Der himmelblaue Einband von EXODUS 45, gestaltet von Michael Böhme, verspricht sonnigen Optimismus und Visionen ferner Welten. Tatsächlich sind viele der enthaltenen Erzählungen jedoch eher nachdenklich, imaginieren nach Aldous Huxleys Vorbild eine „schöne neue Welt“, in der bei genauerem Hinsehen eben doch nicht alles gut ist. Einige der Beiträge, wie Leszek Stalewskis „Some Time in Mozambique“, zeichnen ein dystopisches oder gar apokalyptisches Szenario; andere, wie Alexa Rudolphs „Das Wetter ist heute besonders schön“ entwerfen ein eher humoristisches Bild. Dennoch zieht sich diese Nachdenklichkeit wie ein roter Faden durch die gesamte Ausgabe und findet sowohl in den Kurzgeschichten als auch der enthaltenen Lyrik und natürlich der Galerie Ausdruck. Hierin liegt eindeutig die Stärke des vorliegenden Hefts, das zwar schnell gelesen ist, einem aber auch nach der Lektüre noch lange im Gedächtnis bleibt.
Hier ein kurzer Eindruck meiner drei Highlights der Ausgabe:
Norbert Fiks: Nach dem Heldentod
Malcolm Conrad starb als einer von drei Astronauten, die im Rahmen des Artemis-3-Flugs auf dem Mond landeten und dort aufgrund einer defekten Landefähre strandeten. Zumindest angeblich. Denn tatsächlich betrat Malcolm verletzungsbedingt nie den Mond, wurde mithilfe geschickter Medienmanipulation von NASA- und CIA-Spezialisten digital in die Übertragung eingefügt. Nach dem Missgeschick, bei dem für alle Welt sichtbar scheinbar auch Malcolm anwesend war, muss der Astronaut nun unter einer neuen Identität leben, zur Verschwiegenheit verpflichtet. Doch nun bricht Malcolm sein Schweigen …
„Nach dem Heldentod“ stellt klare Bezüge zu der aktuellen Artemis-Mission her und nutzt diese Verbindung, um einige kritische Fragen zu stellen. Beispielsweise die Frage danach, warum es so wichtig ist, dass mit der Artemis 3 erstmals auch eine Frau und eine Person of Color auf dem Mond landen sollen. Ebenso die Frage, welche politische und kulturelle Bedeutung das Raumfahrtprogramm hat und welche Konsequenzen der sich daraus ergebende Medienrummel haben kann.
Marco Rauch: Die Aufpasser
Die Menschheit hat den Punkt erreicht, wo sie sich derart schnell fortpflanzt, dass ältere Menschen fachgerecht eingeschläfert werden müssen, um die Ressourcen des Planeten verteilen zu können. Gregor und Flo arbeiten für die Behörde, die für diesen „Ruhestand“ zuständig ist; ihre Aufgabe ist es, Personen, die ihr Alterslimit erreicht haben, abzuholen und zu der Einrichtung zu bringen, in der sie eingeschläfert werden soll. Für diesen Job sind die Beiden genetisch angepasst, sind beispielsweise kräftiger und empfinden weniger Emotionen. Doch als sie zu Peter Moser geschickt werden, um ihn abzuholen, läuft der Auftrag nicht, wie geplant.
Rauchs „Die Aufpasser“ entwirft ein dystopisches Bild der Zukunft. Dabei steht die Frage nach dem Wert des einzelnen menschlichen Lebens stets im Vordergrund. Für die Probleme, die in der Kurzgeschichte beschrieben werden, gibt es keine simple Lösung. Auch der Eingriff in die menschliche Genetik, um Emotionen zu unterdrücken, macht die Entscheidungen, die die Menschheit in dieser Kurzgeschichte getroffen hat, nicht erträglicher.
Michael Siefener: LegionTM
Richard ist ein selbstverliebter Kleingeist, der für seine eigene Unzufriedenheit die Schuld stets bei anderen sucht. Dem aktuellen Trend folgend, schafft auch er sich einen Smart Speaker an, doch Alexa und Co. sind ihm zu teuer. Also entscheidet er sich für das kostengünstigere Modell: LegionTM. Der Smart Speaker kommt in der ungewöhnlichen Form eines Kruzifix daher und ist äußerlich auch nicht als das technische Wunderstück zu erkennen, das es angeblich sein soll. Doch LegionTM erfüllt seine häuslichen Aufgaben hervorragend – und entwickelt zu Richards Freude bald auch schon die Fähigkeit, die Realität an sich zu beeinflussen.
Michael Siefeners Erzählung erinnert in vielerlei Hinsicht an W. W. Jacobs „Die Affenpfote“ (1902), eine Schauergeschichte über eine Pfote, die zwar alle Wünsche ihres Besitzers oder ihrer Besitzerin erfüllen kann, dafür jedoch einen hohen Preis fordert. Gepaart mit dem Thema der Smart Technologie, stellt „LegionTM“ jedoch weitere zentrale Fragen der heutigen Zeit: Wie viel Kontrolle über unseren Alltag geben wir an unsere Technologien ab? Wie lebensfähig sind wir ohne derartige Sprachassistenten? Und mit welchem Preis bezahlen wir diesen Komfort?
Die Galerie
Eingeleitet durch einen exzellenten Beitrag von Prof. Dr. Hans-Ulrich Keller, stellt die Galerie einige Werke des Space-Art-Künstlers Michael Böhme vor. Seine Bilder bewegen sich entlang zweier Trajektorien: Sie imaginieren einerseits fremde Planeten, zeigen üppige Flora und teilweise auch die Silhouetten weit entfernter Städte; andererseits setzen sie sich grafisch mit den Konsequenzen von Umweltschäden und Überbevölkerung auseinander. Böhmes phantastische Zeichnungen sind grundsätzlich farbintensiv, wodurch sich ihr teils katastrophischer Inhalt oft erst auf den zweiten Blick offenbart. Passendere Kunst hätte für EXODUS 45 wohl kaum gewählt werden können, denn auch in Böhmes Bildern findet sich die Nachdenklichkeit, die den Kern vieler der enthaltenen Erzählungen bildet.
Ein wichtiger Apell
Im Vorwort dieser Ausgabe müssen René Moreau, Heinz Wipperfürth und Hans Jürgen Kugler das Thema ansprechen, dass viele Kulturschaffende und insbesondere kleinere Verlage in den letzten Monaten umtreibt: horrend steigende Produktions- und Papierkosten. Ein Auszug aus ihrem Vorwort soll an dieser Stelle als Rechenbeispiel für sich sprechen:
„Wir selbst mussten für die vorliegende EXODUS 45 sehr viel tiefer in die Tasche greifen: die Druckkosten stiegen im Vergleich zur vorhergehenden Ausgabe um satte 22 %! Die Versandumschläge sind ebenso um 20 % teurer geworden. Und durch den seit Ausgabe 43 auf 120 Seiten gesteigerten Umfang erreichen wir schon länger die nächsthöhere Portoklasse: innerhalb Deutschlands 2,25 €, ins europäische Ausland inzwischen immerhin 7,00 (!) anstatt zuvor 3,70 € je Exemplar. […] Bei den weiteren Kosten, die rund um die Produktion und Vertrieb des Magazins anfallen, sieht es nicht besser aus.“
Dennoch wollen die drei Herausgeber so lange wie möglich am bisherigen Verkaufspreis festhalten. Das ist etwas Besonderes, denn damit verschreibt sich das Magazin, weiterhin exzellente Science-Fiction in einem voll illustrierten und hochwertig produzierten Heft zu einem erschwinglichen Preis zugänglich zu machen – und ist bereit, dafür auch eine deutlich kleinere Marge einzufahren.
Dass sich die prekäre Kostenlage in absehbarer Zeit verbessern wird, ist zweifelhaft. Daher kommt es für EXODUS nun mehr denn je auf die Lesenden an, die das Heft mit ihren Käufen oder Abo-Abschlüssen unterstützen. Das von Moreau, Wipperfürth und Kugler so detailliert aufgeführte Rechenexempel ist unter anderem deswegen so wichtig, weil es nicht nur das Kosten-Einnahmen-Verhältnis von EXODUS recht transparent macht, sondern auch weil es daran erinnert, dass sich viele andere Projekte in einer ähnlich schwierigen Situation befinden.
In seiner 45. Ausgabe präsentiert EXODUS sich nicht nur mit dreizehn neuen, exzellenten Kurzgeschichten, sondern vor allem als ein Heft aus einem Guss. Die enthaltenen Erzählungen, lyrischen Beiträge und Illustrationen folgen alle einem ähnlichen Grundtenor: der Nachdenklichkeit, insbesondere was die Zukunft des Menschen und des Menschlichen angeht. Die Herangehensweise an dieses Thema ist äußerst heterogen und so ist auch in dieser Ausgabe wieder einmal für alle Lesenden etwas dabei. Fest steht: EXODUS 45 wird noch lange nach der Lektüre begleiten und nachdenklich stimmen.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.