Vom Partykeller im Jugendzentrum auf die großen Bühnen der Welt – wovon viele Bands nur träumen können, hat die Krefelder Metal-Band Blind Guardian geschafft. Mit ausgefeiltem Sound und ihren häufig von Fantasy-Motiven geprägten Songs begeistern sie seit knapp 40 Jahren ihre Fans vom Wacken-Festival bis nach Tokio. Anlässlich ihres neuen Albums The God Machine haben wir Frontmann Hansi Kürsch zu den Anfängen der Band, ihren kreativen Prozessen, Tolkien und vielem mehr befragt. Das Interview führte Karsten Dombrowski Ende August, kurz vor der Veröffentlichung des Albums.
Zauberwelten: Blind Guardian gibt es mittlerweile schon ein paar Jahre. Könnt Ihr Euch noch erinnern, wie sich die Ursprungsbesetzung zusammengefunden hat und was damals das Ziel war? Standen Plattenverträge und große Konzerte in aller Welt damals direkt auf dem Plan oder habt Ihr erst einmal Konzerte in Jugendzentren und Co. angepeilt?
Hansi Kürsch: Zusammengefunden haben wir uns tatsächlich, weil wir alle dieselbe Vision teilten. André und ich machten erste Pläne in unserer Schulklasse, gründeten unsere erste gemeinsame Band, Thomen und Marcus stiegen etwas später ein und Blind Guardian war geboren. Es gab keinen Plan B und der eine Plan, den wir hatten, sah so aus: erstens Plattenvertrag, zweitens Weltruhm. Zweitens beinhaltete die ganz großen Konzertsäle dieses Planeten. Das alles sollte möglichst innerhalb von ein bis zwei Jahren vonstattengehen. Der Plattenvertrag kam verhältnismäßig schnell. Punkt 2 hat dann aber auf sich warten lassen, und die Realität der ersten Jahre waren wirklich Jugendzentren und Co. Wir sind dabeigeblieben und wissen mittlerweile, dass gut Ding Weile haben will.
ZW: Wann stellte sich zum ersten Mal das Gefühl ein, es als Musiker geschafft zu haben?
Hansi: Das muss so um 1990/1991 gewesen sein, als wir auf ersten großen Festivals wie dem Rock Hard Festival spielen durften und man uns dann auch noch gut fand. Richtig gut. Bis dahin waren es die kleinen Erfolge, sprich immer besser werdende Plattenverkäufe und glückliche Fans in den kleinen Clubs, die uns bei der Stange gehalten haben.
ZW: Ihr habt Euch in Euren Songs schon immer mit phantastischen Themen befasst – nicht nur, aber schon sehr prägend. Gerade in Eurer Anfangszeit waren das insbesondere die Werke J. R. R. Tolkiens. Gab es dafür einen besonderen Grund?
Hansi: Das Tolkien-Universum ist einfach grandios und hat uns nicht nur Stunden der Unterhaltung gebracht, es hat uns auch inspiriert. An irgendeinem sehr frühen Punkt unserer Karriere ist uns aufgefallen, dass unsere Musik eine Sprache spricht, die der Tolkiens sehr ähnlich ist: Sie kreiert phantastische Welten. Das haben wir dann mit den passenden Texten untermalt. Die Fans teilen diese Passion und konnten die Verbindung in unserem Fall immer gut nachvollziehen.
ZW: Was fasziniert Euch an diesem literarischen Genre? Was macht es für Euch so interessant, dass Ihr auch heute noch Songs zu Elfen und Co. komponiert?
Hansi: Das sind zum einen die unendlichen Möglichkeiten, die diese Welten mit sich bringen. Vieles ist entrückt, hält aber so viele Parallelen zu unserer Welt parat, dass es für mich immer wieder verlockend ist, beide Welten miteinander zu verbinden. Ich kann für mich reale Gedankenspiele mit einer mich inspirierenden Geschichte verknüpfen. Beides zusammen erzählt eine neue Geschichte oder wirft zumindest eine andere Perspektive auf einen vielleicht bereits bekannten Geschichtsstrang oder eine Legende. Ich denke, das ist beim Live-Rollenspiel nicht so wahnsinnig anders. Die Möglichkeiten sind schier endlos. Der Reiz ist das spielerische Ausloten der Extreme. Durch das Annehmen von unterschiedlichen Positionen entstehen individuelle Einsichten. Fantasy ist mehr als Legende, Mythos oder pure Fiktion. Auch das hat Tolkien perfektioniert.
ZW: Ich kann mich noch gut erinnern, dass Eure Musik in meiner späten Jugend in den 90ern in meinem Rollenspielumfeld ziemlich gefeiert wurde … und den Bard‘s Song habe ich schon in Gitarrenversion am Lagerfeuer auf Larps gehört. Habt Ihr selbst Rollenspieler oder Larper in Euren Reihen?
Hansi: Nein, das haben wir nicht. Wir waren der Larp-Szene in den frühen 90ern aber sehr nah. Da gab es diverse Spielgruppen, die uns in unserem Studio besucht und uns zu ihren Treffen eingeladen haben. Wir fanden das verlockend, haben aber nie aktiv teilgenommen. Als wir dann erste Videoclips drehen wollten, hatten wir vor, mit diesen Gruppen zusammenzuarbeiten, um eine klassischen Fantasy-Schlacht für irgendeinen der Songs zu inszenieren. Dazu ist es aber nie gekommen, weil unsere Plattenfirma damals zum Somewhere Far Beyond-Album letztlich keinen Videoclip haben wollte. In den Jahren danach ist der Kontakt zu diesen Leuten eingeschlafen. Lang, lang ist’s her. Aber ja, in den Kreisen, genau wie in Brett-Rollenspielerkreisen hat man schon immer den Kern-Blind-Guardian-Fan gefunden. Die Literatur, die Macht der Fantasie und die Liebe zur Musik verbindet uns.
ZW: Nach mehr als zwei Jahren Pandemie sind Konzerte und Festivals endlich wieder möglich. Habt Ihr den ersten Bühnenauftritten sehr entgegengefiebert? Oder müsst Ihr Euch nach der Zwangspause erst einmal wieder an Live-Auftritte und Tourleben gewöhnen?
Hansi: Wir haben den ersten Bühnenauftritten extremst entgegengefiebert. Man darf nicht vergessen, dass wir mit Blind Guardian die letzten größeren Shows im Jahre 2017 gespielt haben. Von daher war die Phase für uns noch länger und härter. Aber ich kann es nicht verleugnen, nach der langen Zwangspause musste man das Touren tatsächlich neu erlernen. Das fängt beim Kofferpacken an und hört beim Kräfteaufteilen auf der Bühne längst nicht auf. Alles fühlt sich an wie damals in den 80ern: Gut, den Knochen merkt man die 35 Jahre durchaus an, aber das Feuer und die Aufregung sind vergleichbar. Alle, Band, Crew und Publikum sind super motiviert und dankbar, dass es wieder losgeht.
ZW: Ihr habt die letzten Jahre genutzt, um an einem neuen Album zu feilen, das Anfang September erscheint. Was könnt Ihr dazu schon erzählen?
Hansi: Oh, da gäbe es vieles zu erzählen, aber das würde unter Umständen den Rahmen sprengen. The God Machine, so heißt das Album, erscheint am 2. September und ist ein sehr massives und intensives Album geworden. Wir sind unserer Linie treu geblieben, haben aber die Taktung im Stile der 90er wieder ein wenig stärker intensiviert und die Orchestrierung, also das, was uns in den letzten Jahren eher ausgezeichnet hat, ein wenig zurückgenommen. Daraus ist ein sehr unterhaltsames Album entstanden, das dem geneigten Musikfan gefallen sollte. Die Musik hat einen starken narrativen Ton, den ich durch Fantasy inspirierte Texte verstärkt habe. Die Texte zu den Stücken sind von Autoren wie Neil Gaiman, Patrick Rothfuss, Hans Christian Andersen oder Brandon Sanderson inspiriert und geben Einblick in meine Gedankenwelt. Der innere Kampf zwischen Licht und Dunkel ist sehr präsent.
ZW: Wenn man solange im Geschäft ist wie Ihr, besteht da nicht die Gefahr, sich irgendwann selbst zu kopieren? Wie beugt Ihr dem vor?
Hansi: Indem wir uns nicht kopieren. Das ist verhältnismäßig einfach. Wir sind unsere eigene Geschmackspolizei, haben kein vorgefertigtes Songmuster und fangen allein deshalb schon immer bei null an. Der Titel des Albums The God Machine ist eine direkte Anspielung darauf. Wir schaffen etwas Neues aus dem scheinbar absoluten Nichts. Fiat-Musik könnte man sagen.
Wir schauen allerdings ständig zurück und beschäftigen uns zum Beispiel durch Live-Konzerte schon fast zwangsweise mit unserer gesamten Historie. Das vertieft die Stilistik, führt aber dazu, dass das Material immer präsent ist und wir augenblicklich merken, wenn etwas zu stark rückwärtsgewandt ist oder zu stark nach etwas bereits Existierendem klingt.
ZW: Ihr seid bei Euren Alben dafür bekannt, dass Ihr sowohl ziemlich perfektionistisch als auch experimentierfreudig seid. Wie läuft der kreative Schaffensprozess für ein Album ab? Was braucht es, damit ein Song von einer vagen Idee zu einem bombastisch-orchestralen Stück wird?
Hansi: Das kommt auf den Song an. Ein bombastisch-orchestrales Stück braucht vor allem zwei Dinge: Das sind Zeit und Mut. Zeit, weil solche Sachen sehr stark ausdefiniert werden müssen und durchaus auch schon mal durch Verirrungen, die man in Kauf nehmen muss, zusätzliche, nicht planbare Zeit in Anspruch nehmen können. Mut deshalb, weil man die klassischen Wege der Metal-Musik verlässt und ein neues Klangbild entstehen lässt, das für den ein oder anderen erstmal fremd erscheinen könnte. Wenn die Band gemeinsam mit einem Orchester musiziert ist das eine im Klangbild platzintensive Geschichte. Die kann den Hörer überwältigen, aber auch verstören.
Am Anfang steht, wie gerade beschrieben, erstmal nichts. Es sind das reine Herumexperimentieren und die damit verbundene Geduld, die irgendwann zum Bing-Bang-Moment führen. Das ist nicht planbar und schwer erklärbar. Alles andere entwickelt sich aus diesem Urmoment heraus. Der wartet auf Feedback von den Erschaffern. Anschließend feilen wir wirklich so lange an dem Stück, bis wir unisono der Meinung sind, jetzt ist alles gesagt und so passt es für uns.
ZW: Das neue Album steht in den Startlöchern, der Festivalsommer neigt sich absehbar dem Ende entgegen – was steht als Nächstes bei Euch an?
Hansi: Es wird glücklicherweise nie langweilig. Du erwähntest schon den Bard‘s Song. Das dazugehörige Album Somewhere Far Beyond feiert in diesem Jahr dreißigjähriges Jubiläum. Das wollen wir feiern. Teilweise haben wir das schon bei den Festivals getan, jetzt steht aber die dazugehörige Deutschland-Tour ins Haus. Es wird großartig. Das kann ich schon jetzt versprechen. Fast alle Shows sind mehr oder minder ausverkauft, und wir haben ein schönes, passendes Set vorbereitet. Wir freuen uns tierisch auf die Party. The God Machine wird am 2. September veröffentlicht, und das ist auch der Tag, an dem die SFB-Tour startet. Das Jahr 2023 steht ganz im Zeichen von The God Machine-Tourneen. Das Album bietet sich für Live-Konzerte geradezu an. Die Zukunft sieht also gar nicht so schlecht aus.
Bilder: Dirk Behlau
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