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Nighttrain: Next Weird

Zeitgenössischer Horror

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Kategorie: Literatur

„Es gibt Risse in dieser Welt. Diese Risse werden bewohnt von … Wundern, von denen in unseren Philosophien nicht einmal geträumt wird." – (aus: „Siphon" von Laird Barron)

Weird Fiction dürfte in Phantastikkreisen mittlerweile nichts Unbekanntes mehr sein. Der Begriff bezeichnet eine neue Form der phantastischen Literatur, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam und die sich insbesondere im Pulp Magazin Weird Tales niederschlug. Das Magazin sollte dem Genre rückblickend sogar seinen Namen geben. Autoren wie Lovecraft, aber auch C. A. Smith, Fritz Leiber und Vorläufer wie Arthur Machen oder Algernon Blackwood wurden prägend für diese Modernisierung der Horror-, Fantasy-, und Science-Fiction-Literatur.

Was genau das Genre auszeichnet, ist Teil zahlreicher Debatten, klar ist jedoch, dass sich dieser Trend nicht ohne die damaligen wissenschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Modernisierungen verstehen lässt. Nimmt man das, wie der Herausgeber der vorliegenden Anthologie, ernst, bedeutet das aber auch, das Weird Fiction tot wäre. Ein ewig schlummerndes Ungeheuer, das uns heute kaum mehr aus dem Schlaf reißen kann. Mit einigem Recht wird so im Vorwort die gegenwärtige Lovecraftbegeisterung als Anachronismus kritisiert. Die Fiktionen Lovecrafts, die Großen Alten und Arkham, seien längst ausgewaschene Bilder der Horrorliteratur, die nur mit größter Mühe modernisiert werden können und oft zu einem wenig schauderhaften Abklatsch längst bekannter Motive degenerieren.  Oder wie Herausgeber Reckermann bitter wie treffend kritisiert, gegenwärtiger (cthuloider) Horror besteht allzu häufig aus: „Lovecraft, Blut und Gothizismen. Anders ausgedrückt: Tentakel, Psychopathen, seichter Grusel“.

Aber natürlich ist nicht tot, was ewig liegt. Ein gutes Jahrhundert später erleben wir ganz im Gegenteil ein Revival der Weird Fiction. Und zwar einer Literatur, die mehr sein will als ein Anachronismus und die das Grauen der eigenen Zeit in Worte fassen will. Es handelt sich nicht mehr um Weird Fiction, sondern ein neues Genre, das als New Weird, Weird Renaissance oder eben Next Weird bezeichnet werden kann. Allein an dieser äußerst vagen Terminologie zeigt sich das Problem des Unterfangens. Was genau das Neue an der neuen Weird Fiction ist, was die durchgängigen Motive sind, ist eben noch lange nicht geklärt. Ist vielleicht gar nicht zu klären. Die Nighttrain-Anthologie enthält daher neben Erstübersetzungen von sechs zentralen Weird-Geschichten auch zwei kurze Essays und ein instruktives Vorwort.

Die Geschichten

Zu aller erst ist der Nighttrain-Band aber eine Anthologie. Er versammelt sechs prägnante, meist recht umfangreiche, Kurzgeschichten der wie auch immer zu bezeichnenden neuen Weird-Literatur.

Bereits in der ersten Geschichte – Screamer von T.E. Grau – wird deutlich, dass wir es nicht mit harmloser Kost zu tun haben. In das langweilige Büroalltagsleben des Protagonisten dringt ein sich wiederholender, irgendwie verführerischer Schrei. Nachdem die Langeweile der Lohnarbeit langsam und detailliert entwickelt wird, bricht die Bürowelt wie ein Kartenhaus zusammen. Ohne vorwegzugreifen, schlägt die Geschichte in bildhafte Gewaltszenen um, die fast Splattercharakter entwickeln. Hier wird im deutlichen Kontrast zur handzahmen frühen Horrorliteratur auch zu direkter Sprache gegriffen. Fäkalien, Sex und Gewalt werden offen und in ungeschönter Sprache dargestellt. Dieses Charakteristikum durchzieht letztlich alle Geschichten. Wer vor allzu direkter Wortwahl zurückschreckt, wird an dem Band wenig Freude haben …

Verbannungen von Richard Gavin ist verhältnismäßig zahm. Eine okkult gemahnende Figur, ein Mobiltelefon und soziale Medien sind die Zutaten der kurzen Geschichte. Unerwartete Wendungen machen die Handlung spannend, wenngleich uns die „Auflösung“ mit mehr Fragen als Antworten zurücklässt – ein weiteres Charakteristikum, das alle Geschichten vereint.

Geschäfte von Scott Nicolay treibt den Ekelaspekt auf die Spitze und beschreibt bildhaft den Verfallsprozess eines gescheiterten Protagonisten. Offen werden die sexuellen Triebe des Charakters beschrieben, dessen Absturz in ungeahnte Tiefen führt. Während Geschäfte hier mehr mit Körperfunktionen als der Geschäftswelt zu tun hat, versetzt uns Siphon von Laird Barron in genau diese. Natürlich wären die Geschäftsessen und Objektbesichtungen im ländlichen Kansas nur halb so spannend, wären nicht Forscher des Okkulten Teil der seltsamen Truppe. In fast klassischer Weise wird die Spekulation über den Horror zum Teil der Erzählung, die actionreich, aber mit wenig innovativer Erklärung zu einem verstörenden Schluss kommt.

Christopher Slatsky nimmt sich in Alectryomancer einem etwas anderen Themas an. Vor Wüstenkulisse betrachtet er das Leben hispanischer Arbeiter in einer Zeltstadt, die ihrem harten Alltag bei Hahnenkämpfe entfliehen. Mit erschreckend großer Detailkenntnis kulminiert die Geschichte in einem brutalen Duell zweier Kampfhähne, wenngleich das eigentliche Thema um ein brennendes Pferd und Maschinen kreist.

Flyblown von Timothy J. Jarvis bringt mit einer angenehm trocken beschriebenen lesbischen Beziehung noch etwas mehr Diversität in das weitgehend männlich-weiße Einerlei der Geschichten. Er zeichnet einen Beziehungsabbruch und immer sonderbarer werdende Textnachrichten nach. Mit Rückblicken und detaillierter Darstellung der zentralen Charaktere gelingt es ihm, einen persönlichen Horror zu zeichnen, der jedoch gewohnt blutig endet.

Grau ist alle Theorie?

Kommen wir noch einmal zurück zur Theorie. Sowohl das Vorwort als auch die zwei angefügten Essays stellen sich wiederholt die Frage, was das Weirde der neuen Weird Fiction ist und was die neue Gattung denn jetzt genau auszeichnet. Sowohl das Vorwort von Tobias Reckermann als auch die Gedanken zu ‚N‘ von Jarvis gehen weitgehend literaturhistorisch vor und nähern sich dem Phänomen der Weirdness von der klassischen Weird-Tale her, indem Kernfragen- und Themen identifiziert werden. Reckermann zeichnet den Wandel von der Gothic Novel über den psychologischen Horror Poes zum Realitätsunbehagen neuerer Phantastik nach. Auch Jarvis‘ Gedanken zu ‚N‘ stellen die Frage nach der Gewissheit von Realität in den Mittelpunkt. In seinem dramaturgisch aufgewerteten Essay identifiziert er um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Bruch mit der empiristischen Gewissheit der Aufklärungsphase. Der kulturelle Schock des Ersten Weltkrieges und Paradigmenwechsel in Mathematik, Physik und Kosmologie hätten Gewissheit und den Fortschrittsoptimismus des langen 19. Jahrhunderts untergraben. In dieser Abstraktheit kann das Bild nur bedingt überzeugen. Insbesondere der britische Blick wird der weitgehend amerikanischen Weird Fiction nicht wirklich gerecht. Stärker wird hingegen die folgende Auseinandersetzung damit, wie der Effekt der Weirdness literarisch erzeugt wird. Der Kontrast zwischen extremen Realismus und verstörenden, irrealen Einschüben bestätigt sich problemlos in den vorhergehenden Geschichten der Anthologie. Auch bekommt man durchaus Lust, sich Machens ‚N‘ näher anzusehen, das als Aufhänger des Textes dient.

Aufmachung

Next Weird kommt in relativ großformatigem Softcover daher. So wird nicht nur dem ausgezeichneten surrealen Cover genügend Platz gegeben, sondern auch den Texten selbst Raum gelassen. Die eigentlichen Geschichten sind jeweils in einem großzügigen weißen Textfeld neben satt-schwarzem Rahmen abgedruckt, wodurch das Buch einen auffälligen schwarzen Seitenschnitt bekommt, ohne dass die Lesbarkeit beeinträchtigt würde. Die Essays hingegen sind auf üblichen weißen Seiten abgedruckt, sodass Theorie und Erzählung klar voneinander getrennt sind. Das fällt auf und gibt dem Buch einen eigenen Stil. Auch die jeweils den Geschichten vorangestellten kurzen Autorenvorstellungen sind gut platziert und leiten die Geschichten mit eingeschobenen Titelseiten optisch gelungen ein.

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