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Kurzgeschichte: Symbiose

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Was passiert eigentlich, wenn ein Haus und seine Besitzerin eine Symbiose miteinander eingehen? Und wie soll das überhaupt aussehen? Das erläutert Julia Annina Jorges in der PAN-Kurzgeschichte des Monats Juli.

Ich verdanke ihr alles. Indem sie mein Leben auf den Kopf stellte, gab sie ihm Sinn. Oder, womöglich treffender: indem sie mich auf die Füße stellte und zwang, meinen Blickwinkel auf die Welt zu korrigieren. Als ich an jenem Wintermorgen durch ihre Tür schritt, schien ein Teil von mir zu ahnen, dass wir einander gehören.

***

Unter dem Torbogen hervortretend, fand ich mich auf einem unaufgeräumten Hinterhof wieder. Gegenüber, im Schatten der alten Stadtbefestigung, fast so, als suche es Schutz vor den größeren Gebäuden, kauerte das Häuschen, das ich zu kaufen gedachte. Alles an ihm war unscheinbar. Der rissig gewordene, ehemals weiße Putz wirkte wie das Gesicht einer in die Jahre gekommenen Frau, die gar nicht erst versucht, ihr Alter durch Make-up zu übertünchen. Die Fensterrahmen gefielen sich in schlichtem Beige-Grau und die hölzerne Tür besaß dieselbe Nicht-Farbe. Das gerundete Walmdach mochte braun oder rot gewesen sein, aber Flechten und Moos hatten es ergrauen lassen. Wie ein kleiner schief gebundener Dutt ragte der Schornstein in die Höhe. Ich mochte es auf Anhieb. Durch seine schräg in den Angeln hängenden Fensterläden zwinkerte es mir zu, und spätestens jetzt gewann ich den Eindruck, ich müsse zurückgrüßen – was ich unverzüglich tat, mit einer Geste, die sowohl das Haus als auch die in der Tür stehende Besitzerin umfasste.

Fräulein Lammfell, die auf der antiquierten Anrede bestand, winkte mir zu. Eine nicht sehr große, rundliche Frau in gestreifter Kittelschürze. Mit ihrem silbernen Haarknoten hätte sie wie das Sinnbild aller Großmütter gewirkt, wären da nicht ihre Augen gewesen. Melancholie lag darin und noch etwas anderes, weniger Greifbares. Trotz ihres Lächelns konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, sie hege irgendeinen Groll gegen mich. Meine Hand schüttelnd zog sie mich ins Innere, wo ich in den engen, lang gezogenen Flur eintauchte wie in einen Schacht. Tatsächlich schienen wir uns, nachdem die Haustür das Tageslicht ausgesperrt hatte, buchstäblich im Innern der Erde zu befinden.

Die Beklemmung verflog, als meine Gastgeberin die Tür zur Küche öffnete, die auf den Hof hinausging und in die sich ein paar Strahlen Wintersonne verirrt hatten. Auf dem Tisch lagen die für den Kauf erforderlichen Unterlagen nebst Energiepass und Grundriss des Hauses, dessen gerade mal sechzig Quadratmeter sich auf zwei Stockwerke und zweieinhalb Zimmer plus Küche/Bad verteilten. Die Kaufsumme, die ich mittels meiner Abfindung sowie niedriger Darlehenszinsen problemlos bestreiten konnte, erschien mir angesichts der sonstigen Immobilienpreise unserer Metropolregion lächerlich gering. Daran änderte auch der Renovierungsbedarf nichts, den das Häuschen aufwies. Neue Tapeten wären das erste – die alten, durchgehend grell gemusterten befanden sich in desolatem Zustand. Gern hätte ich erfahren, nach welchen Gesichtspunkten Fräulein Lammfell potenzielle Käufer auswählte, doch alles, was ich ihr entlocken konnte, war, sie wolle das Haus in guten Händen wissen. Meine Person schien diese Voraussetzung zu erfüllen.

Eine Woche später hielt ich die Schlüssel meines neuen Eigenheims in Händen. Fräulein Lammfells Sachen waren bereits abgeholt worden; die Einrichtung überließ sie mir, da sie keine Verwendung dafür hätte. Während sie Abschied nahm, verstärkte sich der seltsame Ausdruck ihres Gesichts, der mir bei meinem ersten Besuch aufgefallen war. Ihr Körper wirkte geschrumpft, als sie wie geschlagen den Flur entlang zum Ausgang schlurfte. Eine Welle des Mitgefühls überschwemmte mich. Dreißig Jahre lang hatte sie hier gewohnt – verständlich, dass es ihr schwerfiel, das Häuschen einer Fremden zu überlassen. Mein Angebot, sie zu fahren, lehnte sie ab. Bevor sie ging, beschwor sie mich, die Tür hinter ihr zu schließen, um die Übergabe vollständig zu machen. Versponnen, dachte ich, tat ihr jedoch den Gefallen, denn inzwischen hatte ich es eilig, meine eigenen vier Wände ungestört zu inspizieren. Nach all den Streitigkeiten mit Simon, die in der letztlich unausweichlichen Scheidung gipfelten, hoffte ich, hier meinen Seelenfrieden wiederzufinden. Der Schnapper rastete ein. Ich trat ans Küchenfenster, um Fräulein Lammfell nachzusehen, doch sie war bereits fort, erstaunlich schnell für eine Frau ihres Alters und dieser Körperfülle.

 

Auf dem Beet vor dem Haus reckten Schneeglöckchen und die ersten Krokusse ihre Köpfe heraus und begrüßten den in der Luft liegenden Vorfrühling. Ich wandte mich ab, um den Möbelpackern zu öffnen, die meine Habseligkeiten über den Hof schleppten, wobei ihnen das vom Schneematsch rutschige Pflaster den einen oder anderen derben Fluch entlockte. Meine missbilligenden Blicke wurden ebenso ignoriert wie die Bitte, beim Hineintragen der Sachen Vorsicht walten zu lassen. Wahrscheinlich hielten sie besondere Sorgfalt für überflüssig angesichts des Zustands des Hauses. Schon der Flur mit seinen halb abgerissenen Tapeten erweckte nicht gerade einen anheimelnden Eindruck. Die Renovierungsarbeiten hatten sich als schwieriger erwiesen als gedacht; die neue Tapete wollte und wollte nicht halten, selbst Spezialkleber blieb wirkungslos. Was die Küche betraf, war ich bereits dazu übergegangen, die alten Bahnen mit dem Blümchenmuster so gut es ging an der Wand zu fixieren.

Nachdem die letzte Kiste hereingebracht war, verunstalteten mehrere tiefe Scharten den Türrahmen. Mit halbem Ohr lauschten die zwei Männer meiner schüchtern vorgebrachten Klage.

Einer zuckte mit den Schultern. „Gibt so Zeug, mit dem Sie das ausbessern können. Kriegen Sie in jedem Baumarkt. Danach einfach überstreichen.“

Aus einem Grund, den ich mir nicht erklären konnte, machte mich seine Antwort fuchsteufelswild. „Herrgott, wenn es Ihnen an Augenmaß fehlt, schaffen Sie sich eine Brille an. Ich bezahle Sie nicht dafür, mir zusätzliche Arbeit zu machen.“

Kaum war mir der Rüffel herausgerutscht, bereute ich ihn auch schon und zog, in Erwartung der wahrscheinlich gepfefferten Antwort, den Kopf ein. Zu meinem Erstaunen geschah das Gegenteil – zerknirscht räumte man mir einen Preisnachlass ein. Als die beiden gegangen waren, fragte ich mich, womit ich diesen Sieg errungen hatte. Mein ungewohnt resolutes Auftreten? Oder lag es daran, dass ich Make-up aufgetragen hatte und bei der Kleiderauswahl seit Kurzem mehr Sorgfalt als früher walten ließ? Besonders der Jüngere hatte mir ungeniert in den Ausschnitt gestarrt und seltsamerweise hatte es mich nicht im Mindesten gestört. Es war, als breche sich ein Teil meiner Persönlichkeit Bahn, der bisher geschlummert hatte. Ich fasste den Entschluss, diesem Teil eine Chance zu geben und am Abend auszugehen.

 

Er hieß Raimund und bestimmt hatte er auch einen Nachnamen, einen Beruf, Hobbys – irgendetwas, das ihn von der Masse seiner Geschlechtsgenossen abhob, aber es interessierte mich nicht. Ich erinnere mich kaum, wie er aussah, nur an das Muttermal, das auf seiner Oberlippe prangte, fast so groß wie ein Kirschkern. Ich glaube ich nahm ihn mit, weil er mich ein, zwei Mal zum Lachen brachte, aber in erster Linie, weil ich es einfach wissen wollte.

Mitternacht war längst verstrichen, als wir über den Hof auf mein Haus zustapften. Während ich die Tür hinter uns schloss und mir den Schnee vom Mantel klopfte, bat ich ihn, die Schuhe auszuziehen.

„Zu Befehl, Ma’am.“ Auf einem Bein balancierend, salutierte er vor mir, was mich erneut zum Lachen brachte.

Ich holte Wein und zwei Gläser und trug sie ins Wohnzimmer. Beim Verlassen der Bar war ich reichlich angeschickert gewesen, jetzt fühlte ich mich beinahe nüchtern. Ich hatte Angst. Ich wagte mich auf unbekanntes Terrain. Außerdem war mir die scheußliche, grün-braun gestreifte Tapete peinlich. Ich würde sie komplett entfernen und die Wand mit Tiefgrund vorbehandeln müssen. Wo blieb Raimund? Er hatte nur kurz das Bad aufsuchen wollen. Ein Geräusch ließ mich herumfahren. Ich drehte den Kopf und verschüttete etwas von meinem Wein. Im Türrahmen stand Raimund, nackt bis auf die Unterhose. Er grinste.

„Möchtest du was trinken?“ Mir war klar, dass die Frage dumm klang. Wie erstarrt saß ich auf der Sofakante und konnte meine Augen nicht von seinen Boxershorts abwenden. Gelbe Smileys auf weißem Grund.

„Später.“ Er kam auf mich zu und platzierte den einzig verhüllten Bereich seines Körpers vor meiner Nase. „Willst du nicht nachsehen, ob er dir gefällt?“

Ich wich zurück, aber die Grinse-Gesichter folgten meiner Bewegung. Ekel und beginnende Panik schnürten mir die Kehle zu. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, so – direkt.

„Was ist?“, fragte er, während seine Hand einen Weg zwischen meine Schenkel suchte.

Ich wand mich unter seinem Arm hindurch und sprang auf. „Es ist besser, du gehst jetzt.“

Raimunds Lächeln gefror. Mit drei Schritten war er bei mir und packte mein Handgelenk. „Spinnst du? Wieso hast du mich dann mitgeschleppt?“

„Ich weiß auch nicht, es tut mir leid“, stotterte ich und versuchte loszukommen.

„Erst heiß machen und dann rausschmeißen, geht’s noch?“ Sein Gesichtsausdruck wurde lauernd. „Oder ist das bloß ne Masche von dir? Brauchst es vielleicht ein bisschen härter?“ Er drehte mir den Arm auf den Rücken und drängte mich so heftig gegen die Wand, dass eins von Fräulein Lammfells Bildern, eine uralte verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie des Hauses, herunterfiel.

Ich fühlte Raimunds Atem im Nacken, seine Finger, die an meinem Rock zerrten. Mit aller Kraft knallte ich die Ferse gegen sein Knie. Sein Griff lockerte sich, gerade ausreichend, dass ich mich befreien konnte. Als er mir nachsetzte, stieß ich ihn von mir. Er taumelte rückwärts, fing sich halb, stolperte dabei jedoch über die Ecke des Sofas, was ihn vollends das Gleichgewicht verlieren ließ. Hart schlug sein Kopf gegen die Wand. Die Muskeln seines Gesichts erschlafften und ein dümmlicher Ausdruck machte sich darauf breit. Im Zeitlupentempo abwärts rutschend hinterließ er einen roten Streifen auf der Tapete. Der überlange Nagel, an dem das Bild aufgehängt gewesen war, hatte ihn am Hinterkopf erwischt.

Mein Gott, hatte ich ihn umgebracht? Zugleich schoss mir der absurde Gedanke durch den Kopf, die zusätzliche Farbe harmoniere mit dem Muster der Tapete. Ich kicherte, wahrscheinlich schluchzte ich auch. Schweiß rann über meine Haut; war es wirklich so heiß? Raimund lehnte mit ausgestreckten Beinen an der Wand. Ich kniete mich vor ihn, der Geruch seines Bluts stieg mir in die Nase. Seine Augen waren geschlossen,  sein Brustkorb aber hob und senkte sich.

Ich fühlte mich schwindlig. Es war dunkler geworden. Bloß keine Ohnmacht jetzt. Mein Sehvermögen schien beeinträchtigt, alles wirkte verschwommen. Alles, bis auf die Wand vor mir, die ich überdeutlich wahrnahm, jeden Fleck auf der Tapete, jedes Loch, jeden Riss darin. An den Stellen, wo der Putz frei lag, wies er eine löcherige Oberfläche auf, die an Käse gemahnte. Mein Blick glitt über Raimunds Kopf hinweg die Wand hinauf. Überall öffneten sich winzige Poren. Das Blut sickerte in sie hinein wie in einen riesigen Schwamm. Ein Geräusch entstand, das klang, als sauge jemand Reste eines Getränks durch einen Strohhalm. Kam es mir nur so vor oder versank Raimunds Oberkörper tatsächlich Millimeter um Millimeter in der Wand? Ich betrachtete den Vorgang wie einen Film; das gab es nicht, das konnte niemals Realität sein. Raimund wurde in das schwammige Gewebe gezogen. Als wolle die lebendig gewordene Wand ihn umarmen, stülpte sich oberhalb der Fußleiste ein amöbenartiger Fortsatz aus, legte sich um seinen Bauch und vereinigte sich mit der gegenüberliegenden Seite zu einem Ring, der langsam an Breite zunahm. Er verschluckte die Smileys und ich dachte gut so, weg mit den grässlichen Dingern, und außerdem hatte ihr Besitzer sich eingenässt.

Ich hatte nicht erwartet, Raimund würde noch einmal zu Bewusstsein kommen, doch er tat es, fing an zu zucken und sich zu winden. Er schrie. Qual und Todesangst verzerrten seine Stimme, als er mich um Hilfe anflehte und seinen noch unbedeckten Arm nach mir ausstreckte, mein Entsetzen in seinen Augen gespiegelt. Ich konnte keinen Finger rühren, der Albtraum hielt mich gefangen. Raimunds hintere Kopfhälfte war bis zu den Ohren eingesunken und der Prozess schien sich nun zu beschleunigen, unter Malmen und Schmatzen. Ein weiterer Fortsatz tastete nach seinem Mund und drang in ihn ein. Der Schrei brach ab. Sekunden später wurden die Beine hineingezogen, bis schließlich nur noch die Unterschenkel zu sehen waren, dann die Fußspitzen. Einen Herzschlag später hatte die Wand ihr Opfer verschluckt.

Der Gedanke, die nächste zu sein, ließ mich endlich meine Lähmung abschütteln. Ich stürzte zur Tür. Kurz bevor ich mein Ziel erreichte, schoss eine amorphe Extremität, bedeckt mit grün-braunem Streifenmuster, hervor, packte mich um die Taille und zog mich zu dem monströsen Etwas, das sich als harmlose Zimmerwand getarnt hatte. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Ich schloss die Augen, wappnete mich gegen den Schmerz. Er blieb aus. Stattdessen war mir, als würde ich in Watte sinken, die das Mauerwerk ersetzt hatte. Ich glitt hinein.

Hände berührten mich, streichelnd, beinahe zärtlich. Noch immer erfüllt von Angst hob ich die Lider. Durch einen Schleier erahnte ich die Konturen des Zimmers, getaucht in rötliches Licht. Um mich herum breitete sich grenzenloser Raum aus. Lag ich, stand ich? Ich konnte den Fußboden weder fühlen noch sehen, was mich mit neuerlichem Schwindel erfüllte und dem Gefühl, im Mutterleib zu schweben. Dazu passte, dass ich nackt war. Eine unklare Anzahl von Personen befand sich bei mir, ihre Silhouetten verschoben und überlagerten sich. Es mussten Dutzende sein, die meisten drängten sich in meiner Nähe. Ich konnte keine Gesichter unterscheiden, doch es schienen ausnahmslos Männer zu sein, manche schlank, andere korpulent, einige muskulös. Hände tasteten nach mir, schienen erproben zu wollen, welche Art von Berührung mir zusagte. Ich hatte kein Empfinden mehr für oben und unten, noch, wo mein eigener Körper aufhörte und die der anderen begannen. Sie waren überall, an mir, in mir. Es war Wahnsinn … Ekstase … eine Epiphanie des Fleisches.

 

Ich lag auf dem Fußboden. Draußen dämmerte es. Energie pulste durch meinen Körper. Ein Hochgefühl durchströmte mich, das auch dann nicht verflog, als ich mich erinnerte. Ich räkelte mich und streckte die Glieder, genoss, wie geschmeidig sie sich anfühlten.

Meine Sachen blieben verschwunden ebenso Raimund, dessen Kleidungsstücke ich im Bad fand. Ich packte sie in eine Tüte und später am Tag fütterte ich den Altkleidercontainer damit. So unwirklich mir das Erlebte vorkam, gab es einen guten Grund, es nicht als Einbildung abzutun: Während ich schlief, waren offenbar die Heinzelmännchen gekommen, denn die Tapete im Wohnzimmer sah aus wie frisch geklebt, ohne die kleinste Blutspur. Sie besaß haargenau dasselbe Streifenmuster wie zuvor. So hässlich sah sie gar nicht aus, fand ich.

In den nächsten Tagen rechnete ich fest damit, früher oder später müsse die Polizei auftauchen, um mich wegen Raimund zu verhören, aber nichts dergleichen geschah. Zwischen Furcht und Begehren schwankend erwischte ich mich, wie ich mit den Fingern über die Wände strich, darauf hoffend, die toten Mauersteine würden erneut zum Leben erwachen, auf dass mir ihr geheimes Innenleben unvergleichlichen Sinnesrausch bescherte. Ich wartete vergeblich.

Nach zwei Wochen hielt ich es nicht mehr aus. Ich redete mir ein, ich würde die zwielichtige Bar am anderen Ende der Stadt nur aufsuchen, um nicht erkannt zu werden, auf der Suche nach einem Fremden, mit dem ich ein paar angenehme Stunden verbringen konnte. Doch schon als ich mit Patrick zur Tür hereinkam, nachdem das Taxi uns zwei Straßen weiter entlassen hatte, wusste ich, dass ich mich selbst belog.

„He, du tust mir weh!“ Patrick hielt inne und blickte stirnrunzelnd auf mich herab. Diesmal hatte ich mich nicht geziert, wir landeten schnell im Schlafzimmer. Der Akt war nichts als öde, doch ich fand nicht den Mut, den Schritt zu gehen, von dem ich vermutete, er würde das Ersehnte bewirken. Nun aber klebte Patricks Blut unter meinen Fingernägeln; in vorgetäuschter Leidenschaft hatte ich ihm den Rücken zerkratzt. Würde es reichen? Ich streckte die Arme hinter den Kopf, drückte die Fingerspitzen in die fadenscheinige Tapete. Wenig später hörte ich, wie Patrick über mir scharf Luft einsog. Dann stürzte er aus dem Bett und raffte seine Sachen zusammen, ohne die Wand am Kopfende aus den Augen zu lassen. Mich vor der Gefahr zu warnen, hielt er für überflüssig, vielleicht versagte ihm auch die Stimme, jedenfalls stolperte er wortlos zur Tür. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich über mir etwas zurückzog. Dafür bildete sich an der Wand neben dem Ausgang ein Tentakel aus. Das Ding schnellte vor wie die Zunge eines Frosches und zog Patrick mit sich.

Hatte beim ersten Mal Grauen mein Denken gelähmt, sorgte ich mich jetzt, man könne die Schreie in einer der Wohnungen im Vorderhaus hören. Ich stieg aus dem Bett. Auf der Flucht hatte Patrick einen Socken verloren, den ich zusammenknüllte und in seinen Mund stopfte. Hustend und spuckend versuchte er sich davon zu befreien, was ihm nicht glückte, da seine Hände bereits mit der Wand verschmolzen waren. Die Adern an Schläfen und Hals traten hervor, und sein auf mich gehefteter Blick hatte etwas Irres und zugleich Vorwurfsvolles, als er komplett versank. Mit all seiner Kleidung, was das Vertuschen erleichterte. Ich hielt mich nicht weiter mit dem Gedanken an mögliche Konsequenzen auf, sondern schmiegte mich an die Wand, die sich wie ein lebendiger Organismus anfühlte, bereit, mich in jede nur erdenkliche Dimension der Lust zu entführen.

Am nächsten Morgen erstrahlten die schäbigen Wände meines Schlafzimmers im Glanz eines frisch tapezierten Paisley-Musters.

 

Selten kam ich ohne Begleitung heim und Zug um Zug erneuerte sich das Haus. Mein anfängliches Unbehagen löste sich auf und ich begann mich in meiner Behausung heimisch zu fühlen. In dieser Zeit gewöhnte ich mir an, mit ihr zu sprechen, und obwohl ich nie eine wirkliche Antwort erhielt, begriff ich das weibliche Wesen, das ihr innewohnte. Wir wurden Gefährtinnen, Verschwörerinnen. Ich brachte ihr, was sie benötigte, um neue farbenprächtige, gemusterte Tapeten zu gebären, den abgeplatzten Lack an Türen und Möbeln auszubessern und die schadhaften Fliesen im Bad zu erneuern. Im Gegenzug genoss ich körperliche Freuden nie geahnten Ausmaßes durch die Männer, die sie in ihrem Schoß bewahrte. Männer, die meine Vorgängerin und wer weiß wie viele Besitzerinnen vor ihr an sie verfüttert hatten. Dies war nun meine Aufgabe. Ich musste ihr lediglich ein wenig frisches Blut darreichen, das ich meinen Gästen unter Zuhilfenahme des einen oder anderen Tricks abnahm, und einen dazugehörigen Körper, den sie sich einverleiben konnte. Aber sie schenkte mir mehr als das. Ich fand Sicherheit und Geborgenheit. Zuversicht. Wenn ich müde und erschöpft von der Arbeit kam, wenn mich Zweifel quälten ob der Verwerflichkeit meines Tuns oder sonstiger Ärger – alles verflog, sobald ich über ihre Schwelle trat. Kein Missbehagen, keine Krankheit konnten mir länger etwas anhaben als bis zu dem Zeitpunkt, da sie mich in ihre Arme schloss.

Einzig der an mein Schlafzimmer grenzende Nebenraum verweigerte sich der Renovierung. Hatte ich ursprünglich geplant, ihn als begehbaren Kleiderschrank für meine in letzter Zeit ordentlich aufgestockte Garderobe zu nutzen, gab ich es schnell auf. Hartnäckige Kälte herrschte in dem schmalen Gelass. Wenn ich die Tür zum Hauptraum öffnete, schien es, als weigerte sich die Wärme hinüberzuströmen. Einmal lockte ich einen Besucher dort hinein und brachte ihn dazu, auf eine mit Nägeln präparierte Stelle zu treten, doch die kahlen Mauern der Kammer blieben kalt und unnachgiebig. Ich handelte mir lediglich wüste Beschimpfungen und blutige Spuren auf den hölzernen Dielen ein, die ich hinterher wegputzen musste. Sie brachen an der Schwelle zum Schlafzimmer ab, von wo aus sie ihre Fühler nach dem Mann ausstreckte, kaum dass er einen Fuß auf den Teppich setzte. Danach versuchte ich es nie wieder, sondern verschloss die Tür und baute davor einen zweiten Kleiderschrank auf.

  

Irgendwann sah ich, dass das Interieur makellos und nicht mehr zu verbessern war. Äußerlich eine alte Vettel strahlte ihre innere Schönheit umso heller. Ich hatte getan, was nötig war, nun kämpfte ich mit Gewissensbissen. Rechtfertigte mein persönlicher Lustgewinn das Morden? Eine Zeitlang weigerte ich mich. Ich verbot mir, Fremde mitzubringen, und ging zwar weiterhin aus, doch wenn ich jemanden kennenlernte, fuhren wir zu ihm oder nahmen uns ein Hotelzimmer. In manchen Momenten überlegte ich, das Haus wieder zu verkaufen.

Dann hörte ich, dass Simon, mit dem ich fünfzehn Jahre lang verheiratet gewesen war und der nie Kinder gewollt hatte, demnächst Vater wurde. Ich betrank mich in einer Hotelbar und ließ mich vom erstbesten Kerl abschleppen, der mir über den Weg lief. Für ein Zimmer besaß er nicht genug Geld, und als ich aus seinen Ausflüchten heraushörte, dass er eine Freundin hatte, nahm ich ihn mit zu mir.

Wir standen in der Küche und tranken Espresso. Ich verlangte zu erfahren, ob er ein schlechtes Gewissen habe, und als er lachend den Kopf schüttelte, riss ich das Steakmesser aus dem Block auf der Arbeitsplatte und stieß es zwischen seine Rippen. Ich gab ihm keine Gelegenheit zu schreien. Mit einer gewissen Genugtuung beobachtete ich, wie er absorbiert wurde, und stellte mir vor, es wäre Simon. Sein Körper gehörte von nun an dem Haus – und mir. Vielleicht würde ich ihn anhand seines markanten Kinns mit dem Grübchen wiedererkennen, so wie ich Raimund anhand des hervortretenden Muttermals in der gesichtslosen Schar meiner Liebhaber wiedererkannt hatte.

Die Namenlosen umgarnten mich, willkommen heißend, Erfüllung versprechend. Die einzige Erfüllung ist die des Fleisches … ewige Flamme, neu geboren aus der Glut … Lust ohne Regeln, ohne Tabus, ohne Reue. Lust in Ewigkeit, Amen.

Ich überschritt die letzte Grenze moralischen Empfindens; von nun an konnte es keine Rückkehr mehr geben. Simon wurde mir gleichgültig wie der Rest meiner Vergangenheit. Mein Leben entspann sich zwischen Ausschweifung und dem von Vorfreude erfüllten Warten auf die nächste. Selbstverständlich ließ ich Vorsicht walten. Ich verlegte meine Beutezüge in benachbarte Städte und übte mich in Verzicht, bis das Bedürfnis zu stark wurde – oder bis sie Bedarf anmeldete, mittels quietschender Türen, Kacheln, die sich nächtens lösten, um mich aus dem Schlaf zu reißen, und abblätternder Tapeten.

 

So ging es viele Jahre. Als ich älter wurde, schrumpfte die Auswahl an Opfern. Ich ging dazu über, Obdachlose anzusprechen, die ich weniger mit der Aussicht auf Sex, als vielmehr mit dem Versprechen einer warmen Mahlzeit und ein paar Euro zu uns lockte.

Indes erwiesen sich die vermeintlichen Penner als interessierter am Schicksal ihrer Mitmenschen als die früheren Kneipen- und Clubbekanntschaften. Ich hatte eben meinen Gast in ihre immerwährende Umarmung geschickt, als wütendes Klingeln und Klopfen an der Tür erscholl. Angesichts des Radaus hielt ich es nicht für ratsam, den Einlass zu verweigern, und öffnete mit ungutem Gefühl. Draußen standen zwei kräftige Männer, ihrem Äußeren nach Kumpane des letzten Opfers, sowie eine Frau ungefähr meines Alters, aber zerlumpt und hager mit dem Gesicht der gewohnheitsmäßigen Trinkerin. Sie giftete mich an, was ich mit ihrem Freund angestellt habe, während die Männer mich stumm musterten und ins Haus drängten.

„Drei von uns sind in den letzten Monaten verschwunden und jedes Mal haben wir vorher dich mit ihnen gesehen“, sagte der eine. „Wo ist Molle?“

Fieberhaft überlegend kam ich zu der einzig Erfolg versprechenden Lösung. Ich schickte die drei ins dunkle Wohnzimmer, das noch in Aufruhr war von dem vorherigen Besucher. Um sicherzugehen, stieß ich dem hinten Gehenden einen Schaschlikspieß in den Rücken, den ich unter der Kleidung verborgen hatte.

Als das Schreien begann, wurde ich von der Frau überrannt. Die wogenden, zuckenden Wände hatten sie verschmäht und nun suchte sie, kreischend und von Sinnen, ihr Heil in der Flucht. Vergeblich, ich hatte die Haustür verschlossen. Ihre blutunterlaufenen Augen rollten in den Höhlen. Zitternd zog sie eine Schnapsflasche aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Ich beschloss sie gehen zu lassen. Wer würde ihr glauben? Indem ich ein paar Scheine in ihre Hand drückte, bläute ich ihr ein, Stillschweigen zu bewahren.

Hass und Entsetzen vertieften die Furchen ihres verbrauchten Gesichts, derweil sie das Geld einsteckte. „Hexe“, zischte sie, braune Zahnstummel entblößend. „Monster.“

Hinter uns war Stille eingekehrt. Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum. Ihr Blick huschte über den Flur, dann wieder zu mir. „Monster“, sagte sie noch einmal, dann verschmolz sie mit der Dunkelheit.

 

Nun, da sich meine Möglichkeiten weiter verringert hatten, verkam das Haus zusehends. Ich verließ es kaum noch, denn ich litt unter der allgegenwärtigen Angst, die alte Stadtstreicherin könne auf Rache sinnen. Allmählich überkam mich die bittere Erkenntnis, es sei an der Zeit, den Schlüssel weiterzureichen. Ich würde der Stadt den Rücken kehren, würde versuchen sie zu vergessen.

Auf mein Inserat meldete sich eine ganze Reihe Kaufwilliger. Meine Entscheidung fiel auf eine Frau mittleren Alters, alleinstehend, kinderlos, die aussah, als hätte es das Leben nicht allzu gut mit ihr gemeint. Nachdem sie den Vertrag unterschrieben hatte, führte ich sie zur Tür. Sie rümpfte die Nase. „Die Wände könnten aber wirklich frische Farbe gebrauchen.“

Ich lächelte. Mir war weh ums Herz.

***

Es ist der Tag des Abschieds. Ein letztes Mal wandere ich, in Erinnerungen schwelgend, durch die Räume. Meine Nachfolgerin wartet an der Schwelle. Eingedenk der Worte Fräulein Lammfells bitte ich sie, die Türe hinter mir zu schließen. Ich muss das Geräusch hören, wie sie ins Schloss fällt, um einen inneren Abschluss zu finden.

Ich gehe hinaus.

Da ist kein Hinterhof. Kein Torbogen, der mich auf die Straße speit, einer ungewissen Zukunft entgegen. Ich stehe wieder im Haus, die schmucklosen Seiten der vergessenen Kammer umgeben mich. Als ich mich umdrehe, ist die Tür fort. Aus den Wänden strecken sich mir Hände entgegen, winken mich heran. Konturen von Körpern zeichnen sich ab in der grauen, wogenden Substanz.

Weibliche Körper. Sie rücken beiseite, weisen die für mich bestimmte Stelle.

Ich verspüre Erleichterung, ich muss nicht gehen. Sie besitzt meine Seele, meinen Geist. Es ist nur folgerichtig, dass sie auch mein Fleisch besitzt. Hier ist mein Platz, für immer vereint mit denen, die mir vorangegangen sind und denen, die noch folgen werden. Vereint mit ihr.

Ich tauche ein.

Grau umschließt mich.

Dann

Kälte.

 

 

Über die Autorin

Aufgewachsen in der Kaiserstadt Goslar mit ihrer Nähe zum Harz und seinen sagenumwobenen Plätzen, entwickelte Julia A. Jorges früh ein Interesse für Unheimliches und Mystisches, das bis heute anhält. Sprache fasziniert sie, seit sie sich mit fünf Jahren selbst das Lesen beibrachte. Neben einer Vielzahl von Sachbüchern zu naturwissenschaftlichen Themen las sie bevorzugt Abenteuergeschichten, insbesondere von Karl May und Jack London, bis sie irgendwann während der Grundschulzeit im elterlichen Bücherregal auf eine Sammlung unheimlicher Geschichten stieß. In den Bann gezogen, durchforstete sie fortan die Goslarer Stadtbibliothek systematisch nach verwandtem Lesestoff. Beruflich experimentierte sie in verschiedenen Bereichen, bis sie sich 2015 für die Selbstständigkeit entschied. Seitdem arbeitet sie als freie Texterin und Autorin, daneben übernimmt sie Lektorats- und Korrektoratsaufträge.

Verbindendes Element ihrer Romane und Kurzgeschichten ist das Fantastische, das mal offensichtlich, mal eher hintergründig zutage tritt.

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