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Himmelstraße 42

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten

Diesen Monat präsentieren wir Euch die Kurzgeschichte aus dem Phantastik-Autoren-Netzwerk von Marco Rauch aus der Anthologie "Göttergarn". Viel Spaß beim Lesen!

 

Als es an der Tür klopfte, blieb Wenkmann erstarrt sitzen. Er traute seinen Ohren nicht.

Das Geräusch war einfach ungewohnt und es wunderte ihn, dass sein Raumschiff Hillström nicht vehement dagegen protestierte, geschlagen zu werden.

Wenkmann hatte keine Angst, das war es nicht. Trotzdem wunderte es ihn, dass ein Mensch an seine Raumschifftür klopfte. Sie waren es zwar längst gewöhnt, dass Außerirdische auf die Erde kamen, sie selbst waren jedoch zu dumm und unfähig, im Weltall zu reisen. Was er als durchaus positiv empfand. Wenn man sich den Zustand ihrer Erde so ansah, war es auf jeden Fall besser für das gesamte Universum, wenn sich die Zerstörungswut der Menschheit schön brav auf ihren Planeten beschränkt.

»Wer ist da?«, fragte er.

»Weiß ich doch nicht, mach die Tür auf«, sagte sein Raumschiff.

»Kannst du nicht nachschauen?«, fragte Wenkmann.

»Doch, könnte ich«, sagte Hillström.

»Dann tu es.«

»Okay.«

»Und?«

»Ich hab‘ nachgeschaut.«

Wenkmann wartete. Hillström ließ ihn warten.

»Und wer ist es?«, fragte Wenkmann.

»Die Post.«

»Die Post?«

»Ja, die Post. Aber er dreht sich gleich um und geht. Das erkenne ich an seiner Körpersprache.«

Wenkmann hatte nicht mit Post gerechnet. Er war im Urlaub. Auf der Erde. Ein einfacher Tourist. Wer sollte ihm hier etwas per Post schicken? Noch dazu so altmodisch. Die Post gab es seit dem 21. Jahrhundert nicht mehr.

»Soll ich ihn eliminieren?«, erkundigte sich Hillström.

»Nein … nein, noch nicht. Mach mal auf.«

Die Tür des Raumschiffs öffnete sich mit einem flotten Zischen. Der Postmann sprang einen Satz zurück. Wenkmann war überrascht über die Überraschung des Postmannes.

»Noch nie ein Raumschiff gesehen?«, fragte er.

»D-doch, s-schon viele, a-aber es … es r-richtet e-eine merkwürdige Waffe auf mich …«

Wenkmann blickte über den Eingang und sah einen geladenen Weltenzerstörer auf den armen Mann gerichtet.

»Das ist ein bisschen übertrieben«, meinte Wenkmann.

Der Weltenzerstörer verschwand, eine Mini-Atombombe erschien.

»Hillström«, ermahnte Wenkmann.

Die Mini-Atombombe verschwand, eine Schrotflinte erschien.

»Ist das in Ordnung?«, fragte Hillström.

»Immer noch etwas groß«, fand Wenkmann.

Also Schrotflinte weg und ein handlicher Revolver kam zum Vorschein.

»Oder bevorzugen Sie einen bellenden Hund?«, fragte Wenkmann.

»Hätten Sie denn einen?«, erwiderte der Postbote.

»Hillström?«

»Bellender Hund, kommt sofort.«

Gleich darauf erschien tatsächlich der Zerberus mit seinen drei Köpfen in der Eingangstür und bellte wie verrückt, um nicht zu sagen, höllisch laut.

»Gut so?«, fragte Wenkmann.

Der Postmann nickte eifrig.

»Ja, das ist hervorragend, danke. So etwas bin ich gewohnt. Da fühlt man sich gleich wieder gut aufgehoben.«

Der Postmann trat einen beruhigten Schritt nach vorne und zog ein dünnes Kuvert aus der Tasche. Der Zerberus wurde halb wahnsinnig.

Wenkmann beäugte den Brief misstrauisch – und dann den Postmann.

»Sind Sie ein Relikt?«, fragte er.

»Ein waschechter Postmann aus dem 20. Jahrhundert. Gefällt es Ihnen?«

»Bin beeindruckt.« Wenkmann nahm den Brief entgegen.

Der Postmann machte eine leichte Verbeugung und verblasste dann. Kaum war er weg, jauchzte der Zerberus verspielt und verschwand zurück in die Unterwelt. Ein lieber Hund, fand Wenkmann und schloss die Tür.

»Wer schreibt mir denn einen Brief?«

»Soll ich ihn aufmachen?«, fragte Hillström. Direkt vor Wenkmann erschien ein ausfahrbarer Präzisionslaser neben der Eingangstür.

»Hör bloß auf damit«, sagte Wenkmann.

»So etwas wie letztes Mal wird nicht wieder …«

»Zwei Tage«, meinte Wenkmann. »Es hat ganze zwei Tage gedauert, bis mir meine Hand nachgewachsen war.« Wenkmann riss den Umschlag auf. »Ich hoffe für dich, dass das kein Kettenbrief ist.«

»Ist keiner. Ich habe es schon gescannt. Kein Kettenbrief, kein Junk, kein Spam, keine Bombe, kein Gift, außer den auf der Erde handelsüblichen gegen die du alle immun bist, kein Virus, nicht bedenklich radioaktiv, kein …«

»Schon gut«, sagte Wenkmann. Er zog den Brief hervor und war ein wenig enttäuscht. Da stand nicht viel drauf:

Einladung

Himmelstraße 42

Eine Person

Dein C.

»Was für eine Verschwendung von Papier ist das denn?«

»Ich glaube, hier auf der Erde würden sie sagen: eine sinnlose.«

»Da steht ja nicht mal, wo diese Himmelstraße 42 sein soll.«

»Es gibt auf der Erde nur eine einzige Himmelstraße 42«, erklärte Hillström. »Ich habe das bereits überprüft.«

»Dann nichts wie hin.«

»Wir sind schon da.«

»Das ging ja schnell«, sagte Wenkmann.

»Ich bin ein Raumschiff. Gemacht fürs Reisen im Weltall. Natürlich ging das schnell. Das ist, als würdest du mit dem Auto aufs Klo fahren.«

»Ja, schon gut.« Wenkmann drehte sich wieder zur Eingangstür, er hatte sich seit dem Erhalt des Briefes nicht von der Stelle gerührt.

Hillström öffnete die Tür. Wenkmann trat aus dem Raumschiff. Eine schmale Gasse, eine Straße, die zu einem einsamen Haus führte. Weit und breit nichts anderes. Hausnummer 42 war das einzige Haus und es war nichts weiter als ein Bungalow, in einem verblassten Weiß gestrichen, mit modrigen Dachschindeln und einer hölzernen Einfahrt.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Hillström.

»Du passt da vielleicht schwer hinein.«

Hillström aktivierte sofort ein paar schicke Waffen und richtete sie auf das Haus.

»Ich kann mir ja Platz schaffen«, sagte er.

»Lass mal. Ich hab‘ das schon im Griff.«

»Du gönnst mir auch keinen Spaß.«

Kinder, dachte Wenkmann. Er vergaß manchmal, wie jung sein Raumschiff noch war und marschierte zum Haus, zur Einfahrt. Der Zaun, der rund um das Anwesen gespannt war, bog sich unter der Last seiner Jahre und vor allem seiner Erfahrung, Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte ohne Reparatur oder Erneuerung überstanden zu haben. Das Material sah aus wie Holz, aber es war keines. Wenkmann erkannte es. Die Menschen nannten es eine Versinnbildlichung. Wer oder was immer auf dem Grundstück dahinter herrschte, wollte, dass der Zaun genau so aussah. Wie ein alter, erfahrener Holzzaun.

Selbst Wenkmann konnte diese Abgrenzung nicht ohne weiteres durchbrechen. Die Kraft von Gedanken, Vorstellungskraft und Fantasie waren eine der größten Mächte des Universums. Wenkmann wusste das. Er wunderte sich nur, dass es auf der Erde tatsächlich Geschöpfe gab, die das auch erkannten.

Wenkmann spähte durch ein Loch zwischen den Latten. »Eigenartig. Als wäre da nichts dahinter.«

»Soll ich mal nachsehen?«

Hillström warf bereits die Triebwerke in freudiger Erwartung an, endlich in Aktion treten zu dürfen.

»Ich seh selbst nach, danke.«

Wenkmann blieb vor dem Haustor stehen. Es gab zwei Klingeln. Privat und Büro. Er läutete auf gut Glück und das Glück entschied sich für die Klingel, unter der Privat stand.

Es ertönte ein tiefes, knarrendes Brummen bei der Tür. Ein elektrisches Gerät, das kurz davor war, an Altersschwäche zu sterben.

»Was zum Teufel war das?«, fragte Wenkmann.

»Drück nochmal«, sagte Hillström.

Wenkmann tat es.

Kurz darauf das gleiche Geräusch.

»Ich habe es analysiert. Es klingt entfernt nach einem Türöffner.«

»Weiß es nicht, wer ich bin? Hat es denn keine Scan-Funktion?«

»Nein. Aber das Gerät scheint bereits sehr alt zu sein und kann sich nur entfernt an seine Funktion erinnern. In sieben von zehn Fällen funktioniert es nicht richtig und verpasst dem möglichen Besucher beim Öffnen der Tür einen elektrischen Schlag. In vier von diesen sieben Fällen ist der Stromstoß tödlich … für Menschen.«

»Und für mich?«

»Es könnte ein bisschen weh tun, aber du stirbst schon nicht daran.«

»Toll. Weißt du, welcher Fall als nächstes eintreffen wird?«, fragte Wenkmann.

»Läute noch einmal und beim zweiten Mal bekommst du nur einen normalen elektrischen Schlag.«

»Und wenn ich gar keinen bekommen will?«

»Dann öffnest du beim fünften Läuten.«

Wenkmann vertraute den Berechnungen von Hillström voll und ganz. Er betätigte den Türöffner vier Mal und beim fünften Klingeln öffnete er die Tür. Kein Stromstoß schoss durch seinen Körper und er marschierte durch die Tür.

Es war wie ein Portal in eine andere Welt. Es war erstaunlich. Wenkmann kannte diese Technologie der introvertierten Architektur. Aber er war sich sicher, dass diese Art der Tarnung niemals auf der Erde existiert hatte.

Während er sich aber hier und jetzt damit konfrontiert sah und es akzeptieren musste, ging er durch dieses blühende Paradies voller Pflanzen und Tiere auf das Haus in der Mitte zu und fragte sich ständig, wer dieser C. denn nun war, der ihn da eingeladen hatte. Es nagte an ihm. So wie es immer an ihm nagte, wenn er etwas nicht wusste. Und es gab eigentlich nur wenig, was Wenkmann nicht wusste. Ohne sich selbst zu sehr auf die Schulter zu klopfen, aber Wenkmann wäre nahe an der Wahrheit dran, wenn er behaupten würde, das intelligenteste Lebewesen des Universums zu sein - obwohl er vielleicht nicht immer so wirkte. Er wäre auf jeden Fall in den Top 100 der intelligentesten Geschöpfe aller Zeiten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine tiefe, sonore Stimme wie aus dem Nichts.

Wenkmann blickte nach oben und sah einen älteren, gedrungenen Mann mit grauer Halbglatze auf dem Dach des Hauses stehen. Direkt unter einem Baum, von dem er gerade Obst pflückte.

»Die Äpfel sind reif, wissen Sie«, sagte der Mann.

»Wer sind Sie?«, fragte Wenkmann.

»Ich bin Gott…fried.«

»Gottfried?«

»Nein. Gott…fried. Die Punkte gehören zum Namen.«

»Gott…fried.«

»Genau. Und Sie sind?«

»Wenkmann.«

»Hm, sagt mir nichts«, meinte Gott…fried. »Warten Sie, ich komm runter.« Der Mann marschierte über das Dach zur Leiter und kletterte mühsam herunter. »Wissen Sie, meine Frau hat mir verboten, alleine aufs Dach zu klettern. Sie macht sich Sorgen. Sie meint, ich bin dafür schon zu alt.« Vorsichtig nahm Gott…fried eine Sprosse nach der anderen. Wie in Zeitlupe. »Jetzt muss ich immer alles da oben erledigen, wenn sie nicht da ist.«

Wenkmann holte die Einladung hervor. Er faltete sie auf.

»Also …« Gott…fried blieb vor Wenkmann stehen. »… wer sind Sie nun?«

»Sagte ich doch schon. Ich heiße Wenkmann.«

»Sie sind kein Gott«, sagte der Mann.

»Äh, nein, da wo ich herkomme, bin ich keiner. Aber hier, bei euch, ich weiß nicht, da könnte ich schon …«

Gott…fried hob beide Augenbrauen und sah Wenkmann fragend an. Wenkmann kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. So sah nur jemand aus, der es nicht gewohnt war, unwissend zu sein, sondern normalerweise stets alles wusste, also allwissend war. Wie Wenkmann.

»Wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte Gott…fried.

»Mit Hillström.«

»Wer ist Hillström?«

»Mein Raumschiff.«

»Ist er ein Gott?«

»Pfft, das hätte er wohl gern.«

»Wie sind Sie …«

»Was ist das hier?«, fragte Wenkmann. Er wollte nicht unhöflich sein, aber die Verwirrung des alten Mannes strapazierte seine Geduld. Er wollte zur Sache kommen.

»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie ein Gott wären …«

»Was kostet es?« Wenkmann holte seine Geldbörse hervor, klappte sie auf und gab am Display bereits Name und Adresse des Empfängers ein. Noch bevor er Gott…fried scannen konnte, winkte dieser ab und drehte sich um und nahm seinen Kübel voller frischer Äpfel.

»Das könnten Sie sich nie leisten«, sagte Gott…fried.

»Versuchen Sie’s doch.«

»Der Betrag wäre … unendlich groß.« Gott…fried gingin Richtung Eingangstür des Hauses.

»Kein Problem. Ich kann Ihnen unendlich überweisen, wenn es unendlich viel kostet«, sagte Wenkmann. »Ich mach einfach eine liegende Acht hin, das passt dann schon.«

Gott…fried blieb wie eingefroren stehen, drehte sich in Zeitlupe um und ging dann auf zitternden Beinen zu Wenkmann zurück.

»Sie sind nicht von hier, was?«, fragte Gott…fried.

»Nein, den Planeten kennen Sie nicht.«

»Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?«

»Sollen wir einen Sprung zurück in die Vergangenheit machen und ich sage es ihnen gleich am Anfang?«

»Sie … Sie können in der Zeit …« Gott…fried deutete auf die noch immer aufgeklappte Geldbörse von Wenkmann, auf die liegende Acht im Feld Betrag. »Und Sie haben so viel … also können sich …« Gott…fried schloss die Augen. Die Stirn legte sich in angestrengte Falten. »Entschuldigen Sie, ich bin … also … man begegnet nicht jeden Tag einem Außerirdischen.«

»Das versteh ich.«

Wenkmann tat es wirklich. Wenn es jemand verstehen konnte, dann er. Um es auch mit einer Geste auszudrücken, nickte er verständnisvoll. Auf Telemach hätte man ihn dafür verachtet und verhaftet. Auf Nosqard wäre er jetzt verheiratet. Aber auf der Erde beruhigte er damit nur einen alten Mann.

»Das hab‘ ich heute bekommen.« Er reichte Gott…fried den Brief. »Was ist das hier eigentlich?«, fragte Wenkmann.

Gott…fried lächelte, es war ein so richtig unsympathisch überhebliches Lächeln. »Also sind Sie doch nicht allwissend.«

Wenkmann haderte mit sich, ob er jetzt etwas sagen sollte. Er entschied sich dafür, zu schweigen. So gerne hätte er erwidert, dass dieser Gott…fried ja auch alles andere als allwissend war, aber er behielt es für sich. Er wusste ja, wie empfindlich diese Götter waren. Vor allem die auf der Erde.

Gott…fried las noch mal den Brief, betrachtete Wenkmann eingehend und nickte.

»Also gut«, sagte er. »Immerhin haben Sie eine Einladung von jemandem bekommen. Wir sollten zumindest herausfinden, wer das war.«

»Wahrscheinlich einer ihrer Kollegen.«

Auch wenn Wenkmann nicht mit Bestimmtheit alles wusste, er hatte doch eine ungefähre Ahnung, was das hier war. Das Einzige, wo er noch immer komplett im Dunkeln tappte, war die Identität von C.

»Gehen wir mal hinüber ins Büro«, sagte Gott…fried.

Wenkmann folgte ihm ins Innere. Das Haus unterlag dem gleichen Phänomen wie das gesamte Anwesen: Das Innere war größer als das Äußere. Es wurde nach innen, statt nach außen gebaut. Eine introvertierte Architektur eben.

»Einer der anderen Götter weiß vielleicht mehr«, sagte Gott…fried.

Im Büro herrschte reger Betrieb. Alle aktiven Götter der Menschheit waren vertreten. Alle schwer beschäftigt. Er marschierte neben Gott…fried durch die Reihe an Schreibtischen und Mitarbeitern.

Es war ein offenes Großraumbüro. Es wurde wild durcheinander gesprochen. Die Götter hingen an ihren Telefonen und nahmen Gebete entgegen, spendeten Trost oder erfüllten Wünsche. Die Erfolgsquotienten zeigten die Seelenreinheit, Intelligenz und das Bankkonto der Gläubigen an. Je klüger, desto schwerer zu bekehren. Je reiner die Seele, desto höher der Wert. Je reicher, desto besser. Es war ganz einfach. Es war ganz kapitalistisch.

Die großen Gottheiten wie Buddha, Vishnu, Charles Bukowski, Tom Hanks, Batman oder Lady Gaga waren schwer beschäftigt und kamen ihrer Arbeit kaum nach. Die weniger beliebten Gottheiten wie Thor, alle Kardashians, Osiris oder Quentin Tarantino hatten mehr Freizeit und nutzten sie dafür, neue Bibeln zu schreiben, wenn sie fleißige Götter waren, oder hingen unter ihren virtuellen Helmen in der digitalen Welt ab.

»Wer könnte dieser C. sein?«, fragte Wenkmann. »Haben Sie da eine Ahnung?«

»Das ist schwierig«, sagte Gott…fried. »Da kommen einige in Frage. Gibt es zufällig irgendwelche Gottheiten, die Sie persönlich kennen?«

Natürlich kannte er einige von ihnen persönlich.

Buddha zum Beispiel war eigentlich ein Zelestrier, sein richtiger Name war Kaoaheutefregn und er war ein Kindergartenfreund von Wenkmann. Sie kamen zwar aus unterschiedlichen Galaxien, aber das hielt ihre Eltern nicht davon ab, sie auf den gleichen Kindergartenplaneten zu schicken. Kaoaheutefregn wollte sich schon früh einen primitiven Planeten suchen, auf dem er sich zurückziehen konnte und seine Ruhe hatte. Die Erde schien damals wie geeignet dafür zu sein. Und Kaoaheutefregn nannte sich Buddha, weil Menschen seinen Namen nur mit einem gebrochenen Kiefer, zwei Zungen und mindestens drei ohne Narkose gerissenen Weisheitszähnen aussprechen könnten.

Odin wiederum war in der Volksschule eine richtige Nervensäge gewesen. Einmal hatte er Wenkmann vor den anderen Kindern die Hosen runtergezogen. Wenkmann wollte ihn darauf desintegrieren, aber das wurde zum Glück rechtzeitig verhindert. Sein richtiger Name war nicht Odin, fing aber auch nicht mit einem C an, sondern mit einem H. Im Gegensatz zu vielen Kollegen hatte Odin seinen Namen nur minimal verändert. Er nahm den Anfangsbuchstaben weg und tauschte ein E gegen das I. So simpel und doch so schlau. Er wusste, die Menschen würden keinen Hoden anbeten.

»Ich kenn hier einige«, sagte Wenkmann schlicht.

»Wir müssen uns irgendwas anderes überlegen, wie wir diesen Gott finden«, sagte Gott…fried.

»Vielleicht wird er mich finden, wenn er erst mal weiß, dass ich hier bin«, schlug Wenkmann vor.

Gott…fried überlegte, ließ es sich durch den Kopf gehen, wirkte kurzzeitig so, als hätte er den Faden verloren und wüsste nicht mehr, was ihm durch den Kopf gehen sollte, bevor es ihm doch wieder einfiel. Dann sagte er, dass es eine gute Idee sei, aus den vielen Äpfeln einen Kuchen für alle zu machen.

Wenkmann ließ es auf sich beruhen und fragte: »Was dagegen, wenn ich mich einfach weiter umsehe. Vielleicht fällt mir …«

»Der große Alte Cthulhu möchte Sie sprechen«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen.

»Ich kenne keinen Cthulhu«, sagte Wenkmann.

»Er möchte trotzdem mit Ihnen sprechen«, beharrte der Mann. Ein schlanker Kerl, bestimmt über vierzig, sah aber eher wie ein Bursche aus. Nur seine Augen, die hinter Brillen lagen, wirkten ernst und alt.

»Und wer bist du?«, fragte Wenkmann.

»Das ist Howard Phillips Lovecraft«, sagte Gott…fried. Er beugte sich näher zu Wenkmann. »Der persönliche Assistent von Cthulhu. Der ist ihm einfach treu ergeben. Bekommt schon seit Jahrhunderten kein Gehalt mehr, aber er bleibt bei seinem Herrn und Meister.«

»Was will dieser Cthulhu denn von mir?«, fragte Wenkmann.

»Er hat Sie hierher eingeladen«, sagte Lovecraft.

Das genügte Wenkmann als Antwort. Endlich kam er der Lösung näher.

»Auf geht’s.« Wenkmann bedeutete Lovecraft, voranzugehen.

»Bevor wir das Heiligtum betreten …« Er hielt Wenkmann ein dünnes schwarzes Tuch entgegen. »Bitte, verbinden Sie sich die Augen.«

Wenkmann tat es und machte dabei einen ganz eigenen, speziellen Knoten in die Augenbinde.

»Vielen Dank«, sagte Lovecraft und machte die Tür vor ihnen auf.

»Endlich ist der Reisende eingetroffen«, ertönte eine wässrige Stimme.

»Was heißt da endlich? Ich habe den Brief vor fünfzehn Minuten bekommen«, sagte Wenkmann.

»Schweig, Sternenwanderer. Du sprichst nur, wenn du gefragt wirst, hast du verstanden?« Ein erbostes Glucksen und Geplätscher ertönten.

»Karl?«, fragte Wenkmann. Das alles kam ihm zu vertraut vor.

»Schweig!« Der zornige Ausruf wurde von dem Geräusch eines fließenden Baches untermalt.

»Karl, ich weiß doch, dass du es bist«, sagte Wenkmann.

»Scheiße, verdammt!« Ein glitschiges Aufschlagen war zu hören. »Nimm ihm die Augenbinde ab, verflucht noch mal.«

Wenkmann nahm sich die Augenbinde lieber selbst ab. Der Knoten, den er gemacht hatte, wäre für einen Menschen tödlich. Ein Fehler beim Öffnen und der Knoten würde zum Leben erwachen und denjenigen strangulieren, der versuchte, ihn zu öffnen. Eine Technik, die Wenkmann von den Samuraikröten von Stalag 71 gelernt hatte.

»Fuck«, sagte Karl.

Karl saß nicht auf einem Thron, sondern schlicht an einem Konferenztisch auf einem mehr als durchgesessenen Drehstuhl. Die Lehne war wackelig und eine Rolle quietschte beleidigt bei jeder Fahrt mit dem Sessel. Karl überragte Wenkmann nur ein klein wenig, was aber stark an dem überdimensional voluminösen, wasserballrunden Wasserkopf lag und den zahlreichen Tintenfischtentakel, die aus seinem Unterkiefer kamen. Auch die Flügel am Rücken verstärkten einen imposanten Eindruck und ließen Karl größer erscheinen, als er war.

»Das du mich so schnell durchschaust, hätte ich nicht erwartet«, sagte Karl. Da war jetzt ein breites, triefendes Grinsen in seinem Gesicht, sofern man unter diesen Tentakeln überhaupt einen Mund ausfindig machen konnte.

»Leicht hast du es mir nicht gemacht«, sagte Wenkmann. »Und seit wann hast du so einen komischen Namen?«

»Cthulhu?«

»Ja, genau.«

»Hat der mir da gegeben.«

»Dein Assistent?«, fragte Wenkmann und blickte in Richtung Lovecraft. »Warum hat der dir so einen Namen gegeben? Du heißt doch nur Karl. Sogar für Menschen ist der Name einfach auszusprechen.«

Karl zuckte mit den Flügeln. »Wahrscheinlich war ihm Karl zu unspektakulär.«

»Und du bist hier also auch eine Gottheit?«, fragte Wenkmann. »So richtig mit Religion und so.«

Er sah sich im Konferenzraum um. Beeindruckt war er nicht. Die Technik war auf dem Stand von 3D-Projektoren stehen geblieben, als gäbe es keine weiteren sechs Dimensionen. Der Kaffee war kalt und schal, nicht die Spur von sich selbst regenerierendem Kaffeesatz, der in einer Endlosschleife neuen Kaffee produzierte. Es war erbärmlich.

»Ja, gab es mal.« Karl seufzte wässern. »Ist jetzt aber schon ein paar Jahrhunderte her. Seitdem bin ich auf dem absteigenden Ast, weißt du.«

Karl steckte sich eine lange Zigarette zwischen den, von rechts gesehen, fünften und sechsten Tintenfischarm in der obersten Reihe und zündete sie an. Er nahm einen tiefen und genüsslichen Zug.

»Weißt du, die Leute glauben nicht mehr so an mich. Ich kann mit all diesen Monstern da draußen nicht mehr mithalten. Es gibt Götter, die grausamer und mächtiger sind. Oder solche, die fremdartiger und gefährlicher ausschauen. Es gibt einfach viel zu viel von allem, weißt du.«

»Das versteh ich, aber warum hast du mich hergerufen?« Er legte seinem Kumpel freundschaftlich einen Arm um die Schulter und vergaß dabei komplett, wie nass Karl immer war.

»Also weißt du, meine Religion ist jetzt kurz vorm Aussterben, ich sag’s dir, wie es ist. Und wenn das passiert, na ja, dann bin ich arbeitslos. Das heißt, ich kann mit eingekniffenen Flügeln und zusammengezogenen Tentakeln abreisen und wieder bei meinen lieben Eltern wohnen.«

»Es gibt nicht viele Möglichkeiten«, sagte Wenkmann schließlich und widmete sich wieder dem eigentlichen Problem.

»Das stimmt.«

Wenkmann stand auf und marschierte im kleinen Konferenzraum auf und ab. Durch eine Scheibe sah er die anderen Kollegen im Großraumbüro. Erkannte, wie sie arbeiteten.

»Eine Möglichkeit wäre es, alle anderen Gottheiten da draußen umzubringen«, sagte Wenkmann. Er schlug diese Möglichkeit nur der Vollständigkeit halber vor. Es war nicht unbedingt eine, die er ernsthaft in Betracht ziehen wollte. »Mein Raumschiff würde sich freuen, das zu erledigen.«

Karl winkte sofort mit seinen triefenden Krallen ab. »Nein, Mann, das kommt gar nicht in Frage. Ich weiß schon, wie ich in meiner Religion dargestellt werde, als Großer Alter, schrecklicher Herrscher, bla bla bla … aber du weißt ja, ich bin Pazifist – durch und durch.«

»Ja, ich weiß.«

»Hast du noch was auf Lager?«

Wenkmann schaute den erfolgreichen Göttern bei der Arbeit zu. Wie sie einen Kunden bekehrten, einen Wunsch erfüllten, ein Gebet erhörten. Wie ihr Erfolg gemessen wurde.

»Eine Möglichkeit gibt es noch«, sagte Wenkmann. Alles was Karl brauchte waren Gläubige, Anhänger für seine Religion. »Was sind das für Zahlen da?«, fragte er.

Karl kam zur Glasscheibe und blickte zu seinen Kollegen hinaus, zu den Zahlen, auf die Wenkmann deutete.

»Du meinst den Erfolgsquotienten«, sagte Karl. »Intelligenz plus Seelenreinheit plus Bankkonto.«

»Genau.«

Plötzlich war alles ganz klar und einfach. Wenkmann ging schnell die Zahlen durch und rechnete doppelt und dreifach nach.

»Was brauchst du denn«, sagte er zu Karl. »Du brauchst Kunden, Käufer …«

»Ich brauch Leute, die an mich glauben, die sich zu meiner Religion bekennen. Und zwar möglichst viele.«

»Verwechsle Quantität nicht mit Qualität. Streng genommen brauchst du nur einen.« Wenkmann zeigte auf sich.

»Du würdest meiner Religion beitreten?«, fragte Karl gerührt.

»Wenn es dir hilft, natürlich.«

»Mir helfen? Das würde mir beide Ärsche retten.«

»Abgemacht. Setz mal den Vertrag auf.«

Es war eigentlich ganz einfach. Wenkmann war eines der intelligentesten Geschöpfe des gesamten Universums. Da seine Spezies so etwas wie Moral und Seele nicht kannte und er noch nie einer Religion angehört hatte, war seine Seele so rein und unbeschrieben wie die eines Neugeborenen. Und was die Finanzen betraf, dank seines schwarzen Finanzlochs in der Geldbörse verfügte er ja über unendlich viel Geld. Mit Wenkmann als bekehrtem Gläubigen hatte Karl für viele Jahrtausende ausgesorgt.

Eine Unterschrift später und Cthulhu war die größte Gottheit weltweit. Seine Religion überragte alle anderen. Jeder las wieder das Necronomicon und die Schriften von H.P. Lovecraft. Karl war erneut ganz dick im Geschäft.

»Ich schulde dir was«, sagte Karl.

»Irgendwann komm ich vielleicht drauf zurück.«

»Wann immer du willst.«

Karl begleitete seinen Freund bis hinaus in den paradiesischen Garten, der das Haus umgab.

Die Tür ging auf und die Frau von Gott…fried kam nach Hause. Schlecht nur für Gott…fried, dass er schon wieder auf dem Dach oben war und seine Frau ihn auf frischer Tat dabei ertappte, wie er einen Teil des Dachs reparierte.

»Ich versteh nicht, wieso er das nicht seinen Sohn machen lässt«, sagte Karl. »Der ist so geschickt mit den Händen.«

Wenkmann winkte Gott…fried zum Abschied zu, umarmte seinen Kumpel und verließ dann das Anwesen, den Sitz oder vielmehr den Arbeitsplatz der Götter. Der Olymp dieser Zeit war nichts weiter als ein schmuckloses Großraumbüro.

 

Über den Autor

Marco Rauch schreibt Romane und Kurzgeschichten, vorwiegend in den Genres Thriller, Crime und Horrer mit einem Hauch Sci-Fi. Neben zahlreichen Kurzgeschichten und Essays, hat er auch die Romane Hard Boiled und das Sequel Fatality geschrieben. Berserker ist sein erster Roman bei Savage Types. Er probiert es auch immer wieder mit Drehbüchern für Kurz- und Spielfilme, aber davon wurde bisher noch nichts verfilmt.

Außerdem verfasst er laufend Film- und Literaturrezensionen für pressplay.at, irgendwie muss er sein Theater-, Film- & Medienwissenschaftsstudium ja rechtfertigen.

   

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