X

Cookie Notice

Wir nutzen auf unserer Website Cookies und andere Technologien, um zu analysieren wie Sie unsere Webseite nutzen, Inhalte zu personalisieren und Werbung zu schalten. Durch die weitere Nutzung erklären Sie, dass Sie mit der Nutzung von Cookies einverstanden sind. Beachten Sie bitte, dass dieser Hinweis und die Einstellungen nur für die AMP Version unserer Seite gelten. Auf der regulären Website treffen Sie die Auswahl über den Cookiebot.

Startseite
Brett- und Kartenspiele Cosplay Filme Games Intern Interview Kurzgeschichten LARP Literatur Musik Pen & Paper Rezepte Sonstiges Tabletop Veranstaltungen

Die Erde stirbt – zum letzten Mal

„Zerrissene Erde“ von N.K. Jemisin setzte neue Maßstäbe in der Phantastik

Zur klassischen Webseite

Kategorie: Literatur

Es gibt Bücher, die liest man und wird hervorragend unterhalten. Dann gibt es die, die einen nachdenklich stimmen. Und dann gibt es noch Bücher, die unsere Sicht auf die Welt und die Literatur nachhaltig verändern können. „Zerrissene Erde" von Nora K. Jemisin ist für mich so ein Buch.

Der Roman ist der Auftakt der Broken Earth-Trilogie, die in den USA bereits vollständig erschienen ist. Er wurde 2016 mit dem Hugo Award für den „Besten Roman“ ausgezeichnet, dem wichtigsten Fantasy- und Science-Fiction-Preis in den USA. Damit war Nora K. Jemisin die erste afroamerikanische Autorin, die diese begehrte Auszeichnung erhielt. Auch die anderen beiden Bände der Reihe wurden mit dem Hugo Award prämiert.

Bei so viel Vorschusslorbeeren war es natürlich schwierig, unvoreingenommen an den Roman heranzugehen. Aber ich darf vorwegschicken: Mich hat Zerrissene Erde voll und ganz überzeugt.

Drei Schicksale, eng miteinander verwoben

In Zerrissene Erde eröffnet Nora K. Jemisin ihren Leserinnen und Lesern eine zerstörte Welt, die am Abgrund steht. Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis bringen die Menschheit immer wieder an den Rand der Vernichtung, verschlingen Städte, ganze Völker und reißen unerbittlich Löcher in die Erdoberfläche.

Rettung versprechen einzig und allein die Orogenen, Menschen, die die Fähigkeit besitzen, Gestein und Erde zu formen und seismische Aktivitäten zu kontrollieren[1]. Die Mächtigsten unter ihnen sind in der Lage, Naturkatastrophen aufzuhalten – oder diese zu entfesseln. Aus diesem Grund gelten die Orogenen als Ausgestoßene und als hochgefährlich, nicht als Menschen, sondern als Werkzeuge, die kontrolliert und überwacht werden müssen – und deren Tod keinen Verlust darstellt.

In Zerrissene Erde erleben wir die Geschichte aus drei Perspektiven. Die Orogene Essun versteckt ihre Gabe vor ihren Nachbarn und Freunden und verdingt sich als Lehrerin, um sich nicht zu verraten. Doch dann findet sie eines Tages den Körper ihres toten Sohnes, erschlagen vom eigenen Vater. Blind vor Trauer macht sich Essun allein auf den Weg, um ihren Ehemann zu finden – und ihre gemeinsame Tochter, die er bei sich hat. Und je weiter sie auf ihrem Weg vordringt, desto sicherer ist sie: Die Welt wird eine weitere Katastrophe nicht überstehen.

Für das Mädchen Damaya, das von ihren Eltern wie ein Tier im Stall eingesperrt wird, beginnt ein neuer Lebensabschnitt, als sie in die Großstadt Jumenes gebracht wird, um dort im Fulcrum, der Ausbildungsstätte für Orogene, den Umgang mit ihren Kräften zu lernen; streng kontrolliert von den Wächtern, die in den Orogenen eine tickende Zeitbombe sehen. Damaya lernt schnell, wo ihr Platz in dieser Gesellschaft ist – nämlich ganz unten.

Und zuletzt ist da noch Syen, eine Orogene im Dienst des Fulcrum, die zusammen mit dem wesentlich erfahreneren Alabaster aufbricht, um einen gemeinsamen Auftrag zu erfüllen. Dabei stoßen die beiden auf eine Reihe erschütternder Geheimnisse, die Syens gesamte Weltsicht in Frage stellen und in ihr den Wunsch nach Rebellion wecken. Denn das Leben als Ausgestoßene ist nicht das Leben, das sie führen will.

Es dauert eine Weile, bis Parallelen zwischen diesen drei unterschiedlichen Handlungssträngen deutlich werden, doch gegen Ende des Romans fallen sie tatsächlich wie Puzzlestücke ineinander und ergeben ein beeindruckendes Gesamtbild, das Lust darauf macht, den Roman noch ein zweites Mal zu lesen, um alle Zusammenhänge zu begreifen.

Eine von Katastrophen bestimmte Welt

Beeindruckend an Zerrissene Erde ist vor allem der außergewöhnliche Weltenbau. Im Gegensatz zu anderen Fantasy- und Science-Fiction-Romanen orientiert sich Jemisins Broken Earth weder an einer realen Epoche, noch an bekannten, archetpyischen Elementen der Fantasy oder Science Fiction, sondern kreiert etwas völlig Neues und Einzigartiges.

Der Einstieg in den Roman ist daher anspruchsvoll, denn weder kann sich der Leser/die Leserin an bekannten Motiven orientieren, noch räumt die Autorin der Erklärung ihrer Welt viel Platz ein. Beim Lesen erlebt man die Welt, man sieht, hört und fühlt sie durch die Augen der Charaktere, ohne von Informationsblöcken gelangweilt zu werden. Verwendete Begriffe erklären sich im Laufe der Zeit, gesellschaftliche Systeme und Normen geben ihre Bedeutung preis, aber es dauert eine Weile, bis man sich als Leser/Leserin in dieser durch und durch zerstörten Welt zurechtfindet. Zugleich entsteht aber das Gefühl, aktiv Teil des Geschehens zu sein, und nicht als unbeteiligter Beobachter daneben zu stehen. Auch die eingestreuten Zitate und Sinnsprüche aus der Geschichte der Welt verstärken diesen Eindruck.

Zwei spezielle Aspekte des Weltenbaus möchte ich besonders herausgreifen: Zum einen gelingt es Jeminsin, mit kleinen Details nicht nur eine unheimlich dichte, sondern auch eine sehr diverse Welt zu erschaffen. An einer Stelle flirtet die Verkäuferin eines Ladens mit der Protagonistin, eine zentrale Figur outet sich als homosexuell und eine Nebenfigur wird ganz beiläufig als Trans-Frau eingeführt, ohne ihrer Identität viel Gewicht zu geben und sie als „anders“ oder „ungewöhnlich“ darzustellen. Dadurch werden verschiedene sexuelle und geschlechtliche Orientierungen ganz selbstverständlich Teil der Welt. Darüber hinaus etabliert Jemisin ein Setting, in dem nicht weiße, sondern dunkle Hautfarbe den Standard darstellt, und bricht damit bewusst mit der eher weiß geprägten Fantasy- und Science-Fiction-Literatur.

Zum anderen erwecken die erschreckenden Details des Weltenbaus, die nach und nach enthüllt werden, eine intensive, beklemmende Stimmung, der man sich nur schwer entziehen kann. Diese resultiert vor allem aus der Art und Weise, wie die Menschen mit Orogenen umgehen. Sie geben ihnen Schmähnamen, stoßen sie aus der Gesellschaft aus, töten sie sogar, ohne mit der Wimper zu zucken, solange sie noch Kinder sind. Auch die „professionellen“ Orogenen wie Syen werden kleingehalten, unterdrückt und für brutale Experimente oder „Zuchtprogramme“ missbraucht, da die Gesellschaft in ihnen in erster Linie Waffen sieht, keine echten Menschen. Nora K. Jemisin, selbst Afroamerikanerin, hat hier viele ihrer eigenen Erfahrungen mit Unterdrückung und Diskriminierung verarbeitet, was sie teils – wie sie selbst gesteht – an ihre eigenen Grenzen geführt hat. Auch wenn Zerrissene Erde also keine perfekte Rassismus-Metapher darstellt – die Orogenen werden wegen der Ambivalenz ihrer Fähigkeiten ausgestoßen, nicht wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit – zeigt der Roman sehr eindrucksvoll auf, was Diskriminierung Betroffenen antut und wie leicht es ist, Personen strukturelle Gewalt anzutun, wenn man ihnen ihre Menschlichkeit abspricht.

Überleben und Veränderung

Nicht nur der Weltenbau, auch die Figuren sind hervorragend ausgearbeitet und weisen eine große Charaktertiefe auf. Dies gilt nicht nur für die Haupt-, sondern auch für die Nebenfiguren, die allesamt plastisch gezeichnet sind. Die Akteurinnen und Akteure sind vielschichtig und kompliziert, sie haben Ecken und Kanten, Schwächen und Fehler – und sind so gar nicht die klassischen Heldinnen oder Helden, die man aus der Phantastik-Literatur kennt

In einem Interview mit dem Guardian sagte Jemisin: „As a black woman I have no particular interest in maintaining the status quo. Why would I?“ Dieses Statement zieht sich auch durch ihren Roman. Es geht den Protagonisten und Protagonistinnen nicht darum, den Kampf gegen einen stereotypen Bösewicht zu gewinnen oder sich als Heldin hervorzutun, sondern einfach nur darum, zu überleben und eine Veränderung der schrecklichen Verhältnisse zu erreichen, in denen sie gefangen sind. Und das alles in einer erbarmungslosen Welt, die zum Sterben verurteilt ist.

Aufbruch zu neuen Ufern

In ihrer bewegenden Rede zum Hugo Award 2018 erzählt Nora Jemisin nicht nur von den Hindernissen, die sie als schwarze Frau und Fantasy-Autorin überwinden musste, sondern auch von der Bedeutung ihrer Bücher für das Fantasy- und Science-Fiction-Publikum. „Science Fiction und Fantasy sind ein Mikrokosmos“, erklärt sie. „Sie sind in keiner Weise losgelöst von den Vorurteilen in der realen Welt.“ (Übers. d. Verf.).

Unter dieser Prämisse darf man Zerrissene Erde durchaus als Meilenstein in der Fantasy- und Science-Fiction-Literatur betrachten. Der Roman ist nicht unbedingt leichte Kost, der Stil ist eigenwillig, der Weltenbau kompliziert und in der deutschen Übersetzung gehen einige Bedeutungsebenen bestimmter Begriffe verloren. Trotzdem lohnt es sich, Zerrissene Erde zu lesen. Der Roman setzt neue Maßstäbe und zeigt einmal mehr eindrucksvoll auf, dass Fantasy und Science-Fiction mehr sind als Eskapismus in schönere Welten. Sie sind vielmehr auch ein Spiegel der Realität, in dem sich reale Bedrohungen und Probleme wie Diskriminierung, Rassismus und Klimaveränderungen wiederfinden können. Zerrissene Erde tut an vielen Stellen weh und geht unter die Haut, rüttelt auf und berührt. Genau das, was Nora K. Jemisin mit ihrer Trilogie beabsichtigt hat.

Den Schlusssatz ihrer Rede beim Hugo Award widmet Nora K. Jemisin den margnialisierten und unterdrückten Menschen auf der ganzen Welt: „Let 2018 be the year, that the stars came closer for all of us. The stars are ours.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

[1] „Orogen“ ist ein Begriff aus der Geologie und bezeichnet durch Faltung/Plattenverschiebungen entstandene Gebirge.

Weitere Artikel: