Andreas (ZW): Liebe Patricia, lieber Aşkın-Hayat, schön, dass ihr euch die Zeit genommen habt, den Zauberwelten ein kleines Interview zu geben. Ihr habt für den Winter diesen Jahres eine ungewöhnliche Anthologie zur Urban Fantasy geplant. Auf die Idee kommt ihr natürlich nur, weil ihr euch schon länger in der Phantastik bewegt. Vielleicht könnt ihr kurz euch und eure Autor*innenbiographie vorstellen?
Patricia: Ich bin freiberufliche TV-Autorin und schreibe Moderationsbücher für Unterhaltungsshows, meist zusammen mit meinem Mann und Co-Autoren Stefan Müller, im Team der „antagonisten“. Außerdem habe ich einige Jahre als festangestellte Formatentwicklerin Shows und Sendungen entwickelt, von der Abendshow über Comedy und Kabarett bis hin zu Kindersendungen. Seit einigen Jahren entwickle ich auch Serien und Filme für Kinder- und Jugendliche.
Meinen ersten Roman habe ich zusammen mit meinem Mann geschrieben. Eigentlich war es als Auftakt für eine vierteilige Serie gedacht. Dann wollte der Verlag aber nicht mehr so, wie wir uns das vorgestellt hatten, deshalb haben wir die komplette Serie unter dem neuen Titel Viertelherz selbst veröffentlicht.
Außerdem habe ich zwei phantastische Jugendromane ([1][2]) für Jugendliche ab 14 Jahren für einen Verlag geschrieben, da gab es spezielle Vorgaben, die ich einhalten musste. Dabei habe ich erstens bemerkt, wieviel Spaß es mir macht, mich in phantastische Welten hineinzuschreiben. Und zweitens, dass ich lieber meine eigenen Geschichten schreibe. Menschen, die einem reinreden, weil sie eine möglichst große Zielgruppe ansprechen wollen, habe ich in meinem Brotjob genug. Das führt schon bei Shows, Filmen und Serien dazu, dass sich diejenigen, die nicht zur weißen Zielgruppen-Norm gehören, nicht repräsentiert sehen.
Aşkın: Ich bin freiberuflicher Diversity-Trainer und Übersetzer für Türkisch-Deutsch. Seit einigen Jahren schreibe ich für diverse Rollenspiele und war von 2017 bis 2019 festangestellter Redakteur beim Uhrwerk Verlag für das deutsche Rollenspiel Splittermond. Bisher habe ich einige Fantasy-Kurzgeschichten in diversen Anthologien veröffentlicht und bin auch als Sensitivity Reader tätig – insbesondere, wenn es um männliche Homosexualität, Islam und türkei- oder türk*innenspezifische Themen geht.
Andreas (ZW): Eure Anthologie widmet sich der Urban Fantasy. Zuerst einmal für all diejenigen, denen der Begriff nicht viel sagt: Was ist Urban Fantasy? Welche Bücher oder Filme aus dem Genre dürfte man kennen, und was ist euer Genre-Geheimtipp?
Aşkın: Grob vereinfacht ist Urban Fantasy moderner städtischer Raum mit magischen Komponenten. Die Stadt selbst nimmt eine tragende Rolle ein, wie London bei Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes oder Istanbul in den Werken von Orhan Pamuk. Die ganzen Vampirromane der letzten Jahre wie Die Chroniken der Unterwelt von Casandra Clare oder Vampire Diaries von L. J. Smith. Meine persönlichen Favoriten sind die Fälle vom Magier-Detektiv Harry Dresden von Jim Butcher und die Shaman Bond-Reihe von Simon R. Green.
Patricia: Constantine und The Crow, sind zwar schon älteren Datums, aber zwei Filme und Klassiker des Genres, die ich mir immer wieder gern ansehe. Bei den Serien hat mich damals Heroes geflasht, da gibt es ein, zwei Figuren, die ich einfach grandios geführt finde. Bei den neueren Serien fällt mir spontan die Familienserie Raising Dion ein: ein 8-jähriger Schwarzer Junge entwickelt Superkräfte – und seine alleinerziehende Mutter muss damit irgendwie klarkommen. Da gefällt mir nicht nur der Ansatz, auch visuell ist das sehr schön und auch kinderaffin umgesetzt.
Andreas (ZW): Nun sammelt ihr nicht einfach „nur“ aktuelle Geschichten der Urban Fantasy, sondern sucht nach originären Beiträgen, die sich im Themenumfeld der Intersektionalität bewegen. Englisch untertitelt ihr eure Anthologie ja: „going intersectional!“ Was hat es denn mit dieser Intersektionalität auf sich? Was kann man darunter verstehen?
Patricia: Intersektionalität bedeutet die gleichzeitige Erfahrung diverser Unterdrückungsformen, z. B. Rassismus, Sexismus und Heterosexismus, Ableismus, Antisemitismus, Antiziganismus, antimuslimischer Rassismus, Altersdiskriminierung ...
Menschen, die von mehreren Unterdrückungsformen betroffen sind, werden momentan noch nicht ausreichend wahrgenommen – weder in der Literatur, noch in Film und Fernsehen. Wenn überhaupt, dann hat die Öffentlichkeit die Tendenz, sich nur mit einer Diskriminierungsform zu beschäftigen. Dass es aber eine große Anzahl von Menschen gibt, die ein ganzes Netzwerk von Diskriminierungen ertragen müssen, ist in den meisten Köpfen noch nicht angekommen. Es ist zum Beispiel eben eine Sache, als Türkin diskriminiert zu werden und eine andere, als kopftuchtragende Türkin. Je mehr Unterdrückungsformen aber auf einer Person lasten, desto schwieriger ist es für das Individuum, an der Gesellschaft teilzuhaben, als gleichwertig respektiert zu werden, sich in den Medien vertreten zu sehen und sich individuell und selbstbewusst ausdrücken zu können.
Andreas (ZW): Die nicht ausreichende Wahrnehmung trifft genau die Themen Diversity und Repräsentation. Aşkın war ja bereits in dem ambitionierten „Roll Inclusive“-Projekt beteiligt und es war schnell klar, dass es mehr ist als ein übliches „Quellenbuch“, nämlich ein Herzensprojekt. Das ist vermutlich bei eurer Anthologie ähnlich. Wie seid ihr denn auf das Thema gekommen? Was wollt ihr mit der Anthologie erreichen?
Aşkın: Die Idee kam mir im Sommer letzten Jahres, als wir in der abschließenden Redaktionsphase von Roll Inclusive waren. Es fiel uns Herausgeber*innen schwer, intersektionale Charaktere in Rollenspielbüchern oder Fantasy-Romanen zu finden. Damals habe ich dann mit ein paar Verlegerinnen darüber geredet und klopfte mit der Idee direkt an Patricias Tür, da ich sie unbedingt als Mitherausgeberin haben wollte – und sie sagte zum Glück ja.
Urban Fantasy bietet den Raum, die aktuelle Politik gut in der Literatur zu verarbeiten. Insbesondere Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungen, wie im Beispiel von True Blood oder dem Netflix-Film Bright. Von antimuslimischem Rassismus in Amerika, ausharrenden Geflüchteten an den Grenzen von Europa bis LGBTI+-freien Zonen in Polen gibt es gerade genug Brandherde auf der Erde, die auch in der Fantasy ruhig thematisiert werden können. Deshalb ist unsere einzige inhaltliche Vorgabe auch, dass die Kurzgeschichte zwischen den Jahren 2000 und 2020 spielen muss. Mit der Anthologie wollen wir diesen Themen, Menschen, Geschichten und Charakteren eine Stimme geben und Privilegierte auf das Thema aufmerksam machen.
Andreas (ZW): In der Rollenspiellandschaft wart ihr bis auf eine Handvoll (meist US-amerikanischer) Essays ziemlich allein mit diesen Fragen. Wie sieht es denn in der urbanen Phantastik aus? Ist die literarische Landschaft da schon weiter, oder herrschen die üblichen Stereotype auch dort noch immer vor?
Aşkın: Die Frage ist kurz zu beantworten: leider nein! Urban Fantasy ist auch in den USA ziemlich weiß, was (Haupt-)Protagonist*innen betrifft. Da verweise ich gerne auf den Artikel „Urban Fantasy 101: Gentry-Fication“ von Stitch – ist zwar von 2016 aber immer noch sehr aktuell. In der Science Fiction und High Fantasy sieht es wiederum ganz anders, tolle Beispiele dafür sind die Werke von Marlon James und N. K. Jemisin.
Andreas (ZW): Obwohl euer Fokus auf besserer Repräsentation liegt, ist eure Anthologie natürlich zuallererst eine Kurzgeschichtensammlung. Ein spannendes Argument für Inklusion und Diversität fand ich immer auch, dass es nicht nur politisch wichtig ist, sondern auch erlaubt, neue Geschichten zu erzählen. Was für Geschichten erwarten uns denn in der inklusiven Phantastik? Habt ihr ein paar Teaser?
Aşkın: Über die Inhalte können wir natürlich nichts verraten, weil wir sie selbst noch nicht kennen – die Ausschreibung läuft anonym und wir werden erst am Ende der Ausschreibungsfrist am 30. April die anonymisierten Beiträge zur Gesicht bekommen. Was ich aber in Foren und im Freundeskreis mitbekomme ist, dass Plots um Transsexualität eher in den Fokus genommen werden – wahrscheinlich fällt es einigen Autor*innen aus der Mehrheitsgesellschaft leichter, eine intersektionale Figur um Geschlecht, sexuelle Orientierung und Familienstand usw. zu spinnen, als um Themen wie Rassismus und religiöse Diskriminierung – wobei ich mir auch gerade nach Hanau solche Geschichten wünschen würde.
Andreas (ZW): In Wasteland haben Judith und Christian Vogt ja gerade mit Gendergerechter Sprache experimentiert. Hier und in eurer Ausschreibung nutzt ihr den Genderstar und ihr behaltet euch vor Sensitivity-Reader*innen einzubeziehen. Das wird jetzt für viele Leser*innen erst einmal ganz abstrakt klingen. Was ist das und wieso sind solche Aspekte wichtig?
Patricia: Sprache lebt, wenn sie sich wandelt und sich den Bedürfnissen derer, die sie gebrauchen, anpasst. Wenn eine Sprache festfriert, sich also nicht mehr verändert, dann ist sie tot. Vielleicht immer noch schön, aber im Alltag nicht mehr zu gebrauchen. Das kann sicher jeder nachvollziehen, der mal Latein lernen musste. Versuch damit mal, eine Diskussion über unsere aktuellen gesellschaftlichen Probleme zu führen ... Was Judith und Christian Vogt mit Wasteland geschafft haben, finde ich großartig und absolut inspirierend. Abgesehen von der tollen Story und dem diversen Figurenset, das mich mal wieder total geflasht hat, zeigen sie all den engstirnigen Sprachpolizist*innen, dass es eben doch möglich ist, gendergerecht zu schreiben, ohne dass man dabei die Lust am Lesen verliert oder Schwierigkeiten hat, der Handlung zu folgen. Das tolle ist nämlich: Wenn man nicht darauf achtet, merkt man gar nicht, wo sie etwas anders machen, als es bisher üblich war. Und ich sage da ganz bewusst „war“, denn für mein Empfinden sind die beiden wegweisend, was das angeht. Das kann natürlich nicht überall von jetzt auf gleich passieren. Ich weiß ja selbst, wie schnell sich vor dem Rechner der Automatismus durchsetzt. Da schreibst du an deiner Geschichte, bist im Flow und wenn du dir später das Ergebnis anschaust, hast du mal wieder all die üblichen Schreibfehler gemacht – und eben auch das generische Maskulinum benutzt, obwohl du es gar nicht wolltest.
Aşkın: Sensitivity-Reader*innen sind Personen aus marginalisierten Gruppen, die Autor*innen auf problematische oder falsche Repräsentationen in ihren Werken aufmerksam machen. Sie zeigen Alternativen auf und unterstützen eine authentische Darstellung. Ich bekomme oft Texte, die irgendwie Islam oder Muslim*innen tangieren, häufig auch Texte zu People of Color oder Türk*innen. Nicht-Betroffene Autor*innen kennen sich mit der Religion und den Gebräuchen nicht aus oder möchten eine Person mit einer türkischen Migrationsgeschichte nicht als Klischee darstellen und sind sich unsicher. Da kommen Sensitivity Reader*innen ins Spiel und das möchten wir auch für die Kurzgeschichten in unserer Anthologie anbieten, damit wir eine gute Repräsentation von Marginalisierten fördern.
Patricia: Auch fürs Fernsehen würde ich mir das wünschen, gerade im Journalismus, wenn es um Nachrichten geht. Da wird häufig schnell eine Schlagzeile rausgehauen – und hinterher ist das Gejammer groß, weil wieder niemand auf das Wording geachtet hat.
Andreas (ZW): Vielen Dank für das schöne Gespräch. Die Autor*innen-Ausschreibung läuft noch bis Ende April. Ich wünsche euch noch zahlreiche spannende Einreichungen und freue mich auf das fertige Buch!