Glücklich stemmte Wichtel Bemmel die Hände in die Hüften. Schon vor langer Zeit hatte er mit den Vorbereitungen des „Großen Meetings“ begonnen, um sicherzustellen, dass auch alles perfekt war. Immerhin gab es jedes Jahr nur einmal das „Große Meeting“, da musste man sich schon ein wenig ins Zeug legen. Bei anderen mochte es reichen, ein paar Tische und Stühle zusammenzustellen und eine Kaffeekanne in der Mitte zu platzieren, aber nicht so bei Bemmel. Bei Bemmel wurden Meetings richtig vorbereitet.
Zufrieden ließ er nun die Augen über die Arbeit der letzten Tage wandern. Kritisch prüfte sein scharfer Blick das Arrangement auf Vollständigkeit, Detailgetreue und Regelmäßigkeit. Nichts war schlimmer als ein organisatorischer Missetäter auf Abwegen. Aber Bemmel hatte sorgsam gearbeitet: Es gab nichts zu beanstanden. GAR nichts!
Die Tische standen ordentlich im Kreis, exakt im gleichen Winkel zueinander, damit sich alle Teilnehmenden gleichermaßen in die Augen schauen konnten. Menschlichkeit und gegenseitiges Anschauen waren nunmal genauso wichtig für eine gelungene Kommunikation wie konstruktive Gleichberechtigung. Die Oberflächen glänzten nach der Behandlung mit verschiedenen Reinigern und mehrerer Lagen Desinfektionsmittel, damit keiner Sorge tragen musste, sich während des Projekts krank melden zu müssen aufgrund nachlässig übersehener Viren oder Bakterien oder sowas. Das wollte er keinem zumuten müssen. An den einzelnen Plätzen lagen kleine Schreibtischauflagen, die verhindern sollten, dass man beim Überstreifen der zu glattpolierten Tischplatte unangenehm „ausglitt“ oder etwas versehentlich wegrutschte, bevor man es richtig greifen konnte. Das würde sich negativ auf die Grundstimmung auswirken und das konnte Bemmel ebenfalls nicht zulassen. Ein angenehmes Arbeitsumfeld war immerhin die halbe Miete im Projektgeschäft.
Die ordnungsgemäß arrangierten Stühle und die sorgsam darauf platzierten Flauschsitzkissen luden zum bequemen Niederlassen ein, denn er wusste, dass dem ein oder anderen spätestens nach einer Stunde Sitzen der Hintern ordentlich einschlafen würde. Das sollte ebenfalls nicht für Missstimmung sorgen. Wie auch er, waren es die anderen Mitarbeitenden nicht gewohnt, lange zu sitzen und niemand wollte mit einem tauben oder unangenehm kribbelnden Hintern noch weitere sieben Stunden in einem Meeting verbringen müssen. Auf die sogenannte Hummel-Unruhe konnte er pfleglich verzichten und auch die Vorgesetzten würden es sicher zu schätzen wissen, wenn keiner gequält auf seinem Platz herumrutschte. Außerdem hatte er sich vom letzten Jahr gemerkt, wer die Armlehnen auf welche Höhe eingestellt hatte und diese bereits wieder korrekt justiert, sodass keine wertvolle Zeit für das Herumfummeln am Stuhl verplempert werden musste. „Ordnung ist Persönlichkeit!“: das war Bemmels Devise.
Auf den Tischen standen in regelmäßigen Abständen Erfrischungsgetränke und Teller mit würzigem Gebäck, um den Gaumen zu erfreuen. Kleine Schilder mit Inhaltsstoffen standen für lebensnotwendige Hinweise bereit, falls jemand allergisch war. Die Kekszutaten wechselten zwischen Weizenmehl, Haferflocken oder Maismehl, denn einige der Teilnehmenden waren gluten-unverträglich, zumindest ergab das die vorangegangene Personenrecherche. Zugegeben, es war gar nicht so einfach gewesen, an die Krankenakten der Kollegen und Kolleginnen zu kommen, um diese kleine, aber sehr notwendige Information zu erhaschen. Aber er wäre nicht Bemmel, hätte er nicht einen Weg gefunden. Immerhin war er Profi.
Die Glasuren waren auf jeden Fall aus Zartbitterschokolade für vegan Lebende oder Laktoseintolerante. Kaum vorstellbar, dass nervöses Bauchgrummeln oder hektische Toilettengänge das Meeting stören könnten. Gar nicht drüber nachdenken wollte er, wenn der ein oder andere Pups … nein, sowas war absolut inakzeptabel! Nicht in seinem Meeting!
Statt den üblichen Eiern hatte er für das vegane Gebäck außerdem Seidentofu genutzt, den er vorsorglich selbst fermentiert hatte. Für alle diejenigen, die gerade auf Diät waren, standen Obst- und Gemüseschalen parat, bestückt mit ausgewählten Früchten, die für ihren besonders niedrigen Fruchtzuckergehalt bekannt waren. Die Karotten- und Paprikastifte hatte Bemmel zudem zu kleinen Zuckerstangen gebogen – wegen des weihnachtlichen Flairs. Zum Gemüse gab es leicht-gewürzten Dip aus Magerquark und Light-Joghurt. Im letzten Jahr hatten sich einige Wichtel über drastische Gewichtszunahme während der Adventszeit beschwert. Adipositas war auch nicht in der Wichtelversicherung enthalten. “Zu hohes Berufsrisiko”, stand in der Ablehnung.
Eine Schale mit handwarmem Wasser und kuscheligen Mikrofasertüchern konnten zum Reinigen der Hände genutzt werden, sodass keine Zeit zum Händewaschen aufgebracht werden musste. Das Schmeicheln der Hände würde zusätzlich zum Wohlbefinden während des Meetings beitragen.
Auf den Schreibtischunterlagen hatte Bemmel sorgsam Notizblock und Stift bereitgelegt. Block mittig, Stift rechts – außer bei den Linkshändern natürlich. Der Abstand zwischen Schreibwerkzeug und zu beschreibendem Material betrug genau 1,5 cm. Gerade genug Platz für den Daumen, um den Stift hochheben zu können, ohne sich den Nagel am Block zu stoßen, aber nah genug, um nicht unnötig Wegstrecke zurücklegen zu müssen, bis man endlich mit dem Schreiben beginnen konnte. Bemmel hatte die maximale Effizienz nicht nur in ausgefuchsten Formeln berechnet, sondern in einer Feldstudie auch wissenschaftlich belegt.
Die Kugelschreiber waren mit kleinen Quasten verziert, die beim Schreiben lustig hin und her schwangen und dabei sanft den Handrücken streichelten. Die Relevanz solcher kleiner Annehmlichkeiten hatte er im Psychologie-Grundkurs 1 “Wichtelwohlbefinden” gelernt. Auf den Notizblöcken waren nicht nur Striche als Orientierungshilfe aufgedruckt, die Ränder waren zusätzlich mit geschwungenen Girlanden und kleinen Kugeln geschmückt, die Bemmel im Nachgang alle mit Glitzerfarbe noch einmal übermalt hatte, um ihnen einen metallischen Schimmerglanz zu verleihen. Diese Gelegenheit war zudem günstig, den Namen des zukünftigen Blockbesitzers gleich noch im Hand-Lettering-Stil der Gesamtkomposition hinzuzufügen. Nicht auszudenken, wenn jemand aus Versehen mit den falschen Notizen nach Hause ging und dann vielleicht versuchte, eine völlig falsche Aufgabe zu erfüllen.
Neben Stift und Block stand an jedem Platz ein Glas bereit, sorgsam auf einer kleinen dunkel-roten Serviette platziert, die wiederum einen kleinen Mistelzweig als Verzierung trug. Die Gläser selbst hatte Bemmel noch einmal richtig durchpoliert, damit kein einziger Fussel mehr darauf zu sehen war. Die vorherige 85-Grad-Reinigung sollte allen potenziellen Krankheitserregern präventiv den Garaus gemacht haben. „Besser zu heiß gereinigt, als im Nachgang gepeinigt“, dachte Bemmel selbstzufrieden.
Neben den Stühlen standen kleine, aber hochwertige Papiertaschen mit rot-grün-gedrehten Kordeln als Trageschlaufen. Auch hier hatte Bemmel den exakten Abstand berechnet, der zwischen Tasche und Stuhl eingehalten werden musste, um nicht aus Versehen beim Zurückschieben des Stuhls die Tüte umzuwerfen oder sich mit dem Fuß in der Kordel zu verheddern. Bemmel wollte die Freude über die Goodie-Bags in keinster Weise geschmälert wissen, (und keine Anteile an die Unfallversicherung verschwenden müssen). Im Inneren befanden sich ein paar saisonale Leckereien, ein in Elch-Leder gebundenes Notizblöckchen und ein Päckchen mit Motivationskarten, die bei Bedarf herausgeholt und angeschaut werden konnten, wenn einmal eine kleine Flaute im Engagement auftreten würde. Der Druck im Projektgeschehen war hoch und Krankheitsausfälle durch Stressbelastung wollte keiner riskieren. Schon gar nicht er. Die motivierenden Sprüche waren durch Bemmel selbst ausgewählt und anhand einer Studie zur „Relevanz von text-to-mood“ zusammengestellt worden. Dabei war es ihm wichtig gewesen, dass diese als besonders motivierend empfunden werden konnten. Die kleine Aufmerksamkeit und Erinnerung an den gelungenen Projekt-Start sollte immerhin dafür sorgen, dass alle auch bis zum Abschluss 100 % Leistung geben konnten und im nächsten Jahr freudig wieder teilnehmen wollten.
Es waren die kleinen Aufmerksamkeiten, die das Arbeiten in der Company zu etwas Besonderem machten. Das war Bemmel bewusst. Es war schwierig genug, qualifizierte Fachkräfte zu bekommen und die wollte man doch um jeden Preis halten. Dafür musste man sich eben ein wenig mehr Mühe geben und den Mitarbeitenden zeigen, wie wichtig sie einem waren. Aus diesem Grund hatte er in der Agenda auch genügend Pausenzeiten berücksichtigt, in der sich die Teilnehmenden privat austauschen und ein wenig kollegial miteinander plaudern konnten. Die meisten hatten sich ganze elf Monate lang nicht gesehen, da gab es mit Sicherheit einiges zu erzählen. Auch das war Bemmel sicherlich nicht entgangen.
Immerhin war das „Große Meeting“ das bedeutendste Meeting des Jahres, da konnte man sich keinen Schludrian erlauben. Bemmel freute sich schon ewig darauf, dass endlich wieder alle zusammenkamen, um gemeinsam die Zeit der Vorfreude zu starten. Und er – Bemmel – war derjenige, der den Beginn des größten Projektes des Jahres einläuten durfte. Er hatte die Verantwortung darüber, für den Start alles vorzubereiten und damit den Grundstein für den Erfolg des Projekts zu setzen. Ein hohes Maß an Verantwortung war das – und eine unglaubliche Ehre. Denn wenn der Start nicht reibungslos über die Bühne ging, dann war das ganze Projekt gefährdet. Verzögerungen konnten sie sich nicht leisten. Jede Minute war durchgetaktet und verplant. Knappe Zeit, knappe Ressourcen und kaum Nachwuchskräfte; um nur die gröbsten Herausforderungen zu nennen. Es gab kein Meeting mit größerer Relevanz! Wenn man ein solches, zeitlich herausforderndes, aber ungemein wegweisendes Projekt erfolgreich abschließen wollte, dann war Vorbereitung alles! ALLES! Und Bemmel war die Vorbereitung. Er war die Startlinie für das große Rennen. Er war die Pistole, die den Startschuss gab. Er war der Startblock, an dem sich die Rentiere abstießen, um möglichst effektiv in den Himmel zu kommen. Er war das Mehl auf der Arbeitsfläche der Plätzchenbäckerei. Er war der Schlüsselstein im Torbogen des Lebkuchenhauses. Er war die Naht am Rücken des Plüschpinguins. Er war das Alpha im Projekt-Alphabet. Er war der Anfang! Er war Lead Director of Global Christmas-Kick-Off.
„Bemmel?“
Aus seinen Gedanken gerissen drehte sich Bemmel zur Tür und nickte dem jüngeren Kollegen, der gerade seine Nase in den Raum steckte, freundlich zu, obwohl er ein wenig ungehalten darüber war, in seinen Überlegungen gestört worden zu sein.
„Bemmel, was machst Du denn hier?“
Irritiert hob der Angesprochene eine Augenbraue. Was war das denn für eine unsinnige Frage? „Ich bereite das ‚Große Meeting‘ vor, was denn sonst? Es ist immerhin der 01.12.!“ Er ließ eine wohldosierte Portion Empörung in seine Antwort einfließen. Sollte der unwissende Anfänger sich ruhig grämen, dass er den wichtigsten Tag des Jahres vergessen hatte.
Aber statt vor Scham zu erröten, trat der Jüngere verlegen auf der Stelle. „Ähm, Bemmel … hast Du das Memo nicht bekommen?“
Die Situation schien dem Neuankömmling sichtlich unangenehm. Neben dem Auf-der-Stelle-Getrete begann er nun auch noch, nervös seine Hände zu ringen. Das war zwar gut so, weil er scheinbar die Tragweite seiner Störung nun endlich begriff; aber: für sowas hatte Bemmel jetzt überhaupt keine Zeit. Immerhin würden in wenigen Minuten die Projektteilnehmenden hineinstürmen und die nächsten 24 Tage durchplanen.
„Was für ein Memo denn?“ Ungehalten strich sich Bemmel eine verrutschte Strähne aus dem Gesicht.
„Bemmel … wir haben doch jetzt Teams …“
„Ja und? Rück raus jetzt mit der Sprache, ich habe wirklich wichtigeres zu tun, als Dein Herumgedruckse zu interpretieren!“
Das schien zu wirken, der Wichtelkollege versteifte sich, hob das Kinn und blickte Bemmel selbstbewusst an. Jetzt aber … !
„Bemmel, wir sind seit Anfang des Jahres digital. Das Meeting findet remote über Teams statt. Es kommt keiner mehr ins Büro. Die haben auch schon längst angefangen.“
„Re … remote?“ Bemmel starrte den jüngeren Kollegen mit aufgerissenen Augen an. Der zuckte nur mit den Schultern und eilte weiter den Gang hinauf. Langsam drehte sich Bemmel zu 341 plötzlich nutzlos vergeudeten Tagen an Vorbereitung um. Die fehlgeleitete Strähne stahl sich diebisch zurück in Bemmels ausdrucksloses Gesicht, die Kordel eines Goodie-Bags glitt mit einem leisen Scharren nach unten und durch den Luftzug der Tür verrutschte einer der Kugelschreiber um knappe 2 mm nach links. Hoch lebe die Digitalisierung.
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