Tainted Grail entführt die Spieler in eine mystische Welt, die von einer dunklen Macht bedroht wird. Das Spiel bietet uns ein kartenbasiertes, ausgefeiltes Spielsystem mit vielen klassischen Rollenspielelementen und eine lebendige Welt, die auf jede Entscheidung der Spieler*innen reagiert.
Der Anfang: ein Kickstarter-Projekt
Als das Brettspiel Tainted Grail durch Awaken Realms das erste Mal auf Kickstarter und den gängigen sozialen Plattformen angekündigt wurde, war der Hype in der Brettspiel-Community sofort geboren. Bis dato wurden 4.940.030 Pfund beigetragen, um die Produktion zu ermöglichen. Das Spiel ist sowohl in einer Co-op-Variante als auch solo spielbar, wobei zweiteres eine größere Herausforderung für Spieler*innen bietet. Die Rahmenhandlung bewegt sich in einer dystopisch-mystischen (keltische Mythologie), an die Artussage angelehnten Welt, der Insel Avalon. Die Geschichte ist ungefähr 600 Jahre nach der Ankunft der Menschen auf der Insel angesiedelt, als sich eine große Gefahr, die sogenannte Wyrdnis, über die Insel ausbreitet. Allein die Menhire, geheimnisvolle Objekte aus alter Zeit, bieten Schutz vor dem Tod und der Zerstörung, doch ihre Macht wird schon seit langem schwächer – stetig größer werdende Opfergaben an sie bieten nur kurze Phasen des Schutzes. Nun obliegt es den Spieler*innen, die Geheimnisse des Geschehens zu erkunden und das Zusteuern auf den Abgrund durch ein Herumreißen des Ruders zu verhindern. Das gesamte Spielerlebnis beläuft sich auf 15 Kapitel, die laut Box in jeweils zwei bis drei Stunden abgehandelt werden können. Mittlerweile erscheint das Spiel bei Pegasus.
Das Spielmaterial
Vergleicht man Tainted Grail mit anderen Spielen, so ist es schwer, ähnliches zu finden. Mir persönlich kommt im Vergleich des Umfanges der Materialien und der Storyline am ehesten Gloomhaven in den Sinn, das aber ein klares Legacy-Spiel und ein reiner Dungeoncrawl ist, also je nachdem, wie man mit den inkludierten Materialien umgeht, nur einmal gespielt werden kann. Mittlerweile existieren mehrere Erweiterungen, welche die Welt in anderen Zeiten beleuchten. Im Standardset, Fall of Avalon, finden wir vier Charakterbögen, acht Miniaturmodelle (Held*innen, Menhire und einen sogenannten „Einstiger“), zehn Münzen, über 760 Karten (zur Verwendung als Spielbrett, Diplomatie- und Kampfkarten, Monster, Items, Ereignisse oder Quest- und Storylines), ein Grundregelwerk, ein Buch zur Story, „Quicksave-Sheets“, mehrere Karten und Briefe sowie über 110 Marker und Tokens. Die Miniaturen bieten an sich zugleich den Anknüpfpunkt für ein anderes Hobby, das Bemalen der Figuren, da sie in einem schlichten Grau vorgefunden werden. Mir als ordnungsliebendem Menschen war es auch wichtig, die Karten vor Abnutzung zu schützen, sodass ich dicke Tarotkarten- und Spielkartenhüllen verwendete, um ein Abstoßen der Karten zu verhindern – es machte es uns auch leichter, die Karten nach ihrer Platzierung vom Tisch aufzuheben, beispielsweise um die Rückseite der Orte zu lesen.
Die Held*innen
Nachdem in der Vorgeschichte zum Spiel bereits fähige Held*innen – die Mentoren der Spielcharaktere – aufgebrochen sind, um Avalon zu retten und die Wyrdnis zu erkunden, aber nicht zurückgekehrt sind, liegt es an uns „normalen“ 08/15-Menschen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was mit der anderen Gruppe geschehen ist. Gleich am Anfang des Spiels wird uns ein großer immersiver Aspekt geboten, da jeder Charakter eine Nachricht des Mentors oder eines guten Freundes erhält, der sich der ursprünglichen Mission angeschlossen hatte, was sogleich Verbundenheit und Pflichtbewusstsein bei den Spieler*innen wecken kann. Ausgestattet mit Ecken und Kanten, Stärken und Schwächen machen wir uns auf, um Hilfe zu leisten. Hierbei kann jeder Spieler oder jede Spielerin in die Rolle eines der vier vorgefertigten Held*innen schlüpfen: Beor, der Schmied, Ailei, eine Heilerin und Naturkundige, Arev, ein ehemaliger Söldner oder Maggot, ein ehemaliger Druide. Jede dieser Figuren hat einzigartige Eigenschaften, die uns im Spiel weiterhelfen können.
Während Beor ein starker Kämpfer ist, der – wie könnte es als raubeiniger Schmied anders sein – in diplomatischen Dingen eher schwach ist, steht Ailei diesem diametral gegenüber: im Kampf lediglich als Unterstützerin zu sehen, in sozialen Belangen aber von großem Nutzen. Abseits der Fähigkeiten im Kampf und der Diplomatie trägt jeder Charakter eine für die Gruppe nützliche Eigenschaft, aber auch eine negative, die einen strategischen Aspekt ins Spiel bringt. In einer Vierer-Gruppenkonstellation kann man durch die breit gefächerten Fähigkeiten die Nachteile weitestgehend ausgleichen, in einem Spiel alleine wird dies schwieriger oder stellenweise sogar unmöglich.
Somit besteht die Gruppe aus zwei Kämpfern, einer Art Magier und einer Heilerin. Diese Aufteilung ermöglicht es in einem Spiel zu viert oder alleine mit allen einem bis vier Charakteren, zwei Zweiergruppen zu bilden, um parallel die Welt zu erforschen.
Wie sofort auffällt, sind die kleinen integrierten Charakterbeschreibungen herausnehmbar und können umgedreht werden. Dort findet man die Startwerte des Charakters und eine kleine Zusammenfassung seiner Vorgeschichte.
Dark Souls’esque Spielmechanik
Um die Held*innen genauer zu beleuchten, muss auf die Spielmechanik eingegangen werden. Jeder der Protagonisten ist mit einem kleinen Charaktertableau ausgestattet, auf dem sich die sechs Werte befinden, die den Charakter umschreiben, ebenso kleine Vertiefungen für Ansehen, Erfahrung, Reichtum, Magie und Nahrung. Die Grundwerte Aggression, Empathie (auch als Mitgefühl bezeichnet), Mut, Praktikabilität, Spiritualität und Vorsicht sind von Nutzen, um gewisse Karten im Kampf und der Diplomatie spielen zu können.
Der Knackpunkt des Spiels ist die Aktivierung oder die Erhaltung von Menhiren, denn die Statuen halten die Wyrdnis von den bewohnten Orten fern und ermöglichen ein größeres Erkundungsfeld der Weltkarte. Die Aktivierung ist jedoch temporär und gibt dem Spiel ein bestimmtes Zeitlimit, je nachdem, mit wie vielen Spieler*innen man spielt.
Das Spielbrett, die Welt Avalon, wird mit doppelseitigen Spielkarten dargestellt, die aneinander angelegt werden und in ihrer Ergänzung die Welt präsentieren. Im Laufe des Spiels werden mehr und mehr Karten aufgedeckt – doch sobald ein Menhir erlischt, wird das Spielfeld verkleinert und überflüssige Karten entfernt. Man fühlt sich dadurch an Rollenspiele erinnert, in welchem ein sogenannter Fog of War über noch nicht erkundeten Regionen der Karte liegt.
Die Zeichnungen, welche man auf der Landkarte entdeckt, machen große Lust auf weitläufiges Erkunden der Welt, die in unseren Runden schnell durch den Zeitmangel ausgebremst werden. Die FunTastischen Elemente, welche die Illustrator*innen und Gamedesigner*innen auf die Karte zeichnen, deuten auf die Hintergrundgeschichte Avalons hin, als Arthur sich den invasiven Riesen entgegenstellte. Allein das Betrachten der Karten gab uns an manchen Stellen Hinweise darauf, was alles in Avalon geschehen war, sodass die fehlende Zeit zum Erkunden verschmerzbarer wurde.
Bereits das erste Kapitel des Abenteuers lehrt die Spieler*innen den großen (bereits mehrfach erwähnten) Zeitdruck und das richtige Handhaben der Ressourcen. Trifft man falsche oder unnötige Entscheidungen, zieht der Schwierigkeitsgrad schnell an und erinnert an die Dark-Souls-Reihe, in der jeder Fehler streng bestraft wird. Auch ist es möglich, bereits im ersten Kapitel des Spiels zu scheitern und neu beginnen zu müssen – eine früh geschürte und stetige Angst, von der man die ganze Partie lang begleitet wird.
Der Spieler oder die Spielerin, die das Spiel „leitet“ und das Abenteuerbuch verwaltet, liest die jeweiligen kartenbezogenen Paragraphen aus diesem vor und baut so die Vorstellungen der Spieler*innen zur Welt auf. Wichtig ist, dass die Spieler*innen an vielen Orten Entscheidungen treffen können, wie sie vorgehen wollen. Dadurch, dass Avalon und dessen Geschehnisse stark miteinander verschachtelt sind und so eine unglaubliche Tiefe entwickeln, schließt sich mit jeder Entscheidung eine Storyline-Tür, wodurch sich aber eine andere, bisher verschlossene öffnet. Die stetige Spannung, die damit aufgebaut wird, ist offensichtlich. Mit den Entscheidungen können Geheimnisse gelüftet und erhalten werden, welche die Charaktere gewisse Status erlangen lassen. Von diesen finden sich um die 780 im Abenteuerbuch. Das Buch und seine Entschlüsse erinnern an die Werke aus der 1.000-Gefahren-Reihe, in welchen man – je nachdem für welchen Fortgang der Geschichte man sich entscheidet – an verschiedenen Stellen weiterlesen muss, oder an die Sherlock-Holmes-Criminal-Cabinet-Spiele von 1985, die freie Aktionen ermöglichen.
Der Ablauf eines Tages
Kleinere, im jeweiligen Kapitel liegende zeitliche Rahmen werden als Tage bezeichnet. Jeder Charakter verfügt über einen Pool an Energie, Leben und Terror, die miteinander verknüpft sind. Sinken die Lebenspunkte eines Spielers oder einer Spielerin, so sinkt ebenfalls das Maximum an Energie, das für diverse Aktionen gebraucht wird. Um zu reisen, Orte zu erkunden, Spezialfähigkeiten einzusetzen oder Geheimnisse aufzudecken, benötigt man Energie. Wenn diese verbraucht ist, muss man zwangsläufig eine Rast begehen, also den Tag abschließen, um sie zu regenerieren. Aufpassen sollte man ebenfalls, dass man nicht in die Erschöpfung oder den Wahnsinn gerät, da man dann nur einen kleinen Teil an Energie oder Leben regenerieren kann, der nächste Tag somit für den jeweiligen Charakter kürzer ist.
In der ersten Phase des Tages, dem Anbruch des Tages, reduzieren wir alle Zeittoken (beispielsweise für Quests, Todesmarker und Menhire) um einen Punkt. Ebenso entfernen wir abgelaufene Menhire und alle Karten, welcher außerhalb der Reichweite eines Menhirs liegen. Dann ziehen wir eine neue Ereigniskarte und bewegen etwaige Wächterkreaturen, die sich auf der Weltkarte befinden. Die Ereigniskarten bieten uns Erleichterungen oder Erschwernisse, welche für den Tag gelten. Danach tritt Phase II, der Tag, ein. Dort verwendet jede*r Spieler*in die Energie für Aktionen, bis keine mehr übrig ist oder man passiv wird und aussetzt. Am Ende des Tages, der dritten Phase, konsumiert jeder Charakter Nahrung, dadurch erhält er oder sie einen Lebenspunkt und verliert einen Terrorpunkt. Wenn man kein Essen im Vorrat hat, bzw. nicht essen kann, fällt die Energie auf 0. Am Ende des Tages kann der Charakter mit Erfahrungspunkten aufgelevelt werden, zuletzt wird der Traum oder Albtraum der jeweiligen Location vorgelesen und der neue Tag gestartet.
Da man mit wenig Energie am nächsten Tag eine stark begrenzte Anzahl an Aktionen vornehmen kann, aber die Zeitleiste unnachgiebig vorrückt, muss genau abgewogen werden, welche Aktion absolut notwendig ist und welche nicht. Basierend darauf, wie wenige Lebenspunkte man am jeweiligen Tagesbeginn hat, werden jegliche Begegnungen, selbst die einfacheren, umso tödlicher und der Schwierigkeitsgrad zieht damit merklich an.
Dadurch, dass verschiedene Entscheidungen getroffen werden können, fühlt sich Tainted Grail nicht wie ein reguläres Brettspiel an, eher wie ein Rollenspiel, in dem jeder Entschluss eine Auswirkung hat. Das Aufleveln eines Charakters ist ebenfalls ein Aspekt, der daran erinnert. Bei einem Co-op Spiel können sich die Spieler*innen absprechen, wer sich auf welche Werte fokussiert, um als Gruppe möglichst gut zu agieren – um, in gewisser Weise im Rollenspiel-Jargon ausgedrückt, Min-Maxen zu können.
Begegnungen und das Kampfsystem
Diese zwei bereits wiederkehrend erwähnten Schlagworte, „Kampf“ und „Diplomatie“ bilden die Basis des Kampfsystems in Tainted Grail. Jeder Charakter hat zwei Basisdecks an Karten, welche bei den jeweiligen Konfrontationen eingesetzt werden können. Kennt man das stoische Auswürfeln von Treffern und Aktion aus vielen anderen Brettspielen, baut Tainted Grail auf eine Kartenmechanik auf, welche anfangs für Verwirrung sorgen kann, beziehungsweise bei uns dafür sorgte.
Die Illustrationen, die auf den Bildern zu finden sind, passen mit ihrer Darstellung gut in die Dark-Fantasy-mäßige Welt von Tainted Grail. Meist düster gehalten, mit einem Fokus auf neonfarbenen Ausschnitte wird es nie langweilig, die Bilder zu betrachten, jedes Mal erschließen sich bisher übersehene Details.
Doch zuerst einige Worte zu diesen Begegnungen. Es gibt im Spiel vier Stapel an Gegnerkarten, drei davon führen zu potentiellen Kämpfen (Rot, Weiß und Violett), eine meist zu diplomatischen Verstrickungen (Blau). Jeder Charakter hat unterschiedliche Werte und kann so aktiv oder passiv gespielt werden. Eine kämpferische Begegnung teilt sich in mehrere Phasen. In der Vorrunde ziehen alle Spieler ihre Karten und entscheiden in der Phase I, wer zuerst aktiv werden darf. In der Phase II 1 darf der Spieler nun eine Karte anlegen. Wenn eine Karte gelegt wurde, die es ermöglicht, eine weitere Karte anzulegen, darf dies in Phase II 2 gemacht werden und der verursachte Schaden wird abgerechnet. In der Phase II 3 reagiert nun das Monster und teilt im Gegenzug Schaden an den aktiven Charakter, basierend auf dem Schaden, den er erhalten hat, aus. Sodann schreitet man zu Phase II 4 fort, in welcher der nächste Spieler aktiv wird. Dies wird solange wiederholt, bis das Monster oder der/die Spieler tot oder geflohen ist/sind.
Die Monsterkarte bietet uns Anknüpfpunkte für unsere Karten. Zu beachten ist, dass Verknüpfungen nur funktionieren, wenn aktive Spieler*innen den jeweiligen Attributswert haben. So muss bei mehreren in den Kampf verwickelten Spieler*innen genau abgesprochen werden, welche Karten gelegt werden, oder mit welchen der aktive Spieler seinen Zug beendet, um eine möglichst gute Reihe zu legen. In unseren ersten Kampfrunden mussten wir lange überlegen, welche Karten nun angelegt werden können und wie wir diese bestmöglich nutzen.
Die diplomatischen Begegnungen sind in ihrem Ablauf dem Kampf gleichgestellt. Jedoch wird in diesen sozialen Begegnungen kein Schaden ausgeteilt, sondern eine Leiste nach oben oder unten gerückt, um bei dem NPC in einem negativen oder positiven Licht zu erscheinen. Erreicht man das obere Ende der Leiste, ist die Begegnung bestanden, wandert man hingegen ganz nach unten, scheitert diese.
Kommt es zu dem Worst-Case-Szenario, dass die Lebenspunkte auf 0 sinken, erhält ein*e Spieler*in im Co-op Modus seine „Du bist sterbend“-Karte, die weitere Effekte mit sich bringt. So haben die Mitspieler*innen einen begrenzten zeitlichen Rahmen, zum sterbenden Begleiter vorzudringen und diesen zu retten, was natürlich wertvolle Zeit raubt. Verfällt der Spielcharakter hingegen dem Wahnsinn, können keine Leben mehr regeneriert werden, ebenso hat man nur noch Albträume. Bei jeder Reise- oder Erkundungsaktion muss eine Münze geworfen werden, um festzustellen, ob Energie verloren wird, oder nicht.
Zudem gibt es die sogenannte Gnade der Allmutter, eine Art Quick-Save, der von den Spieleentwickler*innen in Tainted Grail integriert wurde. Diese führt die Charaktere an den Anfang des gerade bespielten Kapitels zurück und lässt die Gruppe von dort neu starten. Die Spielanleitung weist im Englischen darauf hin, dass „relying on higher powers to keep you alive“ nicht der intentionierte Weg des Spiels ist. Daher sollte dies mit Bedacht, wenn nicht gar nur einmal eingesetzt werden, sobald die Gruppe vernichtet wurde. Eine weitere Möglichkeit, welche wir uns selbst gesetzt haben, um etwaig an einem gewissen Punkt neu starten zu können, ist der Save Sheet, beispielsweise, wenn wir einen Kampf probieren wollten, der eigentlich weit über unserem Niveau liegt – beispielsweise, wenn ein verärgerter Herrscher seine Leibgarde rief. Dies ist natürlich auch nicht im Sinne des Spiels und hebelt einiges aus, kann aber als zweiter Rettungsanker verwendet werden.