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Guerilla Journalists

Innovativer Investigationsjournalismus

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Kategorie: Pen & Paper

Rollenspiel hat sich schon lange von seinen engen Grenzen befreit. Längst geht es am Spieltisch nicht mehr nur darum, Drachen zu töten oder einen drohenden Schrecken abzuwehren. Und dennoch sind die wirklich innovativen Spiele selten. Guerilla Journalists von Christian Vogt hat das Potential, eines davon zu werden …

Die Grundidee des mit 64 Seiten überschaubaren Heftes ist schnell zusammengefasst: Wir verkörpern eine Gruppe von Journalist*innen, die Skandalen auf der Spur sind und diese enthüllen wollen. Der Fokus des Spiels liegt damit vollkommen auf der journalistischen Arbeit: Informationen beschaffen, Spuren sichern und Storys veröffentlichen. Dabei gilt es zwar auch, den Rückschlägen unserer Widersacher*innen zu entkommen, und es bietet sich Gelegenheit für die ein oder andere Action- oder Verhörszene, Guerilla Journalists ist aber ein fokussiertes Rollen- bzw. Erzählspiel, das nicht den Anspruch hat, Kampagnen aller Art abzubilden, sondern eine spezifische Art von Geschichten besonders gut zu erzählen.

Journalistischer Aktivismus

Wer sich auch nur ein bisschen für Politik interessiert, dürfte es bereits beim Titel erahnen. Guerilla Journalists kommt nicht zufällig mit dem Anarchie-A daher und die Vögte, von denen Christian einer ist, stehen wie kaum ein anderer Name für die deutschsprachige Diskussion um Repräsentation und Diversity im Rollenspiel. Guerilla Journalists stellt da keine Ausnahme dar. Das Spiel ist sowohl vom Thema als auch der Präsentation politisch und versucht gar nicht erst, sich neutral zu halten. Wir spielen kritische Journalist*innen, die Skandale enthüllen und für die gute Sache streiten. Und diese gute Sache bewegt sich hier eindeutig in einem Wertehorizont zwischen Radikaldemokratie und Anarchismus. Unsere Opponenten sind die korrupte Politik, Polizeikräfte oder Konzerne, wenngleich wir das Spiel auch im Fantasy- oder SF-Settings bespielen können. Wir sind die Guten, die korrupte Organisationen zu Fall bringen wollen. Punkt.

Wer diese Konzepte ablehnt und nicht davon abstrahieren kann, der*die muss nicht bis zum ersten Genderstern oder Neopronomen warten, um das Buch entzürnt zur Seite zu legen. Guerilla Journalists ist politisch und richtet sich an Menschen, die mit solchen politischen Idealen mindestens sympathisieren. Wen das nervt, der*die sollte sich einen Gefallen tun und sich andere Spiele anschauen, wenngleich Guerilla Journalists auch aus reiner Rollenspielsicht interessant ist …

Spiel ohne Werte?

Das Heftlein setzt mit einigen wenigen Vorüberlegung zur Rolle von kritischem Journalismus und Sicherheitstechniken am Spieltisch an. Dabei gelingt dem Autor ein griffiger Schreibstil, der nicht ermüdet und schnell zum Punkt kommt. Vieles bleibt nur angerissen, dafür verweist das Heft auf Überlegungen im Internet oder anderen Publikationen. Wir finden also weder eine Erklärung dessen, was Rollenspiel ist, noch allzu lange Ausführungen zur Spielweise. Stattdessen geht es äußerst schnell zur Charaktererschaffung und den Regeln.

Die Charaktererschaffung arbeitet in Anlehnung an City of Mist mit Tags und verzichtet fast vollständig auf Zahlenwerte. Stattdessen arbeiten wir mit der Beantwortung von drei charakterbezogenen Fragen, sechs allgemeinen Fragen an Journalist*innen und einer Schwäche, die wir relativ frei gestalten können.

Die sechs Archetypen von Reporter*in über Sicherheit bis hin zu Verleger*in kommen je mit einem eigenen Satz an Fragen daher. Wie übt ein*e Detektiv*in Druck aus? Wie sorgt die Sicherheit für den Schutz der Truppe, welche Wege wählt der*die Verleger*in zur Veröffentlichung der Storys? 

Wer Indie-Rollenspiele näher kennt, dürfte sich schnell zu Hause fühlen. Durch das Arbeiten mit Fragen entsteht ohne viel Umschweife ein Bild vom Charakter, das sich erst in zweiter Linie mit Regeln beschäftigt. Statt unser Konzept über Umwege numerisch zu interpretieren, dienen die 10 Antworten direkt als sogenannte Tags. Diese werden im Spiel nach kurzer Rücksprache mit der Spielleitung genutzt, um Würfe um je + 1 oder – 1 anzupassen. Passt ein Tag zu der Szene, erhöht er einen Wurf um einen Punkt oder senkt ihn im Falle einer Schwäche um 1. So wird charakterbezogenes, kreatives Rollenspiel gefördert, es gibt aber kein komplexes Ressourcengerüst, das vor Powergaming schützen würde. Es bedarf also einer halbwegs vertrauten und angenehmen Gruppe, der es nicht um möglichst erfolgreiche Würfe geht, sondern um charakterzentriertes Rollenspiel.

Tatsächlich ist mit diesen Tags schon die eine Hälfte des Spiels abgedeckt. Zwar gibt es noch Dramapunkte, um Situationen zu verändern, Vibes, die die Relationen zwischen Charakteren positiv oder negativ verändern, und die Möglichkeit, temporäre Tags zu erzeugen, die lehnen sich aber alle sehr gelungen an die Grundmechaniken an. Erspielte Vorteile oder Wunden werden so etwa problemlos mit Tags abgebildet und fühlen sich frisch und klug an. Ich bin von der Stringenz der wenigen und dafür gut verzahnten Regeln schlichtweg beeindruckt, erspare den Leser*innen dieser Rezension aber eine detaillierte Diskussion, warum Christian Vogt wirklich weiß, was er tut.

Kollaborative Stories

Die zweite Hälfte der Regeln steuern die Story selbst. Guerilla Journalists arbeitet nicht mit Proben und vorgefertigten Abenteuern, sondern mit Spielzügen, wie man sie besonders prominent von Powered by the Apocalypse (PbtA) Spielen kennt (hier gehe ich etwas mehr auf die Idee ein). Für den Investigativjournalismus braucht es dabei gerade einmal sechs (!) Spielzüge, die so flexibel gestaltet sind, dass sie tatsächlich in der Lage sein sollten, eine große Bandbreite an Storys zu erzählen. Wir „lösen Probleme“, erspielen „Vorteile“ in Form von temporären Tags, „gehen in Deckung“, um den Opponenten zu entkommen, „Graben nach Hinweisen“, die wir „sichern“ und „veröffentlichen Storys“, wenn wir genug Indizien beisammen haben.

Wird einer dieser Spielzüge ausgelöst, wird ein Wurf mit zwei sechsseitigen Würfeln um die Anzahl der relevanten Tags modifiziert und so ein Ergebnis abgelesen. Dabei gilt die auch von PbtA bekannte Faustregel, dass ein schlechtes Ergebnis scheitern lässt, ein sehr gutes den vollen Erfolg und alles dazwischen einen Teilerfolg mit Komplikationen bedeutet. Die Resultate gehen meist mit regeltechnischen Effekten einher. Die Spielzüge geben klar an, wann wir Erfahrung sammeln, Komplikationen in die Welt kommen oder wir „Storypunkte“ sammeln. Auch die Komplikationen sind recht klar und abstrakt gelöst. So sammeln unsere Widersachergruppierungen „Rache“, mit der sie uns strafen können, und können „Fake-News“ in die Welt setzen, um unsere Story zu sabotieren.

Wurde eine vorher festgelegte Anzahl an Storypunkten erzielt, wird der finale Spielzug ausgelöst, der den Erfolg einer Geschichte bestimmt.

Die Spielleitung übernimmt dabei die Rolle einer Moderation, entscheidet über den Einsatz von Tags und steuert das Spiel mit Fragen. Tatsächlich bedarf es keiner ausgefeilt vorbereiteten Story, sondern lediglich eines Storyhooks, der das Spiel ins Rollen bringt. Das setzt die Bereitschaft aller Beteiligten voraus, den Skandal im laufenden Prozess auszugestalten und die narrative Autorität der Spielleitung infrage zu stellen. Guerilla Journalists ist nichts für passive Spieler*innen, sondern will eine kollaborative Geschichte erzählen.

Umfang und Erscheinungsbild

Mit 64 Seiten ist Guerilla Journalists vergleichsweise kurz. Es enthält aber tatsächlich alles, was es zum Spielen einer investigativjournalistischen Rollenspielrunde bedarf. Der geübte Schreibstil, sinnvolle Querverweise und ein sehr fokussiertes Thema machen es möglich, das neben den Regeln sogar zwei Beispielsettings – Fantasy (Scherbenland) und Science Fiction (Aces in Space) –, Beispielcharaktere und Storyhooks Platz finden. Sicher, ein paar Beispiele mehr könnten nicht schaden, aber wer etwas Erfahrung im Rollenspiel hat, kann die angebotene Toolbox problemlos nutzen, um wohlstrukturierte Journalismusabenteuer zu spielen. Das bedeutet allerdings auch, dass ich es nach meinem Ersteindruck nicht für ganz unerfahrene Rollenspielrunden empfehlen würde. Mindestens die Spielleitung sollte meines Erachtens etwas Erfahrung mit Rollen- und Erzählspielen mitbringen, um die Runde in Fluss zu halten und die Mechaniken kontrolliert einzusetzen.

Auch das Layout des Buches kann sich sehen lassen. Weitgehend in schwarz-weiß gehalten, nutzt es Fotos, Notizkärtchen und Büromaterialien, um den Inhalt zu strukturieren. Mir gefällt der damit verbundene Charme, es kann aber sicher nicht mit den großen hochwertig illustrierten Rollenspielwälzern unserer Zeit mithalten. 

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