Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Lieber Kai, man muss nicht lange recherchieren, um von deinem Werk beeindruckt zu sein. Übersetzt in etwa 30 Sprachen, eine Gesamtauflage von mehreren Millionen Exemplaren und diverse Preise kannst Du vorweisen. Bevor wir zu dir als erfolgreichen Phantastikautoren kommen, würde ich gerne ein paar Schritte zurück gehen. Wer ist Kai Meyer und was hat ihn so sehr an der Phantastik begeistert, dass sie zu seinem Lebensmittelpunkt werden sollte?
Kai Meyer: Ich habe früh erkannt – als Kind natürlich unbewusst –, dass das Phantastische und vielleicht ganz allgemein das Fiktionale die Welt durch neue Blickwinkel viel interessanter macht. Geschichten sind für mich so wichtig wie die alltägliche Realität. Das müssen keine phantastische Geschichten sein, nicht einmal erfundene, weil uns jede Geschichte Einblicke in etwas gibt, zu dem wir sonst keinen Zugang hätten. Die Phantastik kann dieses Gefühl allerdings um ein Vielfaches erhöhen. Im Grunde bin ich sehr für das, was Kritikerinnen und Kritiker früher gern als Flucht verunglimpft haben – ich würde es allerdings eher eine Art Reise nennen. Man kann sie unternehmen, auch ohne vor etwas fliehen zu wollen.
Andreas (ZWO): Und wann hast du dann die ersten Schritte als Autor und Geschichtenerzähler gewagt?
Kai: In den Achtzigern machte man innerhalb des Genres erste Schreibversuche in der Regel in Fanzines. Die kamen nicht selten aus der Heftromanszene, die deutsche Phantastik fand damals ja zum größten Teil in den Heftserien statt. Von daher war der nächste Schritt mit Anfang zwanzig die Bewerbung mit einem Manuskript bei Bastei-Lübbe, und so wurde mein erster Heftroman dort in der Reihe Mitternachts-Roman veröffentlicht. Alles in allem habe ich in relativ kurzer Zeit sieben Hefte geschrieben, dann mein Volontariat als Journalist begonnen und zugleich mein erstes Buch geschrieben.
Andreas (ZWO): Das klingt nach einem ganz schön disziplinierten Arbeitspensum. Damit bist du noch nicht direkt zum Bestsellerautor geworden. Womit gelang dir der Durchbruch und was waren die Faktoren, dass dieses Werk so durchgeschlagen ist?
Kai: Das ist in kleinen Schritten passiert. Mein drittes Buch, Die Geisterseher, war 1994 mein erstes Hardcover und mein erster historisch-phantastischer Roman. Das Buch war nicht auf der Bestsellerliste, wurde aber aufgrund des Themas – Goethe ermordet Schiller und die Brüder Grimm ermitteln – auch im Feuilleton wahrgenommen, bis hin zum Dreispalter in der FAZ. Heyne machte daraufhin ein sehr anständiges Angebot für die Taschenbuchrechte, auch für die zwei, drei folgenden Titel, und bis heute sind Die Geisterseher und die Fortsetzung Die Winterprinzessin ohne Unterbrechung in diversen Verlagen lieferbar geblieben – das hat keines meiner anderen Bücher geschafft. Auch nicht Titel, die auf der Bestsellerliste waren. Daran sieht man wie trügerisch diese Listen sind: Man kann ein paar Wochen auf den oberen Plätzen stehen und dann schnell verschwinden, während ein Buch, das seit mittlerweile fast dreißig Jahren durchgehend im Handel ist, am Ende viel mehr Exemplare verkauft. Der Schlüssel zu einer Karriere als Autorin oder Autor ist Beständigkeit, nicht ein einzelner großer Überraschungserfolg. Auch wenn der natürlich hilfreich sein kann. Bei mir war das 2002 der erste Band der Merle-Trilogie, Die Fließende Königin. Plötzlich war ich als Jugendbuchautor bekannt, was niemanden mehr erstaunt hat als mich.
Auch als Hörspiel: Die Fließende Königin
Andreas (ZWO): Mittlerweile gehörst du zu den wenigen wirklich erfolgreichen deutschsprachigen Phantastik-Autorinnen und Autoren? Was meinst du, hast du anders oder richtig gemacht, um diesen Erfolg zu begünstigen?
Kai: Es gibt ganz unterschiedliche Wege, um mit Büchern erfolgreich zu sein. Meiner hat viel damit zu tun, dass ich das Geschichtenerzählen wirklich Tag für Tag lebe – ich beschäftige mich mit kaum etwas anderem. Ich führe im Grunde ziemlich genau das Leben, das ich mir mit zwölf, dreizehn gewünscht habe. Das führt praktischerweise zu einer gewissen Selbstdisziplin – Bücher müssen fertig werden und sie sollten es zu einem bestimmten Termin sein –, die ich nur durchhalte, weil ich nach wie vor an den meisten Tagen großen Spaß daran habe. Ich habe dieselben Durchhänger wie jeder andere auch, aber ich weiß, wie ich sie überwinde: Indem ich einfach weitermache. Und das geht im Rückschluss nur, weil es gar nichts anderes gibt, das ich lieber täte.
Und weil mich schon als Teenager der Hintergrund sehr interessiert hat, also wie man Geschichten erzählt und in welchen Medien, war es mir immer wichtig, über den Tellerrand des Literaturbetriebs hinauszublicken. Film, Hörspiel, Comics – ganz egal, Hauptsache Erzählen. Ganz trocken könnte man das auch Mischkalkulation nennen. Und die ist wichtig, um über so viele Jahre einen gewissen Grad an Erfolg aufrechtzuerhalten.
Andreas (ZWO): Wie beurteilst du die aktuelle deutsche Phantastiklandschaft? Welche Trends beobachtest du?
Kai: Wir haben immer noch eine junge Generation von Autorinnen und Autoren, die mit dem Harry-Potter- und Twilight-Boom großgeworden ist. Und weil das auch für die Leserschaft gilt, gibt es bis heute den Erfolg der romantischen Fantasy, oft mit Young-Adult-Anstrich. Natürlich wird an allen Ecken und Enden auch Anderes und Interessanteres geschrieben, aber oft erreicht das nicht das nötige Publikum, um sich finanziell zu rentieren, wenn man nicht schon einen gewissen Namen hat oder einen Verlag, der das entsprechende Marketing betreibt. Deshalb macht es sich die kommerzielle Phantastik – nicht nur, aber auch in Deutschland – noch immer in diesem Beharren auf Romantasy, High Fantasy und Young Adult bequem. Ich habe das Gefühl, aus dem muss sie schlicht herauswachsen. Bei allen ehrenwerten Versuchen, die anderen Subgenres zu bedienen, kommt es mir so vor, als müsse die Szene das am Ende wirklich aussitzen. Früher dachte ich, so etwas dauert drei, vier Jahre, heute kommt es mir eher vor wie zwanzig.
Andreas (ZWO): Was wünschst du dir für die phantastische Zukunft?
Kai: Weil so viel prominente Phantastik mittlerweile in Streamingserien stattfindet, die wiederum auf die Erfolgsrezepte der letzten ein, zwei Jahrzehnte zurückgreifen, wird es immer schwieriger, gegen die Erwartungshaltung des Publikums anzuschreiben. Es geht gar nicht darum, das Rad neu zu erfinden – innerhalb eines Genres macht oft schon die neue Kombination bewährter Elemente den großen Unterschied. Am Ende ist es immer der Spagat zwischen Ambition und Verkäuflichkeit, wenn man mit Kreativität seinen Lebensunterhalt verdienen will. Und dann hängt es natürlich auch immer von dem einen großen kommerziellen Wellenbrecher ab, der in unregelmäßigen Abständen neue Türen aufstößt: Das waren relativ kurz hintereinander Harry Potter, die Herr-der-Ringe-Filme, Twilight und die Dystopie. Wie die Zukunft des Genres aussieht, wird, praktisch betrachtet, auch davon abhängen, was das nächste große Ding sein wird. Der Erfolg der Superheldenfilme ist zum Glück singulär auf Film und Fernsehen begrenzt und hat keinen spürbaren Abdruck in der Literatur hinterlassen, nicht mal Comics verkaufen sich dadurch besser. Es wird also etwas anderes sein. Aber was? Ich habe keine Ahnung und mache mir auch nicht wirklich Gedanken darüber. Ich schreibe einfach das, woran ich gerade Spaß habe. Manchmal hat das Erfolg, manchmal eben nicht. Mir ist es viel wichtiger, zufrieden auf meine Bücher und all das andere zurückblicken und sagen zu können, das sind Sachen, die ich genauso zu diesem Zeitpunkt machen wollte. Mit dieser Haltung bastle ich auch an den Dingen, die in Zukunft erscheinen werden.
Die Alchimistin
Andreas (ZWO): Kommen wir noch einmal auf deine Werke zurück. Nach dem Durchbruch folgten zahlreiche Veröffentlichungen, welches Buch oder welche Reihe kannst du als besonders originären Einstieg ins Kai-Meyer-Universum empfehlen?
Kai: Die Alchimistin mit den beiden Fortsetzungen und der Zyklus um Die Seiten der Welt. In beiden steckt – auf recht unterschiedliche Weise – die Essenz von fast allem, was ich mache. Ich spreche jetzt von Themen, von wiederkehrenden Motiven, vielleicht von gewissen litarischen Obessionen. Irgendwie lande ich immer wieder bei der Gothic Novel – selbst in einer Space Opera wie Die Krone der Sterne. So ganz ohne Schlösser und Spukhäuser geht es bei mir nicht, egal, ob sie nun im Gewand einer Bibliothek oder eines Raumschiffs daherkommen.
Andreas (ZWO): Ganz aktuell durfte ich eine Comicadaption zu Phantasmen von dir lesen. Ein wirklich originäres Endzeitsetting mit einem höchst innovativen Zeichenstil. Deine Werke werden häufig in andere Medien übertragen. Was findest du bei diesem Prozess besonders spannend und wie bist du im Adaptionsprozess involviert?
Kai: Bei den Comic-Adaptionen – wie zuletzt bei Phantasmen, Krone der Sterne oder Der Speichermann – bin ich weniger künstlerisch als eher redaktionell involviert. Ich segne Skizzen, Charakterentwürfe und Storyboards ab, ich behalte den Erzählfluss und die Verständlichkeit im Blick, ich schreibe am Ende auch mal meinen eigenen Text um, wenn ich das für nötig halte. Aber die eigentliche Arbeit der Adaption machen all die anderen.
Beim Film liefere ich ein Drehbuch oder eine Romanvorlage ab und hoffe auf das Beste. Letztlich kann man da immer nur abwarten und sehen, was passiert. Fatalismus hilft.
Und beim Hörspiel wiederum ist es eine Mischung aus alledem: Ich schreibe jedes einzelne Wort, das gesprochen wird, höre mehrfach die Umsetzung in verschiedenen Stadien an und schlage hier und da kleine Korrekturen vor – selten mal eine große wie eine Neubesetzung. Meine beiden Hörspielserien für Audible, Sieben Siegel und Imperator, sind wirklich eins zu eins so geworden, wie ich mir das gewünscht habe. Was natürlich viel mit den beiden Regisseuren Christian Hagitte und Simon Bertling zu tun hat und mit Dutzenden toller Sprecherinnen und Sprechern. Oft hängt es beim Hörspiel an Kleinigkeiten, eine einzige Fehlbesetzung kann das ganze Konstrukt zum Wackeln bringen. Da hatte ich sowohl bei den Originalserien für Audible als auch bei den meisten Hörspieladaptionen meiner Romane großes Glück.
Kai Meyer in seinem Element
Andreas (ZWO): Wenn ich noch einmal bei den Phantasmen bleiben darf. Der zu Grunde liegende Roman wurde sowohl im größeren Carlsen Verlag als auch im Liebhaberverlag Blitz veröffentlicht, bei dem du regelmäßig publizierst. Was macht für dich den Reiz an der Arbeit mit Kleinverlagen aus? Welche Rolle spielen sie deines Erachtens?
Kai: Blitz veröffentlicht in meinem Fall signierte, limitierte Sammlerausgaben von Romanen, die Jahre zuvor bereits in großen Verlagen erstveröffentlicht wurden. Das kann man nicht mit einer Originalveröffentlichung in einem Kleinverlag vergleichen, für die ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Meine Sammlerausgaben sehe ich in erster Linie als Service für echte Fans – deshalb halten wir auch die Preise niedrig –, und nicht als etwas, das sich am Markt durchsetzen oder viel Geld abwerfen muss. Darum kann ich wenig Gehaltvolles dazu sagen, wie es sich für einen Autor oder eine Autorin anfühlt, auf die Gegebenheiten der Kleinverlagsszene angewiesen zu sein. Ich bin aber heilfroh, dass es diese Szene gibt, weilsie für eine Vielfalt sorgt, die große Verlage oft nicht fördern können, weil sie eine ganze Maschinerie am Laufen halten müssen.
Kai Meyers Neuerscheinung wird historisch
Andreas (ZWO): Abschließend würde mich interessieren, was wir von dir in nächster Zukunft erwarten dürfen. Worauf bist du selber besonders gespannt?
Kai: Im November erscheint mein neues Hardcover für Erwachsene bei Knaur, Die Bücher, der Junge und die Nacht, ein historischer Roman mit Elementen von Schauerroman, Mystery und Familiensaga. Er spielt auf drei Zeitebenen im 20. Jahrhundert: 1933, 1943 und 1971. Ein kleiner Junge wird 1943 beim Bombenangriff auf Leipzig von einem mysteriösen Bücherdieb aus einer brennenden Verlegervilla gerettet, in der er zehn Jahre lang ohne Kontakt zur Außenwelt eingesperrt war, zieht mit ihm durch das apokalyptische Deutschland der letzten Kriegsjahre und versucht 1971 als Erwachsener herauszufinden, was damals zu seiner Gefangenschaft geführt hat, wer seine Eltern waren und wie sie einander 1933 begegnet sind. Das alles vor dem Hintergrund von Bibliotheken und Verlagen, Buchräubern und Buchsammlern, okkulten Geheimbünden, Siebzigerjahre-Gegenkultur und der Machtergreifung des Nationalsozialismus. Ganz sicher einer meiner komplexesten Romane und auch einer der umfangreichsten.
Andreas (ZWO): Das klingt äußerst interessant. Damit bleibt mir nur, dir weiterhin viel Erfolg zu wünschen und mich für das tolle Gespräch zu bedanken!
Fotographie des Artikelbildes von Stefan Freund