel konnten es nicht sein, sie standen beständig auf ihren Plätzen, wie schon in den letzten zehn Jahren. Manchmal knackte das Holz, wenn es sehr warm oder kalt im Zimmer wurde, aber diese Geräusche gehörten zu Tessas Zuhause wie ihr eigener Atem. Ein solches Knacken hätte sie sicher nicht von ihrer Lektüre abgelenkt. Also lenkte die junge Frau ihren Blick zum Fenster. Durch die feine Gardine konnte sie den Kirschbaum sehen, dessen Äste sich leicht im Wind wiegten. Zwei forsche Kohlmeisen pickten fleißig an der Rinde herum, immer auf der Suche nach Käfern oder kleinen Läusen, die sie mit gezielten Attacken von einem eigenständigen Lebewesen zu einem Nachmittagssnack verwandelten. Die Konzentration der Vögel auf ihr Tagwerk war allerdings auch ein eindeutiges Zeichen, dass draußen alles seiner Ordnung nachging, was hieß, dass Tessa den Grund für ihre Beunruhigung immer noch nicht gefunden hatte. Einer Eingebung folgend, schaute sie zu ihrer Schwester Lena hinüber, die in ihrem senfgelben Lieblingssessel versunken war. Ihr Rücken lehnte in einer der Ecken des Sessels, die Beine hatte sie leicht angezogen, sodass der schwere Buchrücken ihres Romans mit dem Hauptgewicht auf ihrem Oberschenkel zu liegen kam. War Lena in eine ihrer Geschichten versunken, konnte sie stundenlang in der gleichen Position verharren, ohne mehr zu rühren als ein Handgelenk. Lenas Augen waren fest auf die Seiten ihres Buches gerichtet, Zeigefinger und Daumen lagen locker auf der oberen Ecke des Buches, bereit, das gelesene Blatt umzublättern und in der Geschichte voranzuschreiten. Ein Bild, dass Tessa schon so oft gesehen hatte, dass es sich nahtlos in das Zimmer einfügte, als sei ihre Schwester ein Teil des Interieurs. Unbeweglich, festgefroren in der Zeit, aber ein unverzichtbarer Teil dessen, was ein Zuhause ausmachte.
Die beiden Schwestern saßen oft zusammen in diesem Zimmer, jede in ihre Lektüre vertieft. Doch Lena liebte lange Fortsetzungsromane, die sich aus möglichst dicken Wälzern zusammensetzte, während Tessa sich lieber aufregend-bunten Magazinen widmete. In dieser Hinsicht waren die Beiden sich völlig ungleich. Tessa konnte einfach nicht verstehen, wieso jemand möglichst lange in einer immer gleichbleibenden Welt verharren wollte, wo es doch so viel zu entdecken gab, dass es unmöglich schien, sich nur auf einen Bereich konzentrieren zu wollen. Sie liebte ihre Magazine, weil sie dort von einem Thema zum nächsten springen konnte, immer auf der Suche nach neuen Eindrücken und Informationen. Die abwechslungsreichen Artikel wurden durch farbenfrohe Hochglanz-Fotos ergänzt, die ihr dabei halfen, das Gelesene in Bilder zu fassen. Dadurch entstand der Eindruck, als stünde sie direkt neben den Personen, über die ein Artikel berichtete. Der Text konzentrierte sich dabei auf das Wesentliche, also genau die Situation, die besonders spannend war. Tessa musste nicht erst eine komplette Welt kennenlernen, um zum Punkt einer Handlung zu kommen; es schien ihr auch gar keinen Sinn zu machen, erst ein Umfeld in seiner Detailreiche zu erfassen, bevor es zum eigentlich spannenden kam, nämlich dem Anstoß des Artikels selbst. In diesen Momenten, wenn ein berühmter Mann seine Frau betrogen oder die Herrin des Hauses mit dem Bodyguard durchgebrannt war, steckte die konzentrierte Gefühlslage der Situation, über die berichtet wurde. Der gelesene Skandal, kombiniert mit einem Bild der Übeltäterin oder des Übeltäters setzte sich wie eine Knospe in ihr fest, die zu einem Feuerwerk aus Empörung, Freude oder Mitgefühl erblühte. Und grade, wenn sich die Blüte voll entfaltet hatte, huschte Tessa zur nächsten Seite, zum nächsten Artikel, zur nächsten Neuigkeit, ohne sich den Schmerz des Verwelkens geben zu müssen.
Anders ihre Schwester Lena. Sie konnte stundenlang über den Verlust eines Buches trauern. Selbst wenn die Geschichte mit einem Happy End schloss, war Lena oft über Tage hinweg verstört und traurig, weil sie eine geliebte Welt verlassen und sich von liebgewonnenen Charakteren trennen musste. Gerade deswegen liebte sie die langen Saga-Reihen, die aus unendlich vielen Seiten bestanden, und in denen sie möglichst lange verweilen konnte, ohne den Verlust spüren zu müssen. „Es sind doch nur Geschichten!“, hatte Tessa ihr mal unbedacht an den Kopf geworfen, als wieder einmal die Tränen geflossen waren, weil ein Buch sein Ende erreicht hatte. Daraufhin war Lena – oh, die sanftmütige Lena – auf einmal richtig wütend geworden. Richtig rot war sie geworden, hatte ihr Buch geschnappt und war stampfend aus dem Raum gestürmt. Bis heute hatte Tessa nicht ganz verstanden, was da passiert war.
Nachdenklich blickte Tessa nun auf ihre Schwester, die weiterhin regungslos in ihrem Sessel saß, ohne auch nur einen Finger gerührt zu haben. Ein gelegentliches Blinzeln und das regelmäßige Senken und Heben des Buches auf Lenas Schoß ließen darauf schließen, dass die Unbeweglichkeit nicht auf einen medizinischen Notfall hindeutete. Allerdings war Lena schon sehr unbeweglich … unbeweglicher als sonst. An diesem Gedanken hielt sich Tessa fest, denn langsam wurde ihr bewusst, dass die Ursache für ihre Beunruhigung irgendwie mit ihrer Schwester zu tun haben musste. Es war keine Bewegung oder ein Geräusch, dass sie von ihrem Magazin hatte aufblicken lassen … es war … das Fehlen einer Bewegung und eines Geräuschs. Denn normalerweise regte sich Lena doch sehr regelmäßig. Einem Fremden würde es nicht auffallen, doch Tessa war zu oft, zu lang und zu gerne in diesem Lesezimmer, als dass es ihr nicht nun doch endlich aufgehen würde. Normalerweise beugte Lena in immer gleichen Abständen den Zeigefinger, um eine Seite vom Rest ihres Buches zu lösen. Sobald sie die Seite separiert hatte, ließ sie den Zeigefinger einfach nur nach unten und Richtung Buchmitte gleiten, sodass die Buchseite sich immer weiter vom Korpus entfernte, bis sie mit einem ganz leichten Rascheln auf die andere Seite hinüberglitt. So wagte sich Lena vom Gelesenen zum Ungelesenen, vom Bekannten zum Unbekannten vor. Immer wieder, bis das unweigerliche Ende des Romans erreicht war und Lena entweder zur Fortsetzung greifen konnte oder die Phase der Trauer einleiten musste. Und genau dieses Fortschreiten fehlte. Schon seit ungewohnt langer Zeit. Konzentriert beobachtete Tessa ihre Schwester. Die Augenbewegung verriet, dass sie immer noch las. Stetig huschte der Blick von links nach rechts, dann etwas nach unten und wieder von links nach rechts. Eine leichte Neigung des Kinns gab den Wechsel der Seite bekannt, von der linken auf die rechte Hälfte des Romans. Und wieder links, rechts, nach unten und links rechts, nach unten. Eine Konformität, die nur unterbrochen wurde von eben dieser kleinen Bewegung des Zeigefingers, die das Umblättern einleitete. Tessa beobachtete Lena genau, bis diese mit den Augen an der untersten Zeile der rechten Buchseite angekommen war. Unwillkürlich senkte sich Tessas Blick zu Lenas Zeigefinger, der nun jeden Moment die gelesene von den noch unbekannten Seiten trennen müssen. Ohne es zu wissen, hielt sie den Atem an … gleich … gleich …
Nichts geschah. Kein Fingerzeig, kein Rascheln, kein Entdecken unbekannter Seiten. Tessa suchte Lenas Augen. Die waren wieder zum Anfang der linken Seite gehuscht, wie gewohnt. Nur ohne den Wechsel der Seite vollzogen zu haben. Lena schien eingefroren. Eingefroren in ihrer Sitzposition, ihrer Doppelseite und irgendwie so auch in der Zeit.
„Lena!“ Tessas gesamte Empörung über die Störung der gewohnten Leseordnung lag in diesem Wort, dass sich durch die Stille des Augenblicks schnitt und ihre Schwester aus der Starre weckte.
„Hm?“
„Was ist los? Du liest seit Ewigkeiten an dieser Doppelseite herum!“
Lena schluckte leicht, schien mit unruhigen Augen nach Worten zu suchen, bevor sie Tessas Blick erwiderte.
„Ja, mh. Hattest Du jemals schonmal das Gefühl, dass ein Moment so schön ist, dass Du Angst hast, Dich zu bewegen, weil er dann vorbei sein könnte? Als könntest Du den Moment für immer bewahren, nur indem Du Dich nicht rührst? In der Hoffnung, dass dieser so wunderbare Moment nicht mitbekommt, dass er vorbei ist und noch ein bisschen länger bleibt?“
„Was redest Du denn da schon wieder?!“
„Naja … hm, kannst Du Dich noch erinnern, als wir Kinder waren hat Mama uns manchmal vorgesungen. Nur ganz selten, weil sie dachte, sie könne nicht singen. Manchmal nur eine einzige Strophe, aber ab und an eben auch eine zweite oder dritte. Wenn eine Strophe fast zuende war, haben wir den Atem angehalten und keinen Mucks gerührt, weil wir gehofft haben, dass sie weitersingt.“
„Ja, das weiß ich noch.“ Tessa lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss genießerisch die Augen, um diese kostbaren Momente zumindest in ihrer Erinnerung zurückzuholen. „Das war ein schönes Gefühl so eingekuschelt in die Decken und Mamas Gute-Nacht-Lieder. Mama mochte ihre Stimme nicht, aber eigentlich hat sie ganz gerne gesungen, glaube ich. Wenn sie nicht drüber nachgedacht hat, sang sie einfach weiter. Wir haben den Atem angehalten, weil wir Angst hatten, sie mit einer Bewegung oder einem Geräusch aus ihrer Trance zu holen und sie dann aufhören würde, zu singen, weil sie sich erinnern würde, dass sie gar nicht singen könnte.“
„Genau.“
„Und was hat das jetzt mit Deinem Buch zu tun?“
„Nichts und alles. Das ganze Buch war voller Aufregung und Spannung. Ein Ereignis jagte das andere, die Charaktere kamen kaum zum Verschnaufen. Die Handlung hat sie immer weiter vorangetrieben in ihrem Abenteuer, sie haben eine Herausforderung nach der anderen gemeistert, sind an sich und ihrem Leben gewachsen, haben sich gefürchtet und ihrer Angst gestellt.“
„Und jetzt? Was macht diese Seite so besonders?“
„Auf dieser Doppelseite ist Frieden eingekehrt. Für einen Moment, zwei Seiten lang, dürfen sie einfach ihre Welt genießen, innehalten und eine Pause machen.“
„Und, wenn Du nicht umblätterst, dann …“
„… dann dauert die Pause an. Der Augenblick des Friedens, bevor sie wieder weiterreisen und sich der nächsten Aufgabe stellen müssen.“
„Hmhm, ich verstehe.“
Die beiden Schwestern sahen sich an, während sich erneut Stille auf das Zimmer legte. Selbst die kecken Kohlmeisen hielten einen Moment in ihrer Jagd nach Futter inne und richteten ihre kleinen, wachen Augen auf die jungen Frauen. Doch die Ungeduld der kleinen Tiere trieb sie alsbald dazu an, sich wieder ihrem Instinkt zu widmen.
„Aber vielleicht wollen die Charaktere ja gar nicht, dass Du sie so einfrierst. Eine Pause ist schön und gut, aber wer sagt Dir denn, dass es sie nicht nach der Fortsetzung des Abenteuers gieren? Heldenhafte Menschen sind oftmals sprunghaft, sie verweilen nicht gerne an einem Ort. Er wird ihnen langweilig und fad. Sie streben auf ihr Abenteuer zu, weil es sie dazu bringt, sich zu entwickeln. Verharren sie ewig auf dieser einen Doppelseite, weil Du sie nicht weiterziehen lässt, nimmst Du ihnen die Chance, ihre Persönlichkeit zu entfalten, ihre Heldentaten auszuleben, sie selbst zu sein. Du zwingst ihnen Deinen Willen auf, ob sie es wollen oder nicht. Es ist ihnen ja vorbestimmt, dass Du umblätterst und in ihrer eigenen Geschichte leben lässt. Momentan können sie nichts anderes machen, als herumzusitzen und darauf zu warten, dass Du Deine Angst vor dem Ende der Geschichte überwindest, während sie vielleicht schon lange dazu bereit sind, ihre nächste Angst zu überwinden. Was, wenn Du zu lange wartest und sie zu viel Zeit haben, über sich und ihr Leben nachzudenken? Es könnte passieren, dass sie eine Angst entwickeln, die sie nicht mehr überwinden können. Die Angst davor, sich immer und immer wieder mit ihren Ängsten zu konfrontieren zum Beispiel. Momentan ist es einfach ein Teil ihrer selbst, weiterzugehen, Abenteuer zu erleben und Herausforderungen zu meistern. Eine Pause brauchen sie wohl, um wieder zu Kräften zu kommen. Aber was, wenn sie in Müßiggang und Trägheit verfallen? So wie der Körper, der Muskeln abbaut, baut der Geist vielleicht den Mut ab, sich seiner Angst zu stellen? Dann möchte er vielleicht nur noch verharren und ausruhen und gar nicht mehr weitergehen. Und grade dann, wenn die Charaktere denken, sie könnten für immer in ihrem Frieden müßig bleiben, dann entscheidest Du Dich umzublättern und sie sind gezwungen, weiterzugehen. Aber dann sind sie vielleicht gar nicht mehr mutig und stolz, keine heldenhaften Menschen mehr, sondern nur noch kleine Leute, die sich vor der nächsten Stunde fürchten. Dann hast Du ihnen den Epos genommen, nur weil Du Dich – im Gegensatz zu ihnen – Deiner Angst nicht stellen wolltest, loszulassen.“
Lange blickte Lena ihre Schwester noch an, es schien, als wolle sie Antworten auf unausgesprochene Fragen in ihren Augen suchen. Und Tessa ließ es zu, denn das Schweigen waren sie gewohnt. Es war nichts Unangenehmes an dem Moment, den sie ohne Worte teilten. Im Gegenteil, sie genossen den Impuls der Gedanken, die durch diesen Augenblick hervorgerufen wurde, jede für sich, bis sie sich daran gesättigt hatten. Dann nickte Lena leicht, bevor die Schwestern ihre Köpfe neigten, ihre Lektüren aufnahmen und sich wieder der Lesestunde widmeten.
Die wiedereingetretene Stille wurde nur kurz unterbrochen von einem leisen Rascheln.