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VOX – Ohne Worte

Christina Dalchers Dystopie macht wütend – aber nicht so, wie sie sollte

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Kategorie: Literatur

Stell dir vor, du dürftest nur 100 Wörter am Tag sprechen – wozu würdest du sie verwenden? Würdest du dich deinen Liebsten mitteilen? Würdest du protestieren? Würdest du singen oder schreien? Genau vor diese Frage stellt Christina Dalcher die Leserinnen und Leser ihrer Dystopie Vox und ihrer Protagonstin Jean McClellan, denn in einer nicht allzu fernen Zukunft dürfen Frauen nicht mehr als 100 Wörter am Tag verwenden. Zum Schweigen verdammt, werden sie aus erfolgreichen Positionen verdrängt und gezwungen, die Rolle der stummen, genügsamen Hausfrau und Mutter einzunehmen. Doch damit will sich die Neuro-Linguistin Jean nicht begnügen – und bringt eine Reihe verhängnisvoller Ereignisse in Gang.

Make America moral again

Die Ausgangssituation in Vox erinnert stark an Margaret Atwoods herausragende Dystopie Der Report der Magd, sodass auch Leserinnen und Leser nicht umhinkommen dürften, diese Parallele zu ziehen. In Dalchers Amerika wird die Politik von der Bewegung der „Reinen“ vereinnahmt, einer fundamentalistisch-christlichen Bewegung, die die USA in ein puritanisches Zeitalter zurückführen will, in dem die Männer über die Frauen regieren, Homosexualität verfolgt und verurteilt wird und Sexualität höchstens im ehelichen Schlafzimmer zu Zwecken der Fortpflanzung stattfinden darf. Auch Seitenhiebe auf die Regierung unter Donald Trump dürfen dabei nicht fehlen. Um die Frauen endgültig zu entmündigen, werden ihnen Wortzähler aufgebürdet, die wie Schmuck am Handgelenk getragen werden müssen. Einhundert Wörter am Tag sind erlaubt, nicht mehr. Wird das Limit überschritten, setzt es Stromstöße. Klar, dass Frauen unter diesen Umständen gezwungen sind, ihre Berufe aufzugeben, um als schweigsame Hausfrau und Mutter den männlichen Familienmitgliedern zu Diensten zu sein.

Die Protagonistin, Jean McClellan, leidet besonders unter dieser Entwicklung. Als promovierte Neuro-Linguistin forschte sie jahrelang über Sprachverlust, jetzt muss sie mitansehen, wie die Sprachentwicklung ihrer kleinen Tochter Sonia zunehmend depriviert, ihr ältester Sohn Steven die Propaganda des neuen Regimes wie ein Schwamm aufsaugt und ihr Ehemann zum passiven Befürworter des Systems verkommt. Eine vielversprechende Ausgangssituation, die in den ersten Kapiteln des Romans intensive Emotionen weckt. Als Leserin oder Leser leidet man mit Jean, spürt ihren Zorn, ihre Verzweiflung, ihre Resignation. Doch leider bleibt es nicht dabei. Denn als Jean angeheuert wird, ein Gegenmittel für den Bruder des Präsidenten zu finden, der nach einem Gehirnschaden an einer Sprachstörung leidet, verkommt die anfangs so beklemmende Dystopie zu einem mittelmäßigen Thriller, in dem das Grundthema maximal als Hintergrundrauschen zu vernehmen ist.

Weltenbau wie Schweizer Käse

Für mich als Fantasy-Autorin ist Weltenbau eines der Kernelemente, und ich bin immer dankbar, tolle Beispiele für schlüssiges Worldbuilding zu lesen und davon zu lernen. Vox ist leider kein Beispiel dafür. Schnell tun sich Lücken im Gefüge des dystopischen Settings auf, z. B. wie die Wortzähler funktionieren, wie die US-Wirtschaft den Wegfall von weiblichen Arbeitnehmern verkraften kann, wie es zur Entwicklung des totalitären Systems kam und wie die Politik eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger finanziell und technisch bewerkstelligt. Dalcher bietet dafür keinerlei Antworten, sodass sich das Gefühl einer realistischen, glaubwürdigen Dystopie recht schnell verflüchtigt.

Hinzu kommt, dass auch der Plot zahlreiche Ungereimtheiten aufweist. Der Widerstand – den es selbstverständlich geben muss – agiert so plump und unvorsichtig, dass man sich fragt, warum er nicht längst ausgelöscht wurde. Jeans Arbeit an einem Serum zur Heilung von neuronalen Sprachstörungen passt nach meiner Kenntnis über Neuropsychologie maximal in ein futuristisches Science-Fiction-Setting und die Art und Weise, wie Jeans Team bei seinem Forschungsprojekt vorgeht, zieht mir als Wissenschaftlerin die Schuhe aus.

Amore, amore

Das Fass zum Überlaufen bringt allerdings die Lovestory, die Dalcher – vielleicht als Zugeständnis an die weibliche Leserschaft – unnötigerweise in den Plot eingeflochten hat. Jeans Lover Lorenzo ist das perfekte Klischee des heißblütigen Italo-Lovers: attraktiv, maskulin, einfühlsam und ein ausgezeichneter Liebhaber. Allein in seiner Gegenwart scheint die über 40-jährige, verheiratete Akademikerin mit vier Kindern zu einem Teenie-Groupie zu verkommen, die nichts anderes will, als in die überaus männlichen Arme ihres Lovers zu sinken. Echte Emotionen oder Verbundenheit werden zwischen den beiden an keiner Stelle spürbar, es gibt kaum intensive Gespräche, keinen Eindruck in ihre Beziehung, der über Körperlichkeit hinausgehen würde. Trotzdem spricht Jean immer wieder von tiefer, wahrer Liebe, und das obwohl sie über ihren Lover kaum private Details weiß und sogar emotionale Erpressung von seiner Seite toleriert. Wow. Was für ein romantischer Typ. Und das in einer feministischen Dystopie. Ich weiß ja nicht ...

Verschenktes Potenzial

Alles in allem lässt mich Vox vor allem frustriert zurück. Aus einer großartigen Grundidee mit einer wichtigen, bedeutsamen Message wurde ein allenfalls durchschnittlicher Roman, der aufgrund zahlreicher Logiklücken, verspielter Chancen und einer überhastet erzählten, unglaubwürdigen Auflösung (zur Neurochirurgin in 5 Minuten – hier wird es möglich!) weit hinter anderen Vertretern seines Genres zurückbleibt.

So viele spannende Themen hätte Dalcher in den Fokus ihres Romans rücken können, von Sprachdeprivation hin zu politischer Verantwortung und zivilem Ungehorsam, doch davon bleibt leider nicht viel hängen. Die vorhandenen Botschaften werden eher mit dem Holzhammer als mit dem subtilen Geschick einer Margaret Atwood vermittelt und verlieren damit an Wucht und Intensität. Zudem gelingt es Dalcher, jeden spannenden Konflikt im Keim zu ersticken und so zu umschiffen, dass von seiner Tiefe nichts mehr übrigbleibt. Sehr schade.

Von Privilegien, Macht und Verantwortung

Trotz seiner Schwächen bietet Vox aber Potenzial zur Debatte und regt zum Nachdenken an. Wissen wir unsere Privilegien – Sprache, Wahlrecht, Freiheit – überhaupt zu nutzen? Könnten wir mehr tun, um gegen die Verrohung unserer Gesellschaft vorzugehen? Dürfen wir das Feld wirklich den anderen überlassen, im Glauben, schlimmer würde es schon nicht werden? Ist Politikverdrossenheit der Anfang allen Übels? Die Warnung, die von dem Roman ausgeht, ist real – allein die Metoo-Debatte, das Trump-Debakel in Amerika und das Erstarken rechter Kräfte in Europa beweisen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Stimme zu erheben. Ehe wir keine mehr haben.

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