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Das kurze Leben einer immer wieder Sterbenden

Dein wahres Ich erkennt nur eine sterbende Person

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Kategorie: Literatur

Kurz vor dem Tod können Menschen das wahre Ich der Menschen erkennen, die sie umgeben. Diese als Giho bekannten Symbole des Ichs prägen fortan alle Bereiche des Lebens, sei es Beziehungen, Job, Alltag oder das politische Weltgeschehen. Bereits vier Jahre nach Entdeckung dieses Nahtod-Phänomens hat sich die Welt verändert, ganze Geschäftszweige sind entstanden. Sogenannte Grenzgänger sterben beruflich immer wieder, um den Charakter der Menschen zu offenbaren. Katja hat durch die Offenbarung ihres Gihos alles verloren, denn ihrem Verlobten war sie nicht mehr gut genug. Doch das wird nicht die einzige Krise bleiben, die der jungen Frau bevorsteht.

Wir befinden uns in einem westfälischen Dorf, unweit von Münster, in den 1990er Jahren. Katja lebt mit ihrem Verlobten Lars zusammen und arbeitet gezwungenermaßen im Sägewerk des Schwiegervaters. Ihr Studium war in dieser ländlichen Gegend nutzlos und der Job ihre einzige Chance, nicht arbeitslos zu versauern. Irgendwie ist aber eigentlich alles in Ordnung in Katjas Leben, bis Lars sie vor eine Entscheidung stellt: Ohne ihr Giho zu kennen, ohne zu wissen, wer seine Verlobte wirklich ist, wird er Katja nicht heiraten.  

Widerwillig lässt Katja sich darauf ein. Sie weiß genau, dass Lars reiche Eltern dahinterstecken, beide können sie schließlich nicht leiden und hoffen, sie so loszuwerden. Als das Ergebnis des Grenzganges per Post eintrifft, weiß Katja gar nicht, wie ihr geschieht. Ihr Giho und dessen Interpretation ist keine gute, Lars verlässt sie an Ort und Stelle, der Schwiegervater feuert sie einen Tag später aus dem Familienbetrieb und vertreibt sie aus der Wohnung.  

Die Sache mit den Giho-Deutungen ist komplex, es gibt mittlerweile eigene Studiengänge dazu, es ist ein herantasten, ein interpretieren, und jede Kleinigkeit des Gihos ist wichtig für dessen Deutung. Denn jedes Giho ist einzigartig und gleicht keinem anderen. Aber das ist nicht mehr so richtig wichtig für Katja, denn von einem auf den anderen Moment hat sie alles in ihrem Leben verloren. Und sie ahnt nicht, dass die folgenden Tage noch sehr viel mehr Chaos für sie bereithalten werden und sie ihr Wahres Ich dadurch endlich kennenlernt.  

Wie der Nahtod das Leben auf den Kopf stellen kann 

Das Konzept der Gihos, die aus der Nahtod-Erfahrung heraus sichtbar werden, ist der richtungsgebende Handlungsstrang des Buches, der sich erschreckend wunderbar in das Setting der 1990er Jahre einfügt. Im Prinzip ist alles so, wie man die 90er in Erinnerung hat (sofern man halt alt genug ist 😉), nur die Welt ist eigentlich eine ganz andere, denn durch die Gihos scheint vieles auf den ersten Blick einfacher und friedlicher geworden zu sein. Politische Uneinigkeiten können fix begraben werden, wenn man sein positives, vertrauenswürdiges Giho offenbart. Einem starken Giho wird vertraut, somit auch der Person, die es innehat und ihren Versprechungen. Umgekehrt kann es andere Menschen in eine Krise stürzen, so wie bei der Protagonistin Katja.  

Ich glaube, ich hatte selten so viel Mitgefühl mit einem Charakter, wie hier mit Katja. Gerade im ersten Drittel des Buches, das erstmal wenig mit Gihos, Grenzgängen und Sci-Fi zu tun hat. Trotz einer fast klischeehaft drögen deutschen Dorflebensszenerie wird ein Bild des Schicksals einer jungen Frau gezeichnet, die sich freiwillig im Leben zurückgestellt hat, um am Ende wie ein benutztes Stück Klopapier weggeworfen zu werden (nein, das ist nicht Katjas Giho 😉). Und dieser Fall ist tief, wenngleich auch nicht ohne Erkenntnis. Viel zu oft sparen Bücher mit der inneren Reflexion der Charaktere über ihre eigenen Handlungen, was hier zum Glück nicht der Fall ist und Katja so gleich viel authentischer macht. 

Ein bisschen habe ich in diesem ersten Buchabschnitt allerdings die “Action” – also das in der Genrebeschreibung geteaserte paranormale Element des paranormalen Thrillers – vermisst. Das Giho ist zwar der Auslöser für Katjas ... nennen wir es “neuen Lebensweg”, aber erstmal sonst nicht weiter von Belang. Das lässt die Story aber nicht an Spannung einbüßen, denn es passiert unglaublich viel, in einigen späteren Parts sogar fast zu viel, aber nie so, dass es sich nicht stimmig und rund anfühlt. Kurz hatte ich mich bei dem Gedanken ertappt, dass es hier und da schon etwas unrealistisch wird bei dem, was gerade mit Katja geschieht: aber wenn man die Existenz von Gihos und Grenzgängern beim Lesen bereits als vollkommen real auffasst, warum sollte dann etwas anderes abwegiger sein? Der Unendlichen Geschichte oder Harry Potter würde ich das schließlich auch nicht ankreiden, aber gerade bei Contemporary bzw. Urban-Buch-Settings glimmt der Gedanke doch gerne mal auf.  

Aber wieder zum Buch. Der Schreibstil lässt einen ganz gekonnt in die Geschichte eintauchen und sich großartig lesen. Allein die Wahl der Kapitelnamen – wir starten zum Beispiel mit dem Kapitel “47 Minuten, bis alles endet” – halten den Spannungsbogen immer wieder hoch und wir wissen zu jedem Abschnitt genau, wie viel Zeit Katja bis zum Ende noch bleiben wird. Durch diese Einteilung sind auch kleinere Zeitsprünge sinnvoll in die Geschichte eingeflochten, die zum passenden Zeitpunkt Erkenntnisgewinn bescheren. Schon vor dem Fazit kann ich verraten: Mir hat das Buch von Thomas Knüwer super gefallen.  

Fazit 

Das für den Seraph 2022 in der Kategorie “Bester Independent-Titel" nominierte Buch Das kurze Leben einer immer wieder Sterbenden von Thomas Knüwer hat mich sehr begeistert. Katja ist eine facettenreiche und glaubhafte Protagonistin in einer abwechslungsreichen und vielschichtigen Storyline, der im Verlauf noch zwei weitere starke Frauencharaktere an die Seite gestellt werden. Die zuerst recht blauäugig durchs Leben schreitende Katja entwickelt sich überzeugend und manövriert durch die Fallstricke ihres Lebens.  

Das Zentrum all dessen ist dennoch die Existenz der Gihos, die sich nur in einem Nahtod-Erlebnis offenbaren, einzigartig sind und enormen Einfluss auf jeden Lebensbereich nehmen. Allein das Konzept hinter den Gihos bringt Dramatik und Spannung in die Story, die mich das Buch nicht hat aus der Hand legen lassen. Im Zusammenspiel mit einer durchdachten Handlung, unerwarteten Wendungen, vielfältigen Haupt- wie Nebencharakteren hat Thomas Knüwer ein sich nicht in Schubladen steckendes Buch geschrieben, das zum Ende hin noch einmal für eine große Überraschung sorgt. Klare Kauf- und Leseempfehlung! 

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