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Medusa. Verdammt lebendig.

Die wahre Geschichte einer tragischen Sagenfigur

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Kategorie: Literatur

Die Gorgone Medusa, einst eine Priesterin der Athene, fristet ein Dasein im Verborgenen, seit sie von Poseidon und Athene verflucht wurde. Doch damit ist jetzt Schluss. Nach Jahrtausenden voller Scham und Angst will sie die beiden olympischen Stars vorm Göttergericht anklagen. Denn was die alten Sagen als berechtigte Strafe für eine sündhafte Sterbliche hinstellen, sah in Wahrheit ganz anders aus.

Medusa, die mit ihrem Blick versteinern kann und einen Kopfschmuck aus lebendigen Schlangen trägt, ist völlig in der Gegenwart angekommen. Sie versteckt sich in einem großzügigen Gebäudekomplex mitten in der Karnevalshauptstadt Köln, wo es nicht schlimm ist, wenn sie sich zu seltenen Gelegenheiten doch mal vor die Tür wagt. Ihre Zeit widmet sie der Forschung und gutem Kaffee, und der große Asklepios, immer noch der beste Mediziner der Welt, ist ihr bester Freund.

Eigentlich fehlt es ihr an nichts – wenn da nicht diese leise Stimme in ihr wäre, die nach Freiheit und Selbstbestimmung ruft. Nach Gerechtigkeit. Denn obwohl die Sagen und Legenden etwas anderes behaupten, ist Medusa nicht das Monster, zu dem sie Poseidon und Athene gemacht haben. Sie will die Wahrheit beweisen: Nicht sie hat Poseidon verführt und damit willentlich den Tempel ihrer geliebten Göttin Athene entweiht. Poseidon hat sie sich mit Gewalt genommen, während Athene tatenlos zusah. Und sie anschließend auch noch mit einem Fluch entstellte, der sie in jahrtausendelange Einsamkeit trieb.

Mit der ägyptischen Göttin der Ordnung – Maat – und dem hitzköpfigen Leibwächter und Kriegsgott Horus an ihrer Seite stellt Medusa sich den Schatten der Vergangenheit. Sie klagt die olympischen Götter Poseidon und Athene vor dem internationalen Göttergericht an. Und tritt damit eine Lawine los, deren Ausmaße sie nie vorhergesehen hat. Bald sind sie und ihre Freund*innen in großer Gefahr. Denn selbstsüchtige Götter und Göttinnen klagt man nicht einfach so an.

Göttliches Lesevergnügen

Schon nach dem ersten Kapitel hat mich Lucia Herbsts Debütroman völlig verzaubert. Die Idee, antike Götter und Göttinnen in die heutige Welt zu verpflanzen, erschien mir erst ungewöhnlich, aber sie funktionierte sofort. Dadurch, dass wir Medusas Geschichte in der Ich-Perspektive erleben, sind wir von Anfang an ganz nah an ihr dran. Und damit auch an ihren wundervollen Schlangen. Denn statt diese, wie man es aus der Mythologie kennt, als abstoßende Waffen oder schmückendes Beiwerk zu inszenieren, gibt Herbst den Reptilien Namen und eigene Persönlichkeiten. Sie begleiten Medusa, sie trösten und sie nerven sie, und sie haben meist ganz unterschiedliche Bedürfnisse und Vorlieben. Eine großartige Idee, die mich gleich begeisterte.

Medusa entwickelt sich im Verlauf des Romans aus der abhängigen und hilflosen Opferposition heraus zur selbstbestimmten Heldin, die ihr Schicksal in die Hand nimmt und ihre Geschichte neu schreibt. Und das, obwohl sie die Erste ist, die sich gegen das Unrecht und die Selbstgefälligkeit der griechischen Götter und Göttinnen auflehnt. Damit macht sie sich natürlich Feind*innen. Das Ergebnis ist ein packender Pageturner, den ich beim Lesen kaum aus der Hand legen konnte.

Sagenhaftes Storytelling

Bei Herbst gibt es keine Szenen, die vor sich hinplätschern oder die Handlung nicht vorantreiben. Wir springen direkt hinein und verfolgen dann mit angehaltenem Atem Medusas‘ Weg. Mir war es auf die köstlichste Weise unmöglich, einen Ausstieg zu finden, sogar in schon völlig übernächtigtem Zustand – ich musste unbedingt wissen, ob die Ungerechtigkeiten gegen meine Heldin jetzt endlich aufhören oder noch weitere Gefahren auf sie warten.

Herbst wartet mit Figuren auf, die wir gleich ins Herz schließen oder bewundern, mit Feind*innen, die wir aus tiefster Seele mit-hassen und jeder Menge verblüffenden Plot-Twists. Wer vorher schon ein Interesse für die griechische Sagenwelt hatte, ist bei den vielen Namen anfangs sicher leicht im Vorteil; da es ein Glossar gibt, ist das aber absolut nicht notwendig. Schön ist, dass Herbst sich nicht auf die griechische Mythologie beschränkt – sie bindet Gottheiten aus aller Welt ein, was neugierig macht und vollkommen stimmig wirkt.

Überlebende, nicht Opfer

Das große Thema, das Herbst in den Mittelpunkt ihres Debüts stellt, ist die Missachtung von Frauen in Mythen und Geschichte. Um die Beschönigung und Bagatellisierung von Gewalt. Ja, es geht um Vergewaltigung. Und darum, dass es sehr oft nicht zutrifft, wenn in Sagen und Märchen von weiblicher Verführung oder einvernehmlichem Verkehr die Rede ist.

Medusa wurde gewaltsam von Poseidon missbraucht und zur Strafe auch noch verflucht. Sie wurde in ein Monster verwandelt. Und der Roman zeigt uns auf herzzerreißende Weise, dass die Opfer solcher Verbrechen Außenmeinungen wie diese manchmal verinnerlichen. Als Lesende werden wir damit konfrontiert, dass Medusa fürchtet, ihr Unglück selbst verschuldet zu haben. Dass sie sich schämt. Dass die Täter und auch Außenstehende das Geschehen herunterspielen und sie verspotten oder bevormunden.

Das macht beim Lesen wütend und betroffen – mir kamen an einigen Stellen die Tränen. Herbst setzt diese wichtige und leider auch real-aktuelle Thematik unglaublich sensibel um und engagierte sogar eine Betroffene als Testleserin. Trotzdem ist das Buch nicht “schwer” zu lesen. Es ist bewegend, ja, und packend, aber an vielen Stellen ist es auch humorvoll und herzerwärmend, und eine Prise Romance finden wir auch noch darin.

Und genau das bringt Herbsts Message auf den Punkt: Wer so eine Katastrophe überlebt hat, ist nicht nur Opfer. Und ganz sicher kein Monster. Medusa hat überlebt, und sie kämpft dafür, endlich selbstbestimmt und frei von den erlebten Schrecken leben zu dürfen. Man hat sie verdammt. Na und? Sie ist immer noch verdammt lebendig.  

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