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Kurzgeschichte: Finding Home

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Phineas und seine Tochter fliehen in einem Luftschiff vor dem Krieg. Doch ein Donnern kündigt neues Grauen an: Sie stürzen ab. Ob die Flucht schlussendlich gelingt, lest ihr in der PAN-Kurzgeschichte des Monats von Laura Dümpelfeld.

Ein Donnern durchlief den hölzernen Rumpf der Divinia. Es ließ den Boden unter Phineasʼ Füßen vibrieren und schickte eisige Schauder über seinen Rücken.

»Dad …« Trishas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als sie sich in seinen zerschlissenen Mantel krallte und ihr Gesicht an seiner Brust verbarg. »Ich hab Angst.«

Phineas legte den Arm um seine Tochter und presste sie an sich. Sie war alles, was ihm geblieben war.

»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte er leise. »Es ist nur ein Gewitter.«

Wieder lief ein Vibrieren durch den Rumpf des Luftschiffs und brachte die eng aneinander gedrängten Menschen zum Wimmern. Die Divinia war nicht dafür ausgelegt, so viele Menschen zu fassen; dicht an dicht hockten sie im dunklen Frachtraum. Die Luft stank nach Furcht und menschlichen Exkrementen und Phineas hätte alles für einen frischen Hauch gegeben.

Er spähte durch eines der Bullaugen, die in weiten Abständen in Kopfhöhe in die Außenwand des Schiffs eingelassen waren.

»Sieh nur«, versuchte er, seine Tochter abzulenken. »Man kann schon den Turm sehen.«

Trisha hob scheu den Kopf und blickte ebenfalls aus dem kleinen runden Fenster.

Durch die stürmisch aufgepeitschten Regenkaskaden des Unwetters konnte man eine dürre Silhouette gegen den Abendhimmel ausmachen. Ein metallenes Gerippe, das sich in den von bleigrauen Wolken verhangenen Himmel erhob wie vier Hilfe suchend in die Höhe gereckte Hände, deren geborstene Finger von Vergängnis und Verfall kündeten.

»Sie haben ihn nie fertiggestellt«, erzählte Phineas und hauchte seiner Tochter einen Kuss auf den Scheitel. »Er sollte noch höher werden; der höchste Turm, den die Menschheit je gesehen hat.«

»Noch höher?«, staunte Trisha und betrachtete das stählerne Gebilde.

»Fast hundertfünfzig Meter fehlten noch zu seiner Fertigstellung.« Phineas nickte. »Aber dann kam der Krieg und man benötigte das Eisen und den Stahl an anderer Stelle. Und die Weltausstellung wurde ohnehin abgesagt.«

Je näher sie dem Turm kamen, desto mehr Details ließen sich ausmachen. Die vier breiten Stützen wölbten sich in majestätischen Bögen über dem Marsfeld und verjüngten sich nach oben hin zu einem filigranen Geflecht aus stählernen Streben. Ein halbes Dutzend Luftschiffe waren an den höchsten Auswüchsen des Turms vertäut. Ihre bauchigen Körper schwankten im Sturm wie betrunkene Seeleute.

»Bleiben wir lange hier, Dad?«, fragte Trisha flüsternd.

Phineas zögerte.

»Wir werden sehen«, erwiderte er mit belegter Stimme. Er brachte es nicht übers Herz, seiner Tochter zu sagen, dass sie vermutlich für immer hierbleiben würden, ebenso wie die übrigen gut dreihundert Flüchtlinge, die sich ringsum im Schiffsbauch der Divinia zusammenkauerten. Dass England, ja, das ganze vereinigte Königreich verloren war. Dass die giftigen Waffen der Alchemisten die meisten Landstriche verseucht und entvölkert hatten. Dass dort nichts mehr lebte außer den Tausenden von Mutanten, die die letzten Städte überrannten. Dass ihre Heimat nicht mehr existierte. Dass Hammersmith, der kleine blühende Ort vor den Toren Londons, vermutlich nur noch eine Trümmerwüste war, über der ein giftiger Todeshauch schwebte.

Sie würden nicht zurückkehren.

Sie hatten ihr Zuhause für immer verloren.

Aber wie sollte er das seiner Tochter begreiflich machen, ohne sie in abgrundtiefe Verzweiflung zu stürzen?

In diesem Moment zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft. Für einen Augenblick erhellte ein greller Lichtblitz den Frachtraum und die Divinia sackte mit einem plötzlichen Ruck nach unten.

Menschen schrien. Phineas sah Bündel und Rucksäcke durch die Gegend schleudern und Passagiere sich aneinander festklammern. Kinder weinten, als das Luftschiff unangenehm zu ruckeln begann und sich in eine immer bedenklichere Schräglage neigte.

»Dad!«, wimmerte Trisha und klammerte sich an ihn.

»Schhhh!«, machte Phineas und hielt sie, so fest er konnte, während er sich umsah. »Alles wird gut.«

Durch das Bullauge konnte er sehen, dass die Lichter der zerstörten Stadt unter ihnen schnell näher kamen. Zu schnell.

Dann knackte es über seinem Kopf und eine blechern verstärkte Stimme ertönte.

»Achtung, Achtung! Hier spricht Captain Smithers! Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir wurden von einem Blitz getroffen, der einen der Aethertanks beschädigt hat. Wir werden eine Notlandung einleiten müssen. Bleiben Sie auf Ihren Plätzen und schützen Sie nach Möglichkeit Kopf und Nacken. Gott helfe uns allen.«

Auf die Worte des Captains folgte haltlose Panik. Die Leute schrien durcheinander und es entstand ein Gerangel um die Plätze an den Wänden, die vermeintlich mehr Schutz boten.

»Dad!«, schluchzte Trisha wieder und Phineas spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte.

»Ich bin hier, mein Schatz«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich passe auf dich auf.«

Immer heftiger wurden sie durchgeschüttelt und ein unheilvolles Knarzen und Knacken ertönte unter ihren Füßen, als bräche der Rumpf entzwei.

Uns wird nichts passieren, dachte Phineas und schloss die Augen, während er seine Tochter an sich presste. Wir werden sicher landen, uns wird nichts passieren.

Schreie. Krachen. Splittern. Lautes Kreischen und Knarzen. Regen, der ihm schneidend ins Gesicht peitschte, als der Rumpf der Divinia barst. Eisiger Wind, der ihm unter den zerschlissenen Mantel fuhr und bis in seine Knochen drang. Trisha, die sich weinend und schluchzend an ihn klammerte.

Und dann ein Schlag gegen seinen Kopf, der ihn dem Hier und Jetzt entriss und in die Finsternis hinabstürzte.

 

Der Aufprall kam plötzlich.

Trisha schrie, als sie durch das sterbende Schiff geschleudert wurde, fort von ihrem Vater, hinein in Dunkelheit und schreiende Menschen. Splitternd fraß die Divinia sich in den Untergrund, fräste eine Schneise in die zerstörte Stadt, bis sie mit einem letzten, tiefen Seufzer verendete und reglos liegen blieb.

Für einen Herzschlag war es einzig das Heulen des Sturms, das Trisha an die Ohren drang. Dann wurden panische Stimmen laut.

»Los, raus hier –«

»Mom! Mom, sag doch –«

»Ich kann meine Beine nicht bewegen –«

»Hilfe, bitte, helft mir doch –«

»Wir müssen weg –«

»Nein, wartet, wo ist –«

»Was, wenn das Schiff explodiert?«

Irgendjemand packte sie am Arm und zog sie auf die Beine.

»Komm, Mädchen, nichts wie raus hier.«

Über geborstene Holzplanken und reglose Körper hinweg stolperte Trisha dem Unbekannten hinterher. Die Menschen drängten aus der zerschmetterten Hülle der Divinia hinaus in das Unwetter. Trisha sah sich panisch nach allen Seiten um. Wo war ihr Vater? Sie versuchte vergeblich, sich dem Griff der Hand zu entziehen, die sie festhielt.

»Nein!«, schrie sie verzweifelt. »Dad! Dad!«

Sie erhielt keine Antwort. Schluchzend taumelte sie weiter, über Geröll und unebenen Boden, umringt von fremden Menschen, die hektisch von dem Wrack fortdrängten, ohne ein klar ersichtliches Ziel. In ihrem ganzen Leben hatte Trisha noch nie solche Angst gehabt. Nicht, als der Krieg Hammersmith überrollt hatte, nicht, als ihre Mutter gestorben war. Wo war ihr Vater? Warum antwortete er nicht?

Ein Blitz zerriss den sturmumtosten Abendhimmel und erleuchtete für einen Augenblick zerstörte Fassaden und eingestürzte Dächer, Berge aus Schutt – und einen gewaltigen Krater direkt vor ihnen. Rufe wurden laut und die Menschen drängten nun noch hektischer weiter.

»Dort vorne, seht ihr das?«

»Ein Licht! Dort sind Menschen!«

Rennende, stolpernde Füße, der eiserne Griff der Hand, die sie weiterzog. Regen und schneidend kalter Wind, der sie zittern ließ. Dann ging es bergab, über schlüpfrige Holzplanken und noch mehr Schutt und Geröll.

Mit einem Mal war der Regen fort und um sie her war schwaches gelbliches Licht. Dumpfe Schritte auf festem Boden. Als Trisha den Kopf hob und sich umsah, packte sie nacktes Grauen.

Da waren Schädel. Hunderte von bleichen Schädeln, die zwischen Bergen aus Knochen und Gebein auf sie herabgrinsten. Schatten tanzten über die Totenköpfe, als bewegten sie sich, neigten sich zu ihr hinunter. Starrten sie aus ihren leeren Augenhöhlen gehässig an. Flüsterten, tuschelten, beobachteten sie. Hohles lautloses Kichern, dessen Echo von den Knochenwänden weitergetragen wurde.

Sie hatten sie in die Hölle geführt.

Trisha schluchzte auf und kniff die Augen zusammen, um den grauenvollen Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Blind stolperte sie weiter, gezogen von der Hand des Fremden, eingekeilt zwischen durchnässten Leibern fremder Menschen, und in ihrem Nacken glaubte sie noch immer die bösen Blicke der Totenschädel zu spüren.

Jetzt gehörst du uns, flüsterten sie ihr zu. Wir werden dich kriegen.

Irgendwann hielten sie an. Die Hand, die sie festgehalten hatte, ließ sie los und jemand ging vor ihr in die Hocke.

»Alles in Ordnung, Mädchen?«

Sie blinzelte und blickte in das besorgte Gesicht eines alten Mannes mit Falten und grauem Bart. Als sie den Kopf wandte, sah sie noch mehr Knochen und Schädel an den Wänden ringsum.

»Wo ist mein Dad?«, fragte sie.

Der alte Mann runzelte die Stirn.

»Wenn er nicht hier ist, hat er den Absturz vermutlich nicht überlebt, Kleines.«

Trishas Lippen begannen zu zittern und sie schlang die Arme um die Brust. Ihre Kehle wurde eng und ihr Blick trübte sich, als Tränen in ihre Augen drängten.

»Nein!«, rief sie trotzig und schüttelte die Hände des Mannes ab. Das konnte nicht sein! Ihr Vater konnte nicht tot sein, er konnte nicht! Ehe der Alte erneut nach ihr greifen konnte, hatte sie sich umgedreht und war losgerannt, den unheimlichen Tunnel entlang zurück. Ihr Vater lebte noch, das wusste sie! Sie musste ihn nur finden.

Nun erst sah sie die Menschen, die überall auf dem Boden saßen und lagen. Sie hatten eingefallene schmutzige Gesichter und zerschlissene Kleidung. Dünne mehrfach geflickte Decken lagen über ihren Schultern und sie starrten sie aus tief liegenden Augen an, als Trisha vorbeilief. Sie machten ihr Angst. Fast noch mehr als die Knochen und Schädel ringsum. Aber sie musste tapfer sein! Sie musste ihren Vater finden! Immer wieder rief sie nach ihm, doch sie erhielt keine Antwort. In ihrer Verzweiflung sprach sie schließlich einen der Männer an, die auf dem Boden hockten. »Bitte, haben Sie meinen Dad gesehen?«

»Barre-toi, sale gosse«, grunzte der Mann und spuckte auf den Boden – und Trisha machte, dass sie weiterkam.

Und dann stand plötzlich ein Mann vor ihr. Groß war er und seine Haut war so dunkel wie Ebenholz. Eine Schiebermütze saß schief auf seinem Kopf.

»Na, wen haben wir denn hier?« Er wuschelte mit einer seiner großen Hände durch ihre roten Locken. »Bist du etwa ganz alleine, meine Kleine?«

Ein breites Grinsen teilte sein dunkles Gesicht, als er sich zu ihr hinunterbeugte.

 

Kälte.

Alles war Kälte.

Zäh und widerwillig kehrte Phineasʼ Bewusstsein zurück.

Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Quälend langsam erlangte er die Gewalt über seine Gliedmaßen zurück.

Er lag auf dem Rücken. Etwas Hartes und Scharfes stach ihn in die Seite und als er sich bewegte, zuckte heißer Schmerz durch seinen Körper.

Um ihn her war Finsternis.

Trisha!

Die Furcht jagte durch seine Venen und brachte ihn schlagartig zu sich. Seine Tochter! Wo war sie?

»Trisha!«, hustete er und richtete sich langsam und keuchend auf alle Viere auf. Nasses, glitschiges Holz unter seinen Fingern. Wasser in seinem Nacken, das seinen Hals hinabrann. Regen, der ihm ins Gesicht schlug. Und ein brennender Schmerz in seiner Seite.

»Trisha, wo bist du?« Wieder hustete er, seine Stimme ein klägliches Krächzen gegen das Pfeifen des Windes und das Prasseln des Regens.

Schweigen antwortete ihm.

Lautes heulendes Schweigen.

Taumelnd kam er auf die Beine, zitternd, unsicher, und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen.

Nichts.

Nur tiefste Dunkelheit ringsum.

Ein Blitz zuckte durch die stahlgrauen Wolken und hüllte seine Umgebung für einen Augenblick in gespenstisches weißblaues Licht. Schemenhafte deformierte Silhouetten erhoben sich ringsum; die Kadaver von ehemals hohen und stolzen Gebäuden. Und dazwischen, wenige dutzend Schritte entfernt, der geborstene Leib der Divinia. Er musste aus dem Wrack geschleudert worden sein. Phineas biss die Zähne zusammen und kämpfte sich, den Schmerz in seiner Seite ignorierend, über die Schutthaufen hinweg zu den Überresten des Luftschiffs. Ein weiterer Blitz durchschnitt die Nacht und er konnte einzelne reglose Körper inmitten des Wracks erkennen; jene, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie er. Ein kurzer Moment der Panik überkam ihn, als er glaubte, Trishas roten Schopf zwischen den Leichen zu sehen; doch es war nicht sie, nur eine fremde Frau, deren Leben in dieser trostlosen Ruinenstadt ein vorzeitiges Ende gefunden hatte.

»Trisha!« Phineasʼ Stimme gewann an Stärke, doch das Heulen des Sturms schluckte sie wie ein hungriger Wolf.

Verzweiflung stieg in seiner Kehle auf.

Er hatte es Mary versprochen – geschworen! »Ich werde sie beschützen!«, hatte er gesagt, ihre bleiche kraftlose Hand haltend. »Mit meinem Leben!«

Er musste Trisha finden, er musste, musste!

Ein schwacher Lichtschimmer. Nicht mehr als ein blasses gelbliches Flackern im Nirgendwo, aber doch etwas. Mit zittrigen Beinen taumelte Phineas darauf zu. Der nächste Blitz gab einen Krater inmitten der Ruinen preis, eine Wunde, tief in die Haut der Erde gerissen, eines der Überbleibsel des verheerenden Krieges, der die Welt an den Rand der Vernichtung getrieben hatte. Ein behelfsmäßig angelegter Pfad aus hölzernen Planken führte in einer enger werdenden Spirale hinab in den Krater, hin zu dem schwachen gelblichen Lichtschein in seiner Mitte.

Schlitternd und rutschend bahnte Phineas sich seinen Weg in die Tiefe, über die vom Regen glitschigen Bretter und groben Schutt, bis die Lichtquelle in Reichweite rückte. Ein Zugang zu einem Tunnel, aufgerissen durch rohe Gewalt, frei gesprengt durch was auch immer den Krater verursacht hatte. Während der Schmerz in seiner Seite pochte, kletterte Phineas über den Geröllhaufen an der Öffnung hinweg und ließ sich den letzten halben Meter auf den Boden des schwach erleuchteten Gangs fallen. Als er den Kopf hob, stockte ihm der Atem.

Er hatte Wände aus rohem Fels erwartet, Mauerwerk vielleicht. Stattdessen grinste ihm im schwachen Licht einer Laterne eine Armee menschlicher Schädel entgegen, die die Wände ringsum überzog. Dazwischen, fein säuberlich aufeinander geschichtet, entdeckte Phineas zu seinem Entsetzen weitere Gebeine – Rippenbögen und Wirbel und Oberschenkelknochen, die sich zwischen die Schädel schmiegten.

»Oi! Regarde tes pas!«, ertönte eine gereizte Stimme von unten. Phineas fuhr zusammen. Direkt neben seinem Stiefel lag ein Mann, eingewickelt in eine zerschlissene und mehrfach geflickte Wolldecke. Sein Haar und Bart waren ungepflegt und seine Kleidung heruntergekommen. Und er war nicht der Einzige hier unten; als Phineas seinen Blick durch den von schwachem Laternenlicht erhellten Knochengang wandern ließ, entdeckte er mehrere solcher Lager entlang der Wände. Hier unten hausten Menschen. Rasch eilte er weiter und hörte im Laufen, wie der Stadtstreicher ihm ein ungehaltenes »Sombre idiot!« hinterherrief.

War Trisha hier entlanggekommen? Hatten die anderen Flüchtlinge sie mitgenommen? Oder hatte sie einer von den Leuten hier unten verschleppt? So oder so, er musste weiter, er musste sie finden.

Mit wachsender Angst bahnte Phineas sich seinen Weg durch die immer dichter werdenden Schlaflager. Hier lagen Männer und Frauen gleichermaßen, selbst ein paar Kinder entdeckte er zwischen den zerschlissenen Decken. In der verzweifelten Hoffnung, jemand könnte Trisha gesehen haben, versuchte er, mit den Leuten zu sprechen.

»Verzeihen Sie – Entschuldigung –«

»Je ne parle pas anglais.«

»Haben Sie meine Tochter gesehen? Ich such meine Tochter –«

»Casse-toi, canaille!«

»Bitte, können Sie mir helfen – irgendjemand –«

»Laissez-moi tranquille!«

»Sprechen Sie meine Sprache?« Händeringend blickte Phineas sich um und blieb stehen. »Spricht hier irgendjemand Englisch?«

Abweisende Blicke antworteten ihm. Der Gang weitete sich hier zu einem großen Raum, von dem mehrere andere Tunnel abzweigten, allesamt voller Menschen auf behelfsmäßigen Lagerstätten. Und überall reihten sich diese grausigen Schädel und Knochen an den Wänden übereinander. Verzweifelt drehte Phineas sich von einer Seite zur anderen. Wo lang jetzt? Welchen der Gänge sollte er nehmen?

»Trisha!«, rief er flehend, »Trisha, wo bist du?«

Die einzige Antwort, die er erhielt, war ärgerliches Schimpfen auf Französisch, doch es war ihm gleich. Was kümmerte ihn die Nachtruhe der Leute? Er musste Trisha finden, das war alles, was zählte. Er spürte, wie seine Kehle eng wurde. Wenn ihr etwas zugestoßen war! Immer wieder rief er ihren Namen, eilte jeden der Gänge ein paar Meter entlang, nur um anschließend in den großen Raum zurückzukehren. Er durfte nicht riskieren, sich in diesem Labyrinth zu verirren. An seiner Seite wurde das schmerzhafte Pochen stärker, doch er achtete nicht darauf. Das war unwichtig. Da hörte er es. Ganz leise, aus dem Tunnel zu seiner Linken: »Dad!«

»Trisha!« Jetzt schrie er. Er lief, rannte den Gang entlang. »Trisha, ich komme!«

Vorbei an grinsenden Schädeln und bleichen Knochen und schimpfenden Franzosen rannte er, und dann sah er sie: Ihr rotes Haar leuchtete im Licht der Laternen und der dunkelgrüne Reisemantel flatterte hinter ihr her.

»Dad!« Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, als sie auf ihn zu rannte und sich ihm in die Arme warf. Phineas fing sie auf und hielt sie, hielt sie so fest, als wollte er sie niemals wieder loslassen.

»Ich dachte, ich hätte dich auch verloren«, flüsterte er und strich ihr über die vom Regen feuchten Haare.

»Dad, ich hatte solche Angst«, schluchzte sie an seiner Brust.

»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß«, sagte er. »Jetzt bin ich ja da.«

»Ich konnte dich nicht mehr sehen und – und dann sind alle aus dem Schiff gerannt und haben mich mitgerissen und dann waren wir hier unten und keiner wollte mir helfen und ich bin losgelaufen, um dich zu suchen und – und dann hat mich Jim gefunden und getröstet und gesagt, dass er mir hilft.«

»Wer ist Jim?«

Trisha löste das Gesicht von seiner Brust und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie wandte sich um und winkte einen Mann mit dunkler Haut heran, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte.

Phineas richtete sich wackelig auf. Er musterte den Fremden von Kopf bis Fuß. Sein grobes Hemd war an den Säumen ausgefranst und die Hose hatte zerschlissene Knie. Dicht gelocktes schwarzes Haar lugte unter seiner Schiebermütze hervor und um die rechte Schulter hatte er eine große speckige Ledertasche gehängt.

»Sie haben sich also um meine Tochter gekümmert.« Phineas zog Trisha dicht an sich.

Der Mann namens Jim verzog seinen breiten Mund zu einem schiefen Grinsen.

»War ganz allein hier unten, die Kleine«, sagte er. »Is kein guter Ort für ein Kind.«

»Ich schulde Ihnen Dank«, erwiderte Phineas höflich, den Arm fest um Trishas Schultern gelegt.

»Sollten sich vielleicht ne bessere Bleibe suchen«, setzte Jim mit Nachdruck hinzu. »Is generell kein guter Ort hier.«

»Danke für Ihren Rat«, antwortete Phineas steif und nickte dem Fremden zu. »Wir …«

Es war, als kippe der Boden unter seinen Füßen. Seine Beine versagten den Dienst und Phineas fiel auf die Knie.

»Dad!« Trishas angsterfüllte Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er griff sich an die Seite, und als er die Hand zurückzog, glänzte sie rot. Schwäche übermannte ihn und das Letzte, was er hörte, war das Schreien seiner Tochter.

 

Dumpfe Stimmen drangen an sein Ohr und es dauerte eine Weile, ehe er einzelne Worte heraushören konnte.

»Er wirdʼs schaffen. Nen großen, starken Kerl wie deinen Vater, den haut so leicht nix aus den Stiefeln.«

»Wie lange muss er noch schlafen?«

»Lange genug, dass er sich erholen kann. Das war ne ziemlich schlimme Wunde, weißt du. Er hat viel Blut verloren. Da dauert es ne Weile, bis man wieder aufstehen kann.«

»Aber er wird wieder aufstehen, oder? Ganz bestimmt?«

»Ganz bestimmt. Großes Ehrenwort.«

Phineas blinzelte.

Zunächst sah er nichts als unscharfe Schemen, bis sich etwas kupfern Schimmerndes herausschälte.

»Trisha«, flüsterte er.

»Sieh nur, ich glaub, er kommt zu sich.«

»Dad! Dad, hörst du mich?«

Er blinzelte erneut.

Da war Trishas Gesicht. Direkt vor ihm. Er lächelte.

»Trisha«, flüsterte er wieder. »Mein Schatz.«

»Wie gehtʼs Ihnen?«

Ein zweites Gesicht rückte in sein Blickfeld, dunkel und fremd. Langsam kroch ein Name in sein Bewusstsein. Jim.

Er wandte den Kopf. Es fiel ihm schwer, seine Umgebung zu erkennen.

»Was ist geschehen?«, fragte er schwach und versuchte, sich aufzurichten. »Wo bin ich?«

»Wir sind auf seinem Schiff, Dad!« Trisha strahlte ihn an. »Ist es nicht toll?«

»Sie sind umgekippt«, erklärte Jim und half ihm vorsichtig dabei, den Oberkörper aufzurichten. »Haben sich wohl beim Absturz ne verdammt üble Wunde zugezogen. Sah aus, als hätte irgendetwas Sie aufgespießt. Ich hab Sie, so gut es ging, zusammengeflickt, aber das wird noch ne Weile dauern, bis Sie wieder auf dem Damm sind.«

Phineas versuchte, die Worte zu begreifen. Seine Hand fuhr an seine Seite und er spürte etwas Weiches. Als er an sich hinabsah, erblickte er einen dicken Verband, der sich um seine Taille wand. Plötzlich klang ihm wieder in den Ohren, was Trisha gesagt hatte.

»Was für ein Schiff?« Erneut sah er sich um. Im schwachen Schein einer einzelnen Laterne schälten sich Dampfkessel, Metallrohre und Ventile aus dem Zwielicht seiner Umgebung. Ein Maschinen-
raum?

Jim folgte seinem Blick.

»Hab das Schmuckstück hier vor ner Weile entdeckt«, erklärte er. »Ein alter Transporter. Dragonfly-Klasse. Is wohl in den letzten Kriegswirren aufgegeben worden. Da war ja totales Chaos hier. Hab gehört, unten an der Küste kämpfen sie teilweise immer noch.«

Phineas musterte die Maschinen ringsum. Soweit er das im Dämmerlicht beurteilen konnte, waren sie noch unversehrt. Er konnte nicht anders: er wurde neugierig.

»Fliegt es?«, fragte er.

»Vielleicht«, lautete die vage Antwort. »Habʼs noch nich getestet. Die Maschinen laufen, so viel is sicher. Hab ein wenig dran rumgeschraubt und hier und da was ersetzt. Aber ich kann das Ding nich fliegen.«

»Du kannst es aber fliegen, oder, Dad?«, warf Trisha ein.

»Ihre Tochter sagt, Sie sind Aeronaut.« Jim musterte ihn prüfend.

»Ich war Aeronaut«, korrigierte Phineas. »Das war vor dem Krieg.«

»Aber Sie können es noch?«, fragte Jim.

Phineas schwieg. Dann schickte er sich an, aufzustehen.

»Ich will mir das gute Stück mal an Deck ansehen«, sagte er.

»Sind Sie sicher? Sie sind noch lange nich wieder fit«, gab Jim zu bedenken.

»Dessen bin ich mir bewusst. Aber ich möchte mehr von diesem Schiff sehen als nur den Maschinenraum«, antwortete Phineas mit Nachdruck.

 

Jim führte Phineas und Trisha aus dem Maschinenraum hinaus und einen schmalen Flur entlang, an dessen Ende eine steile metallene Leiter in die Höhe führte. Mit einiger Anstrengung erklomm Phineas sie und auch die nächste, die in einen kleinen Aufbau an Deck des Luftschiffs führte. Durch eine Metalltür traten sie schließlich hinaus auf das weitläufige Deck des alten Frachters.

Der Sturm hatte sich verzogen und über ihnen funkelten Sterne am samtschwarzen Nachthimmel. Phineas konnte undeutlich die beiden mächtigen Aethertanks erkennen, die über seinem Kopf schwebten und durch eiserne Streben mit dem Rumpf des Schiffes verbunden waren. Trisha lief staunend hinüber zur Reling und blickte über die Ruinen der Stadt hinweg.

»Abgesehen von den Maschinen«, sagte Phineas, ohne den Blick von der Gestalt seiner Tochter abzuwenden, »wie gut in Schuss ist das Schiff?«

»Es gibt noch n bisschen was zu tun, bis die Kiste wieder einsatzbereit ist«, antwortet Jim. »Einer der beiden Aethertanks is undicht, der müsste repariert und neu befüllt werden, aber das wär mit den ganzen Wracks im Umland kein großes Problem. Ein paar Scheiben vorne an der Brückenkuppel sind zerbrochen. Und natürlich is in den Kabinen alles voller Ratten und sonstigem Ungeziefer. Alles in allem aber nichts, was ich nich innerhalb von zwei, drei Wochen hinbekommen könnte.«

Phineas runzelte die Stirn.

»Wie kommt es, dass Sie so viel Ahnung von Luftschifftechnik haben?«, fragte er.

Jim zögerte kurz.

»Ich war Maschinist. Bin auf einem der Kriegsluftschiffe hergekommen, die die Konföderiertenarmee nach Europa geschickt hat«, erklärte er schließlich. »Als in den letzten Kriegstagen alles im Chaos versank, hab ich die Gelegenheit genutzt und mich aus dem Staub gemacht. Is aber nich grade einfach, sich hier durchzuschlagen, wenn man im Krieg auf der falschen Seite stand. Selbst wennʼs nich freiwillig war.«

Jetzt begriff Phineas.

»Sie sind ein Sklave aus der Konföderation«, stellte er fest.

Jim reckte das Kinn.

»Ich war. Jetzt bin ich ein freier Mann, genau wie Sie.«

»Verzeihung, ich wollte nicht …«

»Schon in Ordnung. Manchmal fühlt es sich auch für mich noch ungewohnt an.«

Ein Moment unangenehmen Schweigens entstand.

»Hören Sie«, sagte Jim schließlich. »Ich weiß ja nich, was für nen Plan Sie haben, aber in Paris sollten Sie beide auf keinen Fall bleiben. Hier heißt es: Friss oder stirb, und die ganze Stadt is total verwüstet. Völlig unbewohnbar. Genau wie Berlin, Amsterdam, Frankfurt, Brüssel und vermutlich die meisten anderen großen Städte – genau kann ichʼs Ihnen nich sagen, seit Wochen gibtʼs keine Nachrichten mehr von nirgends. Ich weiß nich, ob es anderswo in Europa besser aussieht, aber Frankreich is ein einziges Chaos. In manchen Gegenden wimmeltʼs von Mutanten, andere sind so vergiftet, dass man nach n paar Tagen krepiert. Alles südlich von Orléans können Sie vergessen. Zu Fuß reisen wär Selbstmord – da hätten Sie auch drüben in good old Britain bleiben können.«

Er hielt einen Augenblick inne, dann wurde seine Stimme eindringlich.

»Aber wenn wir diese Dragonfly hier wieder fit kriegen, haben Sie – haben wir – vielleicht ne Chance. Dann finden wir vielleicht irgendwo nen Ort, der nich vollständig vom Krieg zerstört wurde. Einen Ort, an dem man leben kann.«

Phineas ließ seinen Blick über das Deck des Dragonfly-Frachters gleiten. Ein eigenes Luftschiff. Was für eine aberwitzige, irrsinnige Idee! Aber hatte er einen besseren Plan? Er hatte nie weiter gedacht als bis nach Paris. Nur das europäische Festland erreichen, nur fort aus der Todeszone, die einst die Insel Britannien gewesen war. Trisha in Sicherheit bringen. Doch welches Leben konnte er seiner Tochter hier bieten, in dieser vom Krieg zerstörten Stadt, in der Anarchie herrschte? Wo die Menschen unter der Erde hausten, an einem Ort, der den Toten gehören sollte?

Er war Aeronaut. Luftschiffe zu lenken, das war es, was er gelernt hatte. Etwas anderes kannte er nicht. Er musste dafür sorgen, dass sie in Sicherheit waren, er und Trisha. Auch wenn es in diesen chaotischen Zeiten, in denen das Gift der Alchemisten ganze Landstriche verwüstete und blutrünstige Mutanten in der Wildnis lauerten, so etwas wie Sicherheit vielleicht nicht mehr gab. War es der schlechteste Plan, mit einem Luftschiff auf die Suche nach einem neuen Zuhause zu gehen?

Sein Blick folgte Trisha, die sich von der Reling abgewandt hatte und mit federnden Schritten zu ihm herüberkam.

»Ich bin dabei«, sagte er. »Wenn Sie das Schiff zum Laufen bringen, werde ich es fliegen.«

Jim lächelte.

»Partner?«, fragte er und hielt Phineas auffordernd seine rechte Hand hin.

Phineas zögerte kurz, dann ergriff er sie.

»Partner.«

Trisha quietschte vor Begeisterung.

»Dann haben wir jetzt ein eigenes Luftschiff, Dad?« Sie sah mit leuchtenden Augen zu ihm auf.

Ein Lächeln huschte über Phineas’ Gesicht.

»Es sieht ganz danach aus«, erwiderte er.

»Wie nennen wir es denn?«, fragte Trisha aufgeregt.

Phineas warf Jim einen fragenden Blick zu. Der hob abwehrend die Hände.

»Ich bin nich gut in so Dingen«, sagte er. »Außerdem sind Sie ja jetzt der Captain, wieʼs scheint.«

Phineas ließ seinen Blick über das im Sternenlicht schimmernde Deck wandern. Eine Zukunft. Ein neues Zuhause für ihn und seine Tochter. Er lächelte. Behutsam beugte er sich zu Trisha hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Willkommen auf der Hammersmith, mein Schatz.«

 

 

 

Über die Autorin

Laura Dümpelfeld, Jahrgang 1989, lebt, arbeitet und studiert in Koblenz. Ihre Liebe zum Geschichtenerzählen entdeckte sie schon in jungen Jahren und frönt dieser Leidenschaft seitdem auf immer wieder unterschiedliche Art und Weise. Neben dem Schreiben begeistert sie sich unter anderem für Filme und Serien, LARP, Pen&Paper, Computerspiele, Theater, Musik und alles, was irgendwie mit kreativen Prozessen zu tun hat. Bei den Geschichten, die ihrer Feder entspringen, bedient sie gerne alle Spielarten der Phantastik – von Fantasy über Mystery und Science-Fiction bis hin zu Steampunk. Sie mag Sushi, verrückte Ideen und alles, was bunt ist.

 

 

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