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Kurzgeschichte: Das Geschenk

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Ein Junge und ein Meermädchen schließen Freundschaft. Trotz Armut erleben sie eine gute Zeit. Bis das Meermädchen dem Jungen ein Geschenk macht, das ihr Leben verändert. Renate Engel-Webers Pan-Kurzgeschichte des Monats von Gier und Verrat geht direkt ins Herz. Menschen, die empfindlich auf das Thema Gewalt an Frauen reagieren, sollten die Geschichte mit Bedacht lesen.

Die Zeit tröpfelte dahin wie zäher Honig. Pablo war vor der vereinbarten Stunde gekommen, um Siri allein zu sprechen. Überraschenderweise warteten die Männer bereits auf ihn. Nun würde er sehen müssen, wie sich die Dinge entwickelten.

›Wenn sie nicht kommt?‹

Ungeduldig suchte er den Horizont ab. Mit den Händen formte er ein Dach, um die Augen gegen die niedrig stehende Sonne abzuschirmen. Reiche Kinder besaßen eine Sonnenbrille. Ein für den Jungen ungeheurer Luxus. Rotgoldene Lichtgeister tanzten auf den Wellen und blendeten ihn, als wollten sie ihn von dem Plan abhalten.

»Bring uns einen Beweis, dass du die Wahrheit sagst. Sobald wir den haben, wird dein Bruder freigelassen.«

Der Bürgermeister Don Diego Jose Garcia Pérez hatte sich über den gewaltigen Bauch gestrichen und sehr zufrieden ausgesehen.

»Ob du einem Geschäftspartner trauen darfst, erkennst du an den Augen«, hatte der Großvater Pablo einmal erklärt.

Der Bürgermeister war seinem Blick ausgewichen.

Doch um Mario zu helfen, blieb ihm keine Wahl. Siri würde das bestimmt verstehen. Allerdings: Sicher war er nicht.

Versonnen bohrte er die nackten Zehen in den Sand. Wie vor vier Tagen, als er auf sie gewartet hatte. Damals, bevor sich das Leben von heute auf Morgen zum Schlechten gewendet hatte …

 

***

 

Ihre Haare trieben wie roter Seetang auf der Oberfläche.

»Ich habe dir etwas mitgebracht! Der Schwarm war im Graben, da, wo ewige Finsternis herrscht.« Sie riss die Augen auf und legte eine Pause ein, um die Wirkung der Worte sacken zu lassen.

»Pottwale fressen Kraken da unten. Es gibt Fische, die selber leuchten. Und dort hausen Monster mit solchen Zähnen.« Sie hielt die Arme in einem Abstand von wenigstens einem Meter nach oben.

Pedro lachte, und verschluckte sich am Salzwasser. »Du lügst«, würgte er hervor. »In welches Maul soll denn so ein Zahn passen? Nicht mal Schwertwale haben so ein Gebiss.«

Sie zog eine Schnute, spritzte ihm Wasser ins Gesicht und tauchte ab. Ihre Schwanzflosse blitzte in der Sonne wie flüssiges Silber.

Schon tat es ihm leid. »Siri? Ich habe es nicht so gemeint. Komm zurück! Siri!«

Suchend drehte er sich um die eigene Achse. Er schwamm ziemlich weit draußen; einzig mit dem Plätschern der Wellen und den Schreien der Möwen als Begleitung. Das T-Shirt, das er achtlos an den Strand geworfen hatte, wirkte klein wie ein Stecknadelkopf im hellen Sand.

Er glitt in die warme Tiefe. Unter Wasser fühlte er sich weniger einsam als an der Oberfläche. Das Meer leuchtete klar wie Glas. Schwimmende Edelsteine in gelb, rot und blau huschten durch die Korallen. Manche besaßen Stacheln, die man besser nicht berührte. Eine Schildkröte schwebte majestätisch vorüber, ohne sich von ihm stören zu lassen.

Mit wenigen Schwimmstößen erreichte er den Meeresboden. Doch statt eines Meermädchens scheuchte er eine Languste auf. Unentschlossen stakste sie erst hierhin, dann dort hin. Dabei überwachten die antennenartigen Fühler die gesamte Umgebung. Den Schatten im Rücken entdeckte sie trotzdem zu spät. Blitzschnell packte Pablo das Tier und paddelte an die Oberfläche.

»Siri, ich habe ein Geschenk für dich.«

Ein Schemen kreiste in der Tiefe. Länger als ein Schwarzflossen-Thunfisch, aber wesentlich kleiner als ein Tümmler. Eine Schwanzflosse strich spielerisch um seine nackten Beine.

Mit dem Tier in der rechten Hand schwamm er einarmig Richtung Ufer. Neben ihm brach ihr Kopf aus dem Wasser.

»Ein Geschenk? Was ist es?« Sie sah ihm in die Augen, bevor sie den Krebs entdeckte, und präsentierte lächelnd die rasiermesserscharfen Zähne. »Eine Languste!«, stöhnte sie schwärmerisch. »Gib sie her, gib sie her!« Sie schnellte wie ein Delphin nach oben. Im letzten Moment zog der Junge den Arm weg und bekam zur Strafe eine Ladung Salzwasser ins Gesicht.

»Wenn du mich ertränkst, gibt es keine Krebse mehr«, prustete er zwischen Würgen und Lachen.

»Und wenn ich warte, bis du alleine zurückgeschwommen bist«, gab sie zurück und packte seine Hand, »stirbt die Languste an Altersschwäche.«

 

***

 

Der Krebs hatte keine Chance. Geschickt riss sie ihm mit einer fließenden Bewegung den Kopf ab. »Möchtest du ihn aussaugen? Ist das Beste daran.«

Pablo winkte ab. »Ist für dich.«

Sie zuckte die Schultern und machte sich grinsend über den Leckerbissen her. Nach dem Kopf zerteilte sie den Panzer und löste den Schwanz aus. Interessiert sah er ihr dabei zu. »Gibt es draußen nicht genug Langusten? Man könnte meinen, du wärst am Verhungern.«

Sie schüttelte die roten Haare, weißes Krebsfleisch im Mundwinkel. »Schie machen allesch kaputt«, nuschelte sie. »Die groschen Netsche, in denen schich Wale verfangen können. Die ganschen Riffe: platt!«

Sie machte eine Geste, um die Endgültigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. Nach dem letzten Stückchen rülpste sie zufrieden.

»In Ufernähe ist es zu flach für die Schiffe, dafür wimmelt es von Tauchern. Die Fische finden keinen Platz mehr zum Laichen. Kein Laich, keine Fische, keine Nahrung. Daher müssen wir in den Graben.«

Pablo nickte. »Auch unsere Netze bleiben immer öfter leer. Großvater sagt, als Junge sei er einmal aus dem Boot gestiegen und auf den Rücken der Thunfische zurück ans Ufer gegangen. Ich glaube, er macht sich über mich lustig.«

Sie hingen eine Weile schweigend ihren Gedanken nach.

»Ich muss gehen«, bemerkte Pablo schließlich. »Meine Familie wartet.« Er stand auf, um das T-Shirt überzuziehen.

»Moment: Ich habe auch ein Geschenk.«

Zwischen ihrem Ab- und Auftauchen vergingen zwei Minuten. »Mach die Hand auf«, verlangte sie. Er tat, wie ihm geheißen. »Für das Boot.«

Sie blinzelte schelmisch mit ihren irisierenden Augen. Ihre Schwanzschuppen glänzten rot im Licht der untergehenden Sonne. »Du hast gesagt, es ist kaputt.« Behutsam ließ sie eine Kugel in seine Handfläche rollen. »Menschen glauben, das ist wertvoll, dabei ist es nicht essbar.« Bevor er sich bedanken konnte, verschwand sie in den Fluten.

Die Faust fest um das Geschenk geschlossen, watete er ans Ufer.

Er hatte noch nie eine kirschgroße Perle gesehen. Die im Schaufenster des Juweliergeschäfts waren alle kleiner, und keine schimmerte in klarem Rosa wie diese.

 

***

 

»Großvater?«

»Pablo? Wo warst du? In der Bucht?«

Pablo nickte. Der Greis lag auf dem Bett, zugedeckt mit einer dünnen Decke, die die dürre Gestalt mehr betonte als verdeckte. Behutsam nahm er die schmale Hand des alten Mannes. Narben und Schwielen bezeugten ein Leben voller Strapazen und Entbehrungen auf See. Pablo liebte diese Hände. Er liebte seinen Großvater.

»Ich habe etwas für dich, Großvater«, flüsterte er.

Sein Bruder Mario sah ihm über die Schulter. »Was ist es denn? Eine magere Makrele? Davon werden wir sicher alle satt heute Abend.«

»Lass deinen Bruder in Ruhe, Mario. Das Meer ist ein Teil von ihm, so wie es ein Teil von mir war. Das wirst du nie verstehen.«

Ein Hustenkrampf packte den Greis, als wollte er den letzten Rest Leben aus ihm herausschütteln. Pablo stopfte die Decke fester um den abgezehrten Körper. Bald würde er mehr für ihn tun können: den Arzt holen, eine dickere Zudecke besorgen, womöglich eine Flasche Rum, den der Großvater – aus therapeutischen Gründen – gerne trank. Seine Hand tastete er nach der Perle in seiner Hosentasche.

Mit neunzehn Jahren war Mario sechs Jahre älter als Pablo. Neunzehn Jahre bringt man nicht mit einem Wort zum Schweigen.

»Du brauchst dringend Medizin, Großvater. Wie sollen wir die bezahlen? Mit Heringen? Und der Motor? Wer bezahlt den? Du weißt selbst, wie wenig wir in letzter Zeit gefangen haben. Statt zu helfen, treibt Pablo sich in der Bucht herum. Wir haben zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben! Wenn man das hier Leben nennen will.«

Er ließ sich auf das alte Sofa fallen, das ihm nachts als Bett diente, und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Es ist keine Makrele«, begann Pablo schüchtern. »Schau, Großvater. Von Siri, für uns.«

Stolz hielt er die Perle zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. Selbst beim Licht der Glühbirne leuchtete sie, als wären die Mittagssonne über dem Flamenco Beach und das Glitzern der Korallenfische der Isla de Culebra in ihr eingeschlossen.

Der alte Mann bekreuzigte sich. »Oh mein Gott, Mario. Sieh doch nur. Oh mein Gott!«

Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel des Greises und suchte ihren Weg durch tiefe Furchen auf das flache Kopfkissen. Mit zitternden Fingern zeigte er auf den Schatz, als fürchtete er, er würde verschwinden, sobald er ihn berührte. »Ist sie – von ihnen?«

Pablo nickte stumm. Kein Wort passte in diesem Augenblick durch seine Kehle. Schließlich schaffte es ein Winziges. »Ja.«

Selbst Mario vergaß für einen Moment seinen Kummer und kniete andächtig neben dem Bett nieder. Sein Blick klebte an der glänzenden Perle in Pablos Hand, während er sprach. »Wer sind sie? Wovon redet ihr? Wer verschenkt so etwas?«

»Meermenschen«, antwortete Pablo.

»Meermenschen? Sind das Menschen, die auf Schiffen leben oder so etwas?«

Der Großvater lächelte nachsichtig wie bei einem Kind, das schwerer lernte als Gleichaltrige. Pablo verdrehte die Augen.

»Nein, keine Menschen auf Booten! Menschen im Wasser. Nixen, Meerjungfrauen!«

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Du willst mich verarschen, Brüderchen. Aber weißt du was? Gleichgültig, woher die Perle stammt: ob Meerjungfrau, ob gefunden … selbst wenn eine Möwe sie auf den Strand geschissen hätte, egal! Heute beginnt ein besseres Leben!«

Pablos Herz flatterte vor Stolz in seiner Brust wie ein Zuckervogel. »Wir kaufen Medizin und lassen den Arzt kommen! Hierher zu uns. Dann reparieren wir das Boot und fahren zusammen raus. Siri kann uns helfen. Sie weiß, wo es noch genug Fische gibt …«

Mario fuhr herum.

»Den Kutter instandsetzen? Wozu? Die Fabrikschiffe fangen den Ozean leer. Es gibt bald keinen Fisch mehr. Mit der Perle könnte ich in die USA, Arbeit suchen, Euch regelmäßig Geld schicken.«

»In die USA? Meinst du, die haben auf dich gewartet?« Der Großvater röchelte, doch schüttelte er so energisch, wie es seine schwachen Kräfte zuließen, den Kopf. »Ein gutes Boot hat bisher immer seinen Mann ernährt. Im Augenblick ist es ein bisschen wenig, zugegeben. Aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Morgen werden wir sehen, was wir für die Perle bekommen. Dann werden wir entscheiden.«

 

***

 

Vier Tage waren vergangen.

Seemannsgarn wird viel gesponnen. Auf Inseln wie Puerto Rico sogar mehr als andernorts. Seit der Großvater krank geworden war, ging Pablo gelegentlich in die Kneipe, um Bier zu holen. Dabei lauschte er den Erzählungen der Fischer über aggressive Kraken, Meerjungfrauen und Schätze, die am Meeresboden darauf warteten, von mutigen Männern gehoben zu werden. Im Laufe der Nacht wurden die Kraken zunehmend aggressiver und die Schätze reicher.

Nüchtern betrachtet hatte jedoch kein Einziger eine Meerjungfrau jemals gesehen. Und von Perlen dieser Größe und Reinheit hatte man bisher auch nur gehört. Nicht einmal der Bürgermeister, der das Juweliergeschäft auf der Hauptstraße besaß, hatte bislang so eine Kostbarkeit zu Gesicht bekommen.

Wie sollte also ausgerechnet ein armer Fischerjunge an eine solche Perle kommen? Sie konnte nur gestohlen sein.

Folgerichtig rief der Bürgermeister die Polizei, als Mario ihm den Schatz vorlegte. Die Perle nahm er vorsorglich in Verwahrung, bis der eigentliche Besitzer sich bei ihm meldete.

Pablo brachte dem Großvater die Nachricht von Marios Verhaftung, die sich wie ein Lauffeuer im Ort verbreitete. Der Großvater müsste den Sonntagsanzug aus dem Schrank holen und mit Pablos Hilfe beim Bürgermeister das Missverständnis aufklären.

Der alte Mann wartete stumm, bis er fertig gesprochen hatte. Er machte ihm keine Vorwürfe. Aber etwas in seinem Blick sorgte dafür, dass sich in Pablos Magen ein Klumpen bildete: Wenn er an dem Tag nicht in die Bucht gegangen wäre, sondern die Netze geflickt hätte, wie Mario es wollte …

Sie waren arm, ja, aber bisher hatte niemand im Gefängnis gesessen. Diese Worte hörte Pablo so laut, als wären sie ausgesprochen worden.

Der Greis legte sich in sein Bett zurück, dass er am Morgen das erste Mal seit zwei Wochen verlassen hatte. Hilflos sah der Junge mit an, wie er sich schweigend die Decke über den Kopf zog und zur Wand drehte.

 

***

 

Die Sonne berührte fast den Horizont. Wenn Siri jetzt nicht kam, war es für heute zu spät, und Mario würde eine weitere Nacht in der kahlen Zelle verbringen.

Es war schwer genug gewesen, den Bürgermeister und seine Leute von der abenteuerlichen Geschichte über die Meerjungfrau zu überzeugen. Allein die Tatsache, dass man riesige, rosafarbene Perlen nun einmal nicht in leicht erreichbaren Gewässern fand, gab den Ausschlag.

Angespannt schaute er zum Horizont. Da! Das Aufblitzen einer Flosse! Sonst hüpfte sein Herz bei diesem Anblick, bloß jetzt wäre er am liebsten weggelaufen. Aber das wollte er Mario nicht antun.

Zögernd zog er das T-Shirt aus. Er fühlte die Blicke der versteckten Beobachter hinter den Büschen wie klebrige Schnecken auf dem Körper, sobald er ins Wasser watete.

Es wäre gut, wenn sie springen würde. Aber wie sollte er sie dazu überreden? Einem Jungen könnte er sagen:Zeig mal, wie hoch du springen kannst. Jungen waren da unkompliziert.

Außerdem sträubte sich etwas in ihm. Die Augen der Männer sollten nicht genauso an ihr kleben wie an ihm. Siri war ein Mädchen – mit einem Fischschwanz – und seine Freundin!

Am besten wären sie alle gar nicht hier.

 

***

 

Das Haus des Bürgermeisters lag auf einem Hügel außerhalb des Dorfes. Das Einzige mit einem Swimmingpool. Don Diego legte Wert auf Privatsphäre, was er durch hohe Mauern um sein Grundstück verdeutlichte.

Pablo war schon einmal hier gewesen, gleich, nachdem man Siri gefangen und hierher gebracht hatte.

»Deine Freundin hat das große Los gezogen«, hatte der Bürgermeister gelacht und sich am Arm gekratzt, an dem er einen breiten Verband trug.

»Drei Mahlzeiten am Tag: nur das Beste vom Besten. Sie braucht nicht mehr jagen oder Angst vor Haien zu haben. Die besten Wissenschaftler stehen bereit, falls sie krank wird. Vielleicht darf sie sogar zur Schule!«

Der Bürgermeister hatte gegrinst und ihn in die Seite geknufft.

Siri brauchte keine Schule. Sie ärgerte Tintenfische in den Riffen oder schwamm mit Delphinen um die Wette. Sie wusste mehr über den Ozean als jeder, den er kannte. Und sie hatte keine Angst vor Haien!

Trotzdem hatte er geschwiegen. Es war ihm wie Verrat vorgekommen, er hätte seine Freundin vor dem dicken Mann verteidigen zu müssen. Dass er sie unwissentlich in die Falle gelockt hatte, zog bereits wie ein Anker an seiner Seele.

»War ziemlich egoistisch von dir, deine Entdeckung so lange vor den richtigen Leuten geheim zu halten«, hatte der Bürgermeister weitergesprochen. Er hatte mit dem Daumen auf sich selbst gezeigt, damit Pablo verstand, wer gemeint war.

»Du hättest deinem Land früher einen Gefallen tun können. Sobald die Menschen erfahren, woher die Meerjungfrau stammt, werden sie wie Thunfische auf die Insel strömen. Das bringt Arbeitsplätze! Du wirst dir keine Sorgen um deine Zukunft machen müssen.«

Er hatte Pablo fünf Dollar in die Hand gedrückt und die Tür vor seiner Nase geschlossen. Gesehen hatte Pablo Siri nicht.

Der Junge hatte keinen Schimmer, wie er das Meermädchen über die Mauer kriegen sollte. Zur Sicherheit hatte er die Handkarre vom alten Felipe ausgeliehen. Ein paar Eimer Salzwasser und nasse Decken würden ihr die Strecke ans Meer erleichtern.

Zum Teil hatte der Bürgermeister Wort gehalten und Mario freigelassen. Und nicht nur das: Er hatte ihm sogar einen Job als Gärtner angeboten. Die Perle verwahrte er weiterhin: bis die Perlenhändler aus Florida den Wert richtig schätzten.

Jeden Tag hatte Pablo seinen Bruder gefragt, wie es Siri ging.

»Prima. Sie hat, was sie braucht und lässt dich grüßen.« Mario wich seinem Blick aus.

Das diffuse Gefühl der Unruhe im Bauch verdichtete sich zu der Gewissheit, Siri helfen zu müssen. Er bekniete seinen Bruder, um eine Zeichnung des Gartens zu bekommen.

»Willst du mich um meinen Job bringen? Sobald die Perle verkauft ist, höre ich da wieder auf. Bis dahin will ich keinen Ärger, kapiert?«

»Ich will mich von ihr verabschieden, das ist alles!«

Dabei hatte er die Finger hinter seinem Rücken gekreuzt. Am nächsten Tag sollte sie nach San Juan und von dort mit dem Flugzeug nach Orlando in Florida gebracht werden. In den Sea World Park.

An einer Ecke der Mauer, verdeckt hinter Büschen, bröckelte der Putz. Pablo klemmte die Zehen und Finger in die Fugen zwischen den Ziegeln, um sich daran hochzuziehen. Es war einfacher, als er dachte.

Oben angekommen, pochte sein Herz bis zum Hals. Sein Großvater war immer stolz darauf gewesen, die beiden Jungen zu ehrlichen und anständigen Menschen erzogen zu haben. Dieser Einbruch würde ihm das Herz brechen, doch Pablo musste wissen, wie es Siri ging.

Der Garten lag in tiefer Finsternis. Das feuchte Gras kitzelte unter Pablos Sohlen, als er sich langsam um den Geräteschuppen tastete. Einige Fenster des Hauses warfen leuchtende Vierecke auf den Rasen, die aber nicht bis hierhin reichten.

Vor ihm stand das Poolhaus, in dem unter anderem Liegestühle und Sonnenschirme aufbewahrt wurden, wie ihm Mario erzählt hatte. Gebückt huschte er zwischen niedrigen Palmen und Büschen hindurch, an dem Gebäude vorbei und in den Schatten.

Nach einem weiteren prüfenden Blick zum Haus schlich er auf den warmen Platten vorwärts. Er brauchte keine Taschenlampe: Die Lampen des Beckens leuchteten unheimlich in der Finsternis, feine Nebelschwaden waberten über das Wasser.

Im Schatten eines Liegestuhls lauschte er auf ein Lebenszeichen: Plätschern, Atmen. Irgendwas, das zeigte, dass etwas Lebendiges im Becken war. Dass Siri dort war. Wie würde sie reagieren nach allem, was ihr seinetwegen angetan worden war?

»Siri?«, flüsterte er.

Der Nachtwind rauschte in den Bäumen, eine Eule schrie, doch unter den Schwaden blieb alles ruhig. Endlich hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig robbte er an den Beckenrand.

»Siri? Siri, bist du hier?«

Auf dem Boden des Beckens lag eins der engmaschigen Nylonnetze, die sie in der Bucht verwendet hatten. Einzelne Schuppen glitzerten darin wie Silberstücke.

»Hilf mir, Pablo! Hilfe!«

Seit drei Nächten rissen ihn ihre Hilferufe aus dem Schlaf. Ihn fröstelte wegen der Rücksichtslosigkeit, mit der die Männer das Meermädchen ans Ufer gezerrt und auf einen Transporter geworfen hatten. Aber am Schlimmsten verfolgte ihn ihr Blick, als sie den Kampf um ihre Freiheit aufgab. Dabei war er genauso geschockt gewesen wie sie.

Nach und nach erkannte er Einzelheiten, doch die halfen nicht, sein Gewissen zu beruhigen: Am Boden des Beckens lagen ausgefranste Fischköpfe, zerbrochene Muschelschalen und gammelige Fischschwänze. Dinge, wie man sie am Ende des Markttags vom Boden wegfegte. Tote Muscheln trieben im trüben Wasser, dessen fauliger Geruch ihm langsam bewusst wurde. Lange rote Haare verstopften den Abfluss.

Deine Freundin hat das große Los gezogen. Danach sah das nicht aus. Fassungslos starrte er auf die trübe Brühe.

»Wen haben wir denn da? Den hoffnungsvollen Fischer?«

Eine Hand legte sich schwer und schwitzig auf seine Schulter, eine Wolke aus Schweiß, Rum und Morcilla schwappte über ihn hinweg.

»Das ist Hausfriedensbruch, was du hier treibst. Ich könnte die Polizei rufen.«

Die Hand zog ihn mit brutaler Gewalt nach oben und drehte ihn um, bis der stinkige Atem des betrunkenen Bürgermeisters ihm direkt ins Gesicht schlug.

»Wo ist sie?«, brach es aus Pablo heraus, bevor sein Gehirn die Situation ganz erfasst hatte.

Die Schweinsäuglein Don Diegos starrten ihn eine Sekunde lang an, dann begann er dröhnend zu lachen.

»Na sieh mal an, wie er seine Freundin vermisst. Sie scheint dir ja richtig ans Herz gewachsen zu sein, die kleine Schlampe. Wer weiß, was ihr alleine in der Bucht getrieben habt, du und dein Fischweib. Von wegen Meerjungfrau!«

Pablo lief rot an. In diesem Augenblick wollte er größer, stärker, wollte erwachsen sein! Stattdessen harrte er im Griff des Bürgermeisters aus. »Wo ist sie?«, wiederholte er lauter gegen das dröhnende Gelächter.

»Du willst sie wirklich sehen, ja?«

Pablo nickte unsicher. Wenn sie nicht im Pool war, wo war sie dann?

Der Mann schob ihn in den dunkleren Teil des Gartens, zum Geräteschuppen. Die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert. »Willst du sie nicht in Erinnerung behalten, wie du sie gekannt hast?«, meinte er, während er umständlich nach dem Schlüssel in seiner Hose kramte.

Gekannt hast? Die Vergangenheitsform jagte Pablo kalte Schauer über den Rücken. Bilder ihrer ersten Begegnung platzen aus seiner Erinnerung wie Blasen, die an die Wasseroberfläche trudelten. Ihre Haare, die, einer roten Tintenwolke gleich, hinter einem Felsen aufgetaucht waren, gefolgt von einem fast menschlichen Gesicht, das ihn angrinste.

Er hatte sich vor Schreck verschluckt, seinen Speer fallen lassen und war wie ein Hund ans Ufer gepaddelt. Dort hatte er sich mit klopfendem Herzen in den Sand gekauert, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und die Bucht beobachtet. Gerade als sein Puls sich beruhigt hatte und er davon überzeugt gewesen war, sich alles nur eingebildet zu haben, hatte sich sein Speer neben ihm in den Sand gebohrt.

»Du hast dein Stöckchen vergessen!« Dann hatte sie ihm Barsche an den Kopf geworfen.

Von da an hatten sie sich getroffen, so oft die Arbeit auf dem Boot und an den Netzen es zugelassen hatte. Es war ihm vorgekommen wie ein anderes Leben.

»Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

In dem Schuppen roch es feucht und modrig. Eine einzelne Glühbirne baumelte von der Decke und kämpfte mit eher mäßigem Erfolg gegen die Dunkelheit.

In einem Holzregal an der Wand stapelten sich rostige Werkzeuge, schmutzige Blumentöpfe und Düngemittel. Es roch nach Mäusekot und Schimmel.

Pablo wäre fast über ein schwarzes Kabel gestolpert, das nagelneu aussah und in den hinteren Teil der Hütte führte. Es endete bei einem Ventilator, der knarzend die abgestandene Luft umrührte.

Dort, fast an der Wand, stand eine Wanne, jeweils zur Hälfte gefüllt mit Eiswürfeln und Wasser.

Eine große, silberne Schwanzflosse ragte über den einen Rand, ein Büschel langer, korallenroter Haare über den anderen. Ein schmaler Arm, bedeckt mit sehr feinen, hellen Schuppen und blauen Flecken, hing leblos seitlich aus der Wanne.

Seine Beine schienen Tonnen zu wiegen; als wäre er angewachsen. Erschrocken fuhr er zusammen, als er den heißen Atem des Bürgermeisters im Nacken fühlte.

»Na, was ist? Schau sie dir an. Keine Angst, sie beißt nicht. Jetzt nicht mehr.«

Pablo musterte stumm den leicht schmuddeligen Verband am Arm des Mannes. Gelegentlich schob der seine Finger unter das Leinen, um sich zu kratzen, was blutige Spuren hinterließ. Der Junge riss sich von dem Anblick los und stakste wie eine Marionette vorwärts, gesteuert von Reue und Mitleid.

Was immer er bis zuletzt gehofft hatte: Es war wirklich Siri in der Wanne. Die weit auseinanderstehenden Augen waren geschlossen, als ob sie schliefe. Der Eindruck wurde allerdings von einem dunklen Fleck beeinträchtigt, der von der Nasenwurzel bis zu ihrem verkrusteten Haaransatz reichte.

Auch der Oberkörper war mit blauen Malen übersät. Pablo starrte den Bürgermeister an, der mit selbstgefälligem Grinsen auf das Mädchen runtersah.

»Was ist? Was starrst du mich so an? Das ist doch dein mutierter Fisch. Eine Laune der Natur, nichts weiter. Die kippen uns doch allen möglichen Dreck ins Meer. Es war gut, dass wir das Ding rausgeholt haben. Hast du die Beißer gesehen?«

Mit den Fingern zog er Siris Oberlippe hoch. Auch das Zahnfleisch war verfärbt, einige Zähne fehlten.

»Was kann ich dafür, dass sie sich mit einer Muschel die Adern aufgeschnitten hat?«

Er schwankte bedrohlich. Wieder kratzte er sich am Arm, der da, wo der Verband endete, mit dicken, roten Pusteln überzogen war.

»Sag mal, du weißt nicht zufällig, wo sie die Perle gefunden hat? Bestimmt gibt es noch mehr von denen.«

Er deutete mit dem Kinn Richtung Wanne und Pablo war sich nicht sicher, ob er von Perlen oder Meerjungfrauen sprach.

Er schüttelte stumm den Kopf. Außer dem Wunsch, dem Bürgermeister eine der rostigen Harken über den Schädel zu ziehen, beherrschte ihn nur der Gedanke an Flucht. Seine Augen brannten. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Schuppen, verfolgt von der Stimme des Mannes, der Siri auf dem Gewissen hatte.

»Du könntest wenigstens Danke sagen! Übrigens: Sie wird nach San Juan gebracht. Hat eine tolle Karriere in der Wissenschaft vor sich!« Der Bürgermeister johlte. »Diese Spinner! Das ist doch nur ein Fisch. Kein Grund, so ein Theater zu machen. Nur ein Fisch …«

Blind vor Tränen, achtete Pablo nicht auf den Weg. Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht. Die Büsche raunten ihm schuldig, schuldig hinterher. Irgendwann stand er vor der Mauer, schwang sich hinüber und hastete in die Dunkelheit.

Das Bild ihrer Leiche blieb in seine Netzhaut eingebrannt. Er sah nichts anderes. Heiße Tränen brannten auf seinen Wangen, die Lungen protestierten. Schließlich brach er keuchend zusammen und krallte die Hände in den feuchten Sand.

»SIRI!« Der Schmerz drohte, ihn auseinanderzureißen. »SIRI!«

Gleichgültig leckten die Wellen an den Strand, ohne auf das Menschenwesen am Ufer zu achten. Erst nach und nach schickte die Bucht ein sanftes Willkommen in seine Seele.

Der Mond goss silbernes Licht über die schwarze See, als Pablo sein T-Shirt und seine Shorts auszog. Er musste sie warnen. Die anderen, draußen am Graben. Das war er Siri schuldig. Entschlossen watete er ins Wasser.

 

Über die Autorin

Geboren 1963 in Köln

Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Karlsruhe

Interessen: Schreiben, Lesen, Geschichte, Mythologie, Natur

Renée Engel lebt in einem beschaulichen Städtchen nahe Karlsruhe. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Erziehung dreier Kinder ist sie verrückt genug, als Autorin ihr Glück zu versuchen. Ihre erste Geschichte erschien 2013, seitdem wurden in verschiedenen Verlagen Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht.

Ihre größten Erfolge waren bisher der 3. Platz beim Vincent Preis 2017 für Die Augen der Geisha, der 3. Platz bei der Story-Olympiade 2018 mit Evolution sowie ein Kristalliner Stephan als Mitautorin in der Anthologie Waypoint FiftyNine 2020 für die Geschichte Alles ist relativ, sowie 2021 ebenfalls ein Kristalliner Stephan als Mitautorin in der Anthologie Fast Menschlich mit der Geschichte Andy.

 

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