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Altbekannte Erzählungen neu interpretiert

Aşkın-Hayat Doğan im Genretalk über Urban Fantasy Teil 1

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Kategorie: Interview Literatur

Urban Fantasy ist mehr als bloß Fantasy in Städten. Vielmehr stehen die moderne, urbane, Welt und ihre Probleme im Mittelpunkt des Genres. Das insbesondere durch Serienadaptionen bekannte und beliebte Genre hat dabei eine Geschichte, die mindestens bis in die Industrialisierung zurückgeht. Urban-Fantasy-Fan Aşkın-Hayat Doğan stellt das Genre in zwei Interviews vor und geht im ersten Teil insbesondere auf die Ursprünge des Genres ein.

Andreas Giesbert (ZWO): Lieber Aşkın, du bist als Fantasy- und Rollenspielautor kein Unbekannter. Auf Zauberwelten-Online kam ich das erste mal mit dir in Kontakt, weil du am Roll Inclusive Projekt mitgeschrieben hast. Dem Weg bist du treu geblieben und arbeitest mittlerweile unter anderem als Diversity- und Empowerment-Trainer, bist der Phantastik aber immer noch zugewandt. Stell dich uns doch einmal kurz vor und was dich an der Phantastik reizt.

Aşkın-Hayat Doğan: Wer bin ich? Gute Frage! Im Moment fühle ich mich wie König Theodin, der vor der Schlacht am Helms Klamm fragt: "Wer bin ich, Gamling?" Klimakrise, Krieg, Pandemie, ertrinkende Geflüchtete im Mittelmeer, Rassismus, Queerfeindlichkeit … das kann einem schonmal den Boden unter den Füßen wegziehen. In meinen Seminaren zu Privilegien und Allyship verwende ich gerne als Übung das Identitätsmolekül – und jetzt mache ich das auch mal.

Gerade sind diese sechs Punkte anscheinend die wichtigsten Identitätskategorien für mich. Nicht irritierend, dass meine glückliche Beziehung und mein Gesundheitszustand nach einer harten Corona-Infektion mir sehr wichtig sind. Auch die, zum Glück funktionierende, Selbständigkeit trotz den prekären Verhältnissen wegen der Pandemie. Letztes Jahr hat das Molekül etwas anders ausgesehen und nächstes Jahr wird es sich sicherlich auch verändern.

Wenn wir aber bei einer klassischen Vorstellung bleiben wollen, heiße ich Aşkın. Ich bin Diversity- & Empowerment-Trainer, Sensitivity Reader und Übersetzer für Türkisch-Deutsch. Von 2017 bis 2019 war ich festangestellter Redakteur beim Uhrwerk Verlag für das Rollenspiel Splittermond, habe den Essayband Roll Inclusive – Diversity und Repräsentation im Rollenspiel und die Kurzgeschichtenanthologien Urban Fantasy: Going Intersectional (Interview) & Urban Fantasy: Going Queer mit herausgegeben. Seit letztem Jahr bin ich auch der Host des monatlichen Twitchtalks „Diverser Lesen mit Ask“, in der ich mich mit marginalisierten Autor*innen der deutschsprachigen Fantastik unterhalte.

Ich gehöre zu den Menschen, die als Kind sehr viel gelesen haben und in ihrer Fantasie in andere Welten geflüchtet sind. Das war purer Eskapismus, um dem Minderheiten-Stress im Alltag zu entkommen – als schwuler, muslimischer PoC mit türkischer Migrationsgeschichte in einem Alkoholiker*innen-Haushalt kam da einiges zusammen. Als kleiner Junge wollte ich ein Voltron-Löwe, He-Man, Zeus, Neptun oder Papaschlumpf sein – und als großer Junge hat sich das nicht verändert. Na ja, einen Unterschied gibt es schon. Jetzt will ich keine sexistischen Figuren mehr sein, die vor toxischer Männlichkeit triefen und würde gerne auch meine Hautfarbe beibehalten.

Andreas (ZWO): Als Mitherausgeber von Urban-Fantasy-Anthologien wollte ich mit dir über die urbane Phantastik sprechen. Springen wir doch direkt in die Materie: Seit wann gibt es Urban Fantasy?

 Aşkın: Da stellt sich die Frage, was mensch unter "Urban" versteht. Modernes Setting? Städtisches Setting? Alles außer rural? Da scheiden sich die Geister. Wen wir uns nicht an der Begrifflichkeit aufhängen, würde die Antwort „seit es Städte gibt“ lauten. Urban Fantasy als Genre gibt es seit den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts, als die Binnenwanderung in die Städte stark zugenommen hat. Für viele gilt aber auch Dracula als erster Urban-Fantasy-Roman. Folglich können Mary Shelly, Dr. Jekyll und Mr. Hyde und weitere Gothic-Romane der frühen Zeit auch Urban Fantasy zugeordnet werden. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, wobei für mich selbst die einsetzende Industrialisierung in England im 18. Jahrhundert Urban Fantasy einleitet.


Eine der ersten Urban Fantasy Autor*innen war eine Frau:
Mary Shelley (1797-1851)

Andreas (ZWO): Urban Fantasy vereint die Elemente Stadt und Fantasy, scheint für mich aber fast immer in der Gegenwart oder nahen Zukunft angesiedelt zu sein. Kann Urban Fantasy auch im Mittelalter spielen? Was ist das ungewöhnlichste Setting, das du noch als Urban Fantasy bezeichnen würdest?

Aşkın: Da knüpfen wir wieder an der Frage von vorhin an. Laut dem Literaturkritiker John Clute ist das "Urban" in Urban Fantasy das spezifische und definierende Element, das alle anderen generischen Besonderheiten beeinflusst. Dabei geht es um den Erlebnischarakter einer Stadt, die eine der Protagonist*innen einer Erzählung sein sollte. Urban Fantasy ist entstanden, weil Leser*innen und Autor*innen ihre eigene urbane Erfahrung in der Fantasy abgebildet sehen wollten. So funktioniert es allgemein mit Genres: Neue Literatur arbeitet sich an etablierten Genres ab und fügt neue kulturelle Aspekte hinzu. Bei Urban Fantasy passt sich die Literatur auch dem kulturellen, historischen und soziologischen Erleben der Stadtmenschen an, die sich in klassischer High Fantasy nicht wiederfinden können. So werden altbekannte Erzählungen neu interpretiert: Der Werwolf zieht nachts nicht mehr durch den dunklen Wald in der Nähe des Dorfs, um ahnungslose Holzfäller im Schlaf zu töten. Er ist jetzt Börsenmakler, kleidet sich in Armani, besitzt ein Loft und reißt je nach Gesinnung entweder todkranke Menschen auf der Straße oder naive Jungschauspieler*innen auf, die um berühmt zu werden, in die Großstadt gezogen sind. Ein gutes Beispiel ist die Märchen-Update-Reihe beim Machandelverlag, in der bekannte Märchen in neuem Gewand angepasst an unsere aktuelle Zeit neu interpretiert werden. Urban Fantasy im Mittelalter kommt in dem Kontext nicht in Frage, da für mich wie oben erwähnt die Industrialisierung eine Voraussetzung ist.

Das ungewöhnlichste Setting vermag ich gerade gar nicht benennen, aber die zwei prägendsten Romane der letzten Zeit waren für mich einmal das Berlin der 1920er in Anarchie Déco von den Vögten. Als gebürtiger Berliner hatte es eine irrational nostalgische Wirkung auf mich, in das queere Berlin der 1920er gedanklich einzutauchen und zu wissen, dass ich schon etliche Male live an den Schauplätzen des Romans gewesen bin. Zum anderen Shepard of Sins von Martin Gancarczyk, der in einem alternativen Hamburg spielt. Ein Hamburg, der baulich in die Höhe geschossen ist, und sehr futuristisch herkommt, aber trotzdem einen urigen Moin-Moin-Charme mit Kiez-Feeling beibehalten hat.

Andreas (ZWO): Was sind denn die typischen Elemente einer Urban-Fantasy-Erzählung? Ohne was ist es für dich nur Fantasy mit Städten?

Aşkın: Das A und O einer Urban Fantasy ist der stetige Bezug zu der urbanen Welt, und zwar explizit mit ihren urbanen Problemen. Umweltverschmutzung, Korruption, Slums, sinkender Grundwasserspiegel, Rassismus etc. Es geht darum, dass die profanen Probleme einer Stadt in die Ebene des Übernatürlichen überschwappen und dort genauso Konsequenzen mit sich bringen wie auf der „realweltlichen“. Das unterirdische Höhlensystem der Trolle ist zum Beispiel in Gefahr, da die Stadt mehrere Megahotels genehmigt hat, obwohl die Wohnungsknappheit ihren Zenit überschritten hat. Oder die laxen Sicherheitsmaßnahmen in der Stadt haben dazu geführt, dass Covid 19 sich stärker ausbreitet und nun sind auch die Wind- und Luftgeister infiziert, da sie anscheinend gegen Omikron auch nicht immun sind. Die Würde des unantastbaren deutschen Spargels hat Rachegeister erzürnt, sodass ausbeuterisch geerntete oder eingeführte Nahrungsmittel in bestimmten Supermarktketten schlagartig verschimmeln. Oder der klischeehafte Dimensionsriss, der durch menschliche Ausbeutung der Natur irgendwo in der Nähe der Stadt entstanden ist und droht, sowohl die weltliche als auch die übernatürliche Sphäre zu zerstören. In Urban Fantasy ist die uns bekannte Stadt sowohl gewöhnlich vertraut als auch verunsichernd fremd, da sie in der Erzählung durch das Übernatürliche zusätzlich verändert ist. Fantasy mit Städten ist es im Gegensatz dazu, wenn sie als reine Kulisse dient und die alltäglichen Probleme in einer Stadt überhaupt nicht zum Tragen kommen.

Andreas (ZWO): Sehr treffend! Den Anfang des Genres hatten wir ja schon etwas diskutiert, was sind denn andere, klassische Urban Fantasy Autor*innen, die du empfehlen kannst. Und mit welchen Werken?

Aşkın: Ich bin ein großer Fan von der Shaman Bond-Reihe von Simon R. Green, wobei die Bücher mit Vorsicht zu genießen sind. Es trieft zwar nicht so stark wie bei Jim Butchers Harry Dresden, trotzdem sind Sexismus und Queerfeindlichkeit durchgehend auch bei Simon R. Green zu finden. Klassische Werke sind Die Chroniken der Unterwelt von Casandra Clare und die Flüsse von London von Ben Aaronowitch. Aktuell hat N. K. Jemisin mit Die Wächterinnen von New York einen tollen Roman geschrieben, der New York aus einem sehr diversen Blickwinkel durchleuchtet.

Urban Fantasy hat aber insbesondere in der Serienlandschaft eine sehr starke Verbreitung gefunden. Charmed, Buffy, True Blood, Vampire Diaries, The Chilling Adventures of Sabrina, Grimm, Raising Dion, Neil Gaimans Lucifer, The First Kill basierend auf Victoria Schwabs literarischem Werk, October Faction von Steve Niles oder die The Protector von Nilüfer İpek Gökdel als Netflix-Serie, die im heutigen Istanbul spielt. Mensch braucht nur ein Streamingportal zu öffnen und kann sich eine aus unzähligen Urban-Fantasy-Stories aussuchen.

Andreas (ZWO): Eine unglaubliche Auswahl! Und was ist ein Werk, das dich nachhaltig beeindruckt hat? 

Aşkın: Dracula von Bram Stoker war der erste Roman, den ich auf Deutsch gelesen habe. Ich hatte zwei Wochen am Schaufenster des Kiosks auf dem Schulweg mit dem Buch geliebäugelt und meinen Vater dann doch überzeugt, dass die 12,50 Mark damals das Buch wert waren – und natürlich auch altersgerecht für mich sei. Damals hatte ich mich schon gefragt, wie Dracula und Lucy in London ihr Unwesen treiben können, ohne dass die Bewohner*innen der Stadt das mitbekommen. Seitdem bin ich fasziniert von Vampir*innen, den enigmatischen „Gentleman“-Monstern. Zuletzt hat mich aber Elektro Krause von Patricia Eckermann umgehauen. Krause, als eine Schwarze Protagonistin im rassistischen Deutschland der 80er Jahre als Elektrikerin, die tote und lebende Nazis bekämpft, sprach mir als Person of Color sehr aus der Seele.


In Teil 2 geht Aşkın auf aktuelle Entwicklungen in der Urban Fantasy ein und stellt seine Urban Fantasy Anthologien vor ...


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