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Sich dem Druck des Realen nicht geschlagen geben

Erik R. Andara im Genretalk über Magischen Realismus

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Kategorie: Interview Literatur

Auf den ersten Blick wollen sich Magie und Realismus nicht so recht vertragen. Aber wie so oft in der Phantastik enhüllt ein zweiter Blick eine ganz neue Verbindung. Bemüht um Glaubwürdigkeit kontrastiert der magische Realismus die Einbrüche des Phantastischen nur um so stärker. Autor Erik R. Andara kann sicher als eine der ruhigsten, aber umso eindrücklicheren Stimmen des deutschsprachigen Magischen Realismus gelten. Im Genretalk stellt er uns nicht nur das Genre vor, sondern gibt auch Einblicke in sein Verständnis von Phantastik und seine Liebe zur Literatur.

Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Lieber Erik, schön dass Du die Zeit für einen kleinen Genretalk gefunden hast. Ich darf Dich nun schon seit guten zwei Jahren verfolgen und hab schon so manches anregende Gespräch mit Dir geführt. Magst Du Dich dennoch einmal kurz vorstellen? Wer bist Du, was machst Du und vielleicht am wichtigsten: Wie kamst Du zur Phantastik?

Erik R. Andara: Hallo Andreas. Danke, dass Du mich hier in Deinen schönen Interviewreigen miteinbeziehst, der auf glorreiche Weise versucht, die Phantastische Literatur abzustecken und zu erkunden.

Wer bin ich? Nun, das ist eigentlich ganz leicht zu beantworten: Ich bin Leser (in erster Linie) und Schriftsteller (nicht minder wichtig in meinem Leben). Ich bin studierter (beinahe hätte ich geschrieben: gescheiterter) Dramaturg, der sich in seinen Jugend- und Wanderjahren vor allem mit dem Aufbau von Geschichten auseinandergesetzt hat und den dann das Leben einholte. Sprich: Ich habe in den 28 Jahren meines erwachsenen Lebens wahrscheinlich dieselbe Anzahl an Berufen ausgeübt, um irgendwie über die Runden zu kommen. Ich war Journalist, Redakteur, Schnitttechniker beim Fernsehen, habe im Videoverleih hinter dem Tresen gearbeitet, war Kellner, Markt- und Meinungsforscher, habe in der Stahlfabrik in der Lackiererei geschuftet, habe Lastwagen entladen (viel zu viele), im Musikalienhandel Leute bedient, habe Werbebroschüren verteilt und am Telefon für alle möglichen Produkte gekeilt. Aber in all der Zeit habe ich niemals als Dramaturg gearbeitet. Dafür habe ich vor 21 Jahren eine Karriere als freischaffender Künstler eingeschlagen und diese recht zielstrebig – um nicht hartnäckig zu schreiben – verfolgt. Heute kann ich auf ein Vierteljahrhundert als Schriftsteller, Illustrator und Kunstmaler zurückblicken, der immer zusehen musste, wie er seinen Unterhalt verdient, weil er von seiner Kunst alleine sein Leben nicht finanzieren konnte – dem aber immer klar war, dass es das wert ist, weil Geschichten einfach der Mittelpunkt meines Lebens sind. So habe ich es gehalten und so werde ich es auch weiterhin halten.

Als ich vor drei Jahren allerdings mein erstes Buch über den Nighttrain/Whitetrain veröffentlichte (damals hatte ich bereits 13 unveröffentlichte Romanmanuskripte in der Schublade liegen), wusste ich sofort, dass es das ist: die Schriftstellerei. Seitdem konzentriere ich mich voll und ganz darauf, in der Hoffnung, dass es sich irgendwann ausgeht, das autarke Leben, das sich nur über das Schreiben von Büchern und Erzählen von Geschichten generiert. Jeder Mensch braucht wohl ein Ziel im Leben, und das ist meines. Beziehungsweise wurde mir 2018, bei der Veröffentlichung meiner ersten Geschichtensammlung Am Fuß des Leuchtturms bewusst, dass das seit jeher mein Ziel gewesen ist. Aber es tat gut, mir das auch selbst endlich einzugestehen.

Wie ich zur Phantastik gekommen bin? Nun, auch das ist eigentlich ganz leicht zu beantworten: Ich habe als Kind (mir wurde mit vier Jahren das Lesen beigebracht, damit ich mich selbst beschäftigen könnte) meine ersten Sagen- und Märchenbücher gelesen. Und seitdem Moment weiß ich, dass jede Geschichte ohne Magie, ohne Übernatürliches, ohne Wundervolles und Phantastisches, kein vollständiges Buch ist. Zur Phantastik habe ich also richtig früh gefunden und bin ihr immer treu geblieben (auch wenn ich beizeiten schon auch Unphantastisches lese, aber immer im Wissen, dass es kein Vergleich ist, dass ihm ein Stückchen fehlt, der Blick auf die andere Seite sozusagen). Ich habe in den 40 darauf folgenden Jahren voller Genuss und Verwunderung jedes einzelne Stück Phantastik verschlungen, das ich in die Finger bekommen habe. Und bis heute weiß ich, dass es einfach nichts Besseres gibt.

Soviel also dazu, nur in groben Zügen, ehe ich hier zu weit aushole.

Andreas (ZWO): Als ich Deinen Garten Numen in die Hände bekommen habe, habe ich noch einen Bogen um die meisten Romane gemacht. Dein Debütroman hat mich dann gewissermaßen zurück in die Hände der Literatur gebracht. Ich hatte damals viel darüber nachgedacht was mich daran so begeistert hat und kam zu dem Schluss, dass es die Mischung aus Phantastik und detaillierter, realistischer Beschreibung ist. Ich kam dann ebenso naiv wie stolz auf die Formulierung 'Phantastischer Realismus', ganz unwissend dass es ja schon längst einen magischen gibt. Aber gehen wir der Reihe nach vor und fangen mit dem Verhältnis von Realismus und Phantastik an. Wie lässt sich beides in Beziehung bringen?

Erik: Hmmm, gute Frage, einfach und schwer zugleich. Wir leben ja in einem aufgeklärten Zeitalter, das heißt, dass uns beigebracht wird, dass alles, was wir nicht schmecken, nicht sehen, nicht anfassen, nicht mathematisch oder durch gegenseitige soziale Bekräftigungen und Tatsachenberichte beweisen können, wahrscheinlich auch nicht existiert. 'Träumereien' sagt man zu den Dingen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen. Also wenn man höflich ist. Sonst vielleicht Hirngespinste oder auch Verblendung oder Wahn. Gleichzeitig gibt es das Internet, das ja eine der großen Errungenschaften unseres aufgeklärten Zeitalters ist. Das Internet (um nicht zu sagen Google, Twitter, Facebook und Instagramm) hat sich als Plattform unseres geteilten Wissens etabliert. Dort findet man Berichte über alles, was sich da draußen, aber auch drinnen – nämlich in unseren Köpfen – tummelt. Und plötzlich werden die wildesten Sachen beweisbar, bekommen Dinge, die wir ohne das Netz im Hintergrund vielleicht als die wahnwitzigsten Hirngespinste abtun würden, eine Art Beweisbarkeit. Nur über Berichte im Internet, die sich den Anschein des Realen geben. Menschen können sich also von den entgegengesetzten Enden dieser Welt aus gegenseitig darin bekräftigen, dass Dinge existieren, die sonst wahrscheinlich einfach nicht hinterlegbar wären. Wenn man davon ausgeht, dass Bücher eine ähnliche Rolle einnehmen (ich spreche ungern in der Vergangenheitsform, weil für mich Bücher weiterhin eines der wichtigsten Netzwerke menschlichen Wissens sind, wenn auch nicht so umstandslos zugänglich wie heutzutage das Internet), dann erklärt das vielleicht für mich am Besten die Beziehung zwischen Realismus und Phantastischem. Realistisch sind die Dinge, die wir angreifen, erleben, schmecken und beweisen können. Phantastisch sind die Mutmaßungen, die wir uns gegenseitig erzählen und die sich erst dadurch manifestieren, dass sie von Mund zu Mund, von Seite zu Seite, Page zu Page, von Auge zu Auge, Ohr zu Ohr und von Kopf zu Kopf wandern. Vielleicht ist die Phantastik also so etwas wie die Ursuppe  für den Realismus; eine Art Protorealismus – wenn man davon ausgeht, dass ja das, was wir „real“ nennen auch nur eine andere Art von gesellschaftlichem Konsens ist. 

Andreas (ZWO): Und was würde dann einen spezifisch magischen Realismus auszeichnen?

*lacht*: die Magie?

Nein, das knüpft genau dort an, worüber wir gerade gesprochen haben: Der Magische Realismus besteht in einer Amalgamierung von Realem und Träumereien, Hirngespinsten, wahnwitzigen Ideen, aber auch Dinge wie eben den Glauben an die Magie in all ihrer Formen. Er reißt also quasi die Grenzen zwischen dem, was wir Wirklichkeit nennen, und einer Welt, die nur durch Geschichten, durch Träume, Visionen, durch Mythen und Phantastereien existieren kann, ein. Er macht beides zu einem. Der Magische Realismus macht Träume und Magie real erlebbar. So zumindest das hehre Ziel. Also wir sprechen hier von einer Spielart des Geschichtenerzählens, der es wichtig ist, es Skeptikern durch reale Substanz, durch die Vortäuschung eines Realismus außerhalb unserer inhärenten Gesellschaft, leichter zu machen, sich der phantastischen Seite zu widmen. Oder wie hat es Terry Pratchett genannt? "Magischer Realismus ist bloß eine höfliche Art zu sagen, dass man Fantasy schreibt." Es sei für manche Menschen einfach leichter zu akzeptieren. Ich persönlich fühle mich in meinen Geschichten dem Magischen Realismus schon sehr anverwandt, auch wenn ich eine dunklere, eine weirdere Gangart als allgemein üblich bevorzuge. Wahrscheinlich bin ich irgendwo zwischen dem Magischen Realismus und der Weird Fiction zu suchen, wo ich mir selbst seltsame Geschichten erzähle und versuche, diese in einer halbwegs adäquaten Art auf Papier zu bringen. Ein großer Vorteil, den ich darin sehe, ist dass man den 'Sense of Wonder', der sich ja leider mit dem fortschreitenden Alter und der Menge an erlebter Lektüre zusehends abschwächt, durch die Beimengung von hohen Dosen Realismus auch im erwachsenen Alter hoch halten kann. 'Makebelieve' – leider fällt mir kein passendes deutsches Wort dafür ein – für Fortgeschrittene, die nicht auf ihren täglichen Kick Magie und Schaurigkeit verzichten wollen.

Andreas (ZWO): Es gibt immer wiederkehrende Motive in Deinen Romanen. So etwa eine Tür oder ein Portal, das in eine andere Welt führt. Ist das ein typisches Motiv des Magischen Realismus? Was sind sonst wiederkehrende Themen, die im Magischen Realismus vorkommen?

Erik: Symbolismus ist überhaupt ein wichtiges Fundament des Magischen Realismus. Platzhalter, Anker für phantastische und surreale Ereignisse, Dinge mit Wiedererkennungswert, die entweder kulturell bereits aufgeladen sind oder durch den*die Autor*in neu aufgeladen werden. Symbole sind ja auch ein wunderbarer Fokus für verschiedene Theorien, Konzepte und Ideen. Das können Worte sein (gerade Worte sind ja sowieso Symbole für etwas anderes und in Büchern ausschließlich und allumfassend, aber darauf werde ich hier nicht näher eingehen, weil wir ja sowieso über Literatur sprechen, da fühlte sich das etwas redundant an), aber eben auch Objekte, Geräusche oder gar ganze Ideen. Symbole sind immer Vermittler, komplexe Statthalter, die zwar sehr klar in ihrem Ausdruck sind, aber immer durch einen kulturellen Konsens entstanden sind. Insofern werden sie im Magischen Realismus eben auch oft als Häfen für anbrandende Ideen benutzt, als Entladeplatz, als etwas, das inmitten von Seltsamkeiten wiedererkennbar ist und Halt gibt und trotzdem niemanden dazu zwingt, die Dinge nur auf eine Art und Weise zu sehen. Bei mir sind das eben öfter Mal Tore oder Türen. Aber gerade in meinem letzten Roman Die Erloschenen arbeite ich mit einer ganzen Batterie an Symbolen, die mir erlauben, sehr strukturiert vorzugehen ohne allzu viel dazu sagen zu müssen und mich in Randnotizen zu verlieren. Da hat jede*r Autor*in seine*ihre eigene Gangart. Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass sich das von Leser*in zu Leser*in, von Geschichte zu Geschichte massiv ändern kann, welche Symbole wie eingesetzt werden.

Wichtige Merkmale des Magischen Realismus, also Eigenschaften, ohne die er nicht auskommt, sind ansonsten: Phantastische Elemente, Setting in einer eigentlich realen Welt, also keine, die von Grund auf erfunden wurde, sondern die neben den phantastischen Elementen eindeutig als 'unsrige' wiedererkennbar ist. Eine gewisse Widerborstigkeit der Autor*innen, um nicht zu sagen, beinahe schon renitentes Verhalten, wenn es um das Erzählen seiner*ihrer Geschichte geht; das kann sich sowohl in einer gewissen Kompromisslosigkeit niederschlagen, als auch in einer Art Aufsässigkeit, sich dem Druck des Realen nicht geschlagen zu geben. Nicht einzulenken und zu sagen: Es ist doch nur eine Geschichte, eine Fabel, ein Märchen, Fantasy, gar nicht wahr. Der Weltenentwurf muss um Gültigkeit kämpfen und darf dabei nicht klein beigeben. Außerdem wird der Magische Realismus durch eine gewisse Fülle definiert, etwas, das man in seiner Ganzheit gar nicht fassen kann, von dem man immer das Gefühl hat, gerade bloß einen Ausschnitt von mehr zu erleben. Hybridität zwischen Erfundenem und Tatsachen, selbstredend. Dann spielt auch die Metafiktion eine wichtige Rolle, also eine Ebene, die die Leserschaft in ihrem eigenen Verhältnis zur Realität widerspiegelt und hinterfragt. Außerdem strebt der Magische Realismus immer danach, ein erhöhtes Lesebewusstsein hervorzurufen, eine Bereitschaft, mehr als die eine Ebene unserer eigenen sozialen Konsensrealität zu erleben und – zumindest für die Dauer der Geschichte – als gegeben hinzunehmen und sich davon aber auch stimuliert zu fühlen und mehr über die vorgesetzten Mysterien erfahren zu wollen. Und als Letztes, aber keinen Fall als Unwichtigstes, ist da natürlich die Kritik am Establishment, sowohl politisch als auch soziokulturell. In welcher Intensität das stattfindet, kann von Geschichte zu Geschichte variieren, aber fehlen darf es nie; deshalb ist es schon auch als eine der Säulen zu nennen.

Das waren jetzt einmal die wichtigsten Elemente, die den Magischen Realismus definieren. Wie in jeder Geschichte kann das fluktuieren, aber ich denke, kein dieser eben genannten Säulen darf gänzlich fehlen, um es als Magischen Realismus bezeichnen zu können. Eher kommt noch mehr dazu.

Andreas (ZWO): Danke, das klärt das Bild doch schon einmal. Wie schon erwähnt war mir das Genre lange Zeit gar nicht bekannt. Es hat aber einige bedeutende Vertreter*innen. Welche magischen Realisten könnte man denn schon einmal gehört haben?

Erik: Da ist natürlich einmal Salma Rushdie. Der vielleicht bekannteste und auch kompromissloseste Magische Realist, dem seine Hingabe zur Literatur wegen Die satanischen Verse mittels Fatwa sogar ein Todesurteil einbrachte, dem er sich nur durch Flucht entziehen konnte.

Ich nenne oft sein Grimus als den wichtigsten Grund dafür, dass ich selbst die Geschichten schreibe, die ich schreibe. Aber all seine Bücher sind magisch aufgeladene Füllhörner, die ich zu relevantesten Erzählungen des 20. Und 21. Jahrhunderts zähle. Und seine Mitternachtskinder sind Magischer Realismus par excellence. Die kann ich jedem*r, die*der sich fürs Genre interessiert, nur wärmstens ans Herz legen.

Dann wären da noch: Paul Auster, Marlen Haushofer, Haruki Murakami, Isabel Allende, Gabriel García Márquez, Jose Saramago, Jorge Luis Borges, Franz Kafka, Carlos Fuentes, Günter Grass, Carlos Ruiz Zafón, Mikhail Bulgakow, etc, willkürlich geordnet. Ich habe hier sicher noch einige wichtige Autor*innen vergessen. Aber ich denke, das ist schon einmal eine sehr essentielle Liste.

Andreas (ZWO): Sind das denn auch die Autor*innen, mit denen man ins Genre einsteigen sollte? Was wäre ein guter Einstiegspunkt?

Erik: Ja genau, das sind die klingendsten und bekanntesten Namen. Zum Einsteigen würde ich Haruki Murakami oder Paul Auster empfehlen, weil sie den vielleicht popkulturellsten Zugang zum Genre haben und daher leichtgängig sind (nicht zu verwechseln mit seicht, das sind sie nämlich beileibe nicht, sie gestalten sich einfach am zugänglichsten).

Und hier vielleicht mit: Mond über Manhattan (Auster) oder Kafka am Strand (Murakami) beginnen. Wenn man es etwas kritischer und anspruchsvoller möchte, dann das oben genannte Mitternachtskinder oder Stadt der Blinden von Jose Saramago. Beides großartige Bücher, die man nicht missen sollte.

Oder vielleicht ja mit meinem Die Erloschenen, wenn man etwas dunklere Schalmeienklänge bevorzugt. *lacht*

Andreas (ZWO): Und wenn ich Dich nach einem Geheimtipp fragen darf? Welche*r Autor*in des magischen Realismus sollte mehr gelesen werden?

Erik: Auf jeden Fall Marlen Haushofer. Ihre Die Wand ist zwar das explizit magisch-realistischste ihrer Werke und auch das bekannteste, aber sie ist eine Autorin mit so viel Tiefe und Schönheit, dass ich es schade fände, wenn ihre anderen Werke daneben untergingen. Himmel, der nirgendwo endet ist eines der wundervollsten Bücher in meiner Bibliothek. Weniger Magie hier, mehr Realismus, aber trotzdem atem(be)raubend, wie auch alles andere von ihr.

Und dann gibt es auch ausgezeichnete Nachwuchsautor*innen, wie etwa Ina Elbracht. Klub Tropikal ist sicher ihr Vorzeigestück in Sachen Magischer Realismus.

Andreas (ZWO): Mit dem Magischen Realismus befinden wir uns schon in einer gewissen Nische. Du selbst wirst oft als Vertreter des Magischen Realismus und der Weird Fiction beschrieben. Wie würdest Du beide Genres voneinander abgrenzen? Kann man das überhaupt?

Erik: Hmmm, wenn man diese Grenze überhaupt ziehen möchte – es heißt ja, dass Genre rein vom Buchmarkt erfunden wurde, um besser verkaufen zu können – dann wohl am ehesten an den Spielarten der Schauergeschichte, und da allem voran an der dichten, dunklen Atmosphäre und der eher finster zu nennende Symbol-Reigen. Ansonsten denke ich, dass sich beide Gattungen sehr anverwandt sind. Hierzulande wird ja die Weird Fiction oft nur über den horrorlastigen Teil des Kanons definiert, und dabei vergessen, dass es ganz viele Strange Stories gibt, die man nicht inhärent dem Horror zuorden würde. Aickman fällt mir ein, aber auch die ersten Bücher von Brian Evenson oder Daniel Mills. Natürlich ist die Weird Fiction der Schauergeschichte mindestens ebenso anverwandt wie dem Magischen Realismus. Aber wie gesagt: Genre als solches gibt es ja nur in den Regalen von Buchhandlungen und den Mündern von Verkäufer*innen, nicht per se in den Köpfen der Leser*innen; und falls ja, wurde das anerzogen, um die Kommunikation zu erleichtern. Aber wenn die Immersion stimmt, spielt das Genre wohl wenig Rolle. So zumindest meine Ansicht zum Thema. Ich muss aber auch zugeben, dass ich die Phantastische Literatur für die Komplettere halte. Ganz oft finden sich ja auch in äußerlich unphantastischer Literatur Gangarten der Phantastik und verkauft sich darin als Wahrnehmungseintrübung, überspannte Nerven, als Überschnappen oder Traum oder so ähnlich.

Andreas (ZWO): Zuletzt darf ich noch etwas persönlicher werden. Du bist vielleicht einer der belesensten Autor*innen, die ich kenne. Erik ohne Buch scheint noch unglaublicher zu sein als Magischer Realismus. Dabei liest Du natürlich nicht nur düstere Phantastik. Welches Buch hat Dich denn in den letzten Monaten begeistert.

Erik: Ich recherchiere ganz aktuell für mein nächstes Manuskript, einen Spukhausroman, und da haben es mir drei Bücher ganz besonders angetan. The Graveyard Apartment von Mariko Koike, der vielleicht perfekteste Spukhaus-Roman, den ich je gelesen habe. Dann Burnt Offerings von Robert Marasco; ebenfalls ein großes Buch in dieser Gattung. Und dann noch No One Gets Out Alive von Adam Nevill. Letzteres ist in sehr guter deutscher Übersetzung kürzlich beim Buchheim Verlag erschienen.

Ansonsten habe ich im Winter Robin Hobb für mich entdeckt, wunderbare Autorin, die mir bislang entgangen war. Und dann war da natürlich noch Piranesi von der phänomenalen Susanna Clarke. Ein Buch, auf das ich fünfzehn Jahre lang gewartet habe, und dementsprechend hoch waren die Erwartungen. Dennoch wurde ich nicht enttäuscht.

Andreas: Du bist nicht nur als Leser, sondern eben auch als Autor und Coverillustrator äußerst umtriebig. Was dürfen wir denn in diesem Jahr von Dir noch erwarten?

Erik: Ganz frisch ist mein zweiter Roman Die Erloschenen erschienen. Für mich eben ein Hybrid aus Magischem Realismus und Weird Fiction. Es ist immer spannend, einem Buch dabei zuzusehen, wie es in der Welt ankommt.

Dann beginne ich in Kürze die Arbeit an meinem nächsten Roman: Das alte Haus am Nordrand soll eine weirde Gespensterhaus-Geschichte werden, die sich aber auch dem, was in Buchhandlungen in den mit 'Belletristik' ausgeschilderten Regalen wohlfühlen würde, ohne dadurch seine großen phantastischen Anteile verleugnen zu wollen. Erscheinen wird das Ganze nächstes Jahr, so wie es derzeit aussieht im unvergleichlichen Nighttrain (der Spezialist im deutschsprachigen für anspruchsvolle Weirde Literatur).

Daneben darf ich eine neue Novelle nächstes Jahr in einer international besetzten Reihe des Nighttrain veröffentlichen. Eine ganz besondere Ehre. Nighttrain Underground beginnt demnächst und sollte man wirklich von Anfang an verfolgen. Den Auftakt macht Das Unikat vom Mastermind und Operator Tobias Reckermann.

Im Herbst kommt dann Hoffnungslos Tot, eine Zombie-Novelle der etwas anderen Art bei Hammer Boox. Spielt in einem Gefängnis und handelt von einer Art Überlebensschuld während der ersten Stunden einer Zombie-Apokalypse. Das wird mit großer Wahrscheinlichkeit meine nächste Veröffentlichung.

Und ich schleppe ein fertiges Weird-Sword&Sorcery-Roman-Manuskript mit mir herum, das durchaus auch im nächsten Jahr erscheinen könnte. Da liegen die Dinge allerdings etwas komplizierter und ich kann noch nicht genau sagen wo und wann. Auf jeden Fall darf man damit rechnen. Eher früher als später.

Tja, und dann … wer weiß, was dann kommt. Ich hoffe, dass ich noch viele Geschichten erzählen darf, die dem, was ich als gute Mischung zwischen dem Magischen Realismus, der Weird Fiction und was sich mir sonst noch so als Leser aufdrängt, zur Ehre gereicht.

Bis dahin darf ich mich für das Gespräch bedanken, Andreas. Es war mir eine Freude.

Andreas: Der Dank ist ganz meinerseits.

Autorenportrait von Heidi Breuer

Illustrationen von Erik R. Andara

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