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Der Bestseller

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Die PAN-Kurzgeschichte des Monats Dezember von Thomas Karg erzählt von einem Autor mit einer Schreibblockade, der auf der Suche nach Inspiration zu einem mysteriösen Ort reist. Doch was er dort findet, ist mehr als eine Idee.

Tony Rileys letzter Bestseller lag inzwischen fünfzehn Jahre zurück. Doch eine Schreibblockade, egal wie hartnäckig sie auch sein mag, lässt einen Autoren nicht das Gespür für die Idee verlieren.

Die weite Reise von Minnesota nach Eichendorf beim Starnberger See war von vielen aus seinem Umfeld – vor allem von ihm selbst – als vollkommen verrückt bezeichnet worden. Nur Linda, seine Frau, liebte diesen Plan, wenn auch bloß, weil sie unbedingt ein Mal in ihrem Leben nach Deutschland wollte. Der letzte Roman, für den er in Europa recherchiert hatte, „Prypjats Riesenrad“, hatte sich katastrophal verkauft und weder Kosten noch Zeitaufwand gerechtfertigt. Er spürte es sofort, dass dies nun anders werden würde.

Seit Stunden war er mit dem Auto und letztendlich zu Fuß auf den Waldwegen Bayerns unterwegs, wobei er sich aufgrund der fehlenden Beschilderung mehrfach verlaufen hatte.

Bereits zu Hause war er von diesem Ort gefesselt worden, als er zum ersten Mal davon gelesen hatte. Jetzt, da er die letzten Meter des verworrenen Waldweges hinter sich gebracht hatte, bestand kein Zweifel mehr. Die Pestkapelle inmitten des Waldes nahe Eichendorf in Oberbayern würde der Handlungsort seines neuen Buches – seines neuen Bestsellers - werden. Die Inspiration sprang ihm geradezu entgegen, als er die Kapelle im Nebel erblickte. Bereits die Fotos, die er entlang des Weges geschossen hatte, von jenen gespenstischen Bäumen, die mit ihren langen, blätterlosen Ästen nach ihm zu greifen schienen wie Geisterhände, sorgten für eine angenehme Gänsehaut bei ihm.

Angeblich war der Wald im Umkreis von fünf Kilometern um den ehemaligen Pestfriedhof verflucht. Zudem gab es noch zahllose weitere Geschichten, die die Einheimischen über diesen Ort zu erzählen wussten. Gerade die vielen – teils durchaus ernst gemeinten – Warnungen und nicht allzu lang vergangenen Gespenstersichtungen hatten Tony neugierig gemacht. Von den Vermisstenfällen ganz zu schweigen. Wie jeder Mensch bei Verstand glaubte er nicht eine dieser Erzählungen, schließlich hatte er in Amerika und auch Europa genug Spukorte besichtigt und die Legenden in mehr oder weniger erfolgreichen Romanen und Kurzgeschichten verwurstet. Eine Nacht im Amityville-Anwesen war ebenso spurlos an ihm vorbeigegangen wie ein Bad im Loch Ness oder ein ganzes Wochenende in einer einsamen Waldhütte in Kanada, wo Big Foot immer wieder zu sehen gewesen sein sollte. Selbst das grüne, klebrige Monster im Schrank seiner beiden Kinder zeigte sich bislang offenbar nur ihnen.

Nun, für ihn war die Atmosphäre das, was zählte. Sie war der Stoff, aus dem gute Geschichten entstanden.

„Wow“, hauchte er und hob die Kamera. Er war zur rechten Zeit am rechten Ort. Wann hatte er sich zuletzt so gefühlt? Er wusste es nicht und es spielte keine Rolle. Tony erkannte guten Grusel, wenn er davon eingenommen wurde.

Er ging näher zu einem der Brunnen, die um die Kapelle herum angeordnet waren. Vor Jahren hatte man auf ihnen massive Gitter angebracht, nachdem vermehrt die Leichen von Menschen darin gefunden worden waren, die als verschwunden gegolten hatten. Einst hatten die vier Brunnen als Gräber für die unzähligen Pesttoten gedient, bis sie randvoll gewesen waren und man die Leichen rings um die Kapelle gestapelt hatte. Dort, wo nun die Kapelle stand, sollte ebenfalls ein Brunnen gewesen sein. Angeblich, so hatte Tony gelesen, befand sich hier ein unterirdisches System von Gängen, die von einem Schacht zum anderen führten und dabei die Form eines Pentagramms ergaben. Nur zu gern hätte er eines der Gitter abgeschraubt und sich selbst davon überzeugt. Vermutlich war es gerade diese Art der Neugier, die für das Verschwinden mancher an diesem Ort verantwortlich war.

Doch die Brunnen würden in seinem Roman nur ein Nebenschauplatz sein. Weshalb er vor allem hier war, war natürlich die Kapelle. Dort, wo der Teufel selbst hausen sollte. Wer dessen rot glühende Augen erblickte, so hieß es, verfiele dem Irrsinn, der ihnen innewohnte. Tony wusste, dass ein Roman über die Geister der „Alten Welt“ in Amerika hervorragend ankommen würde, nachdem die lauen Gruselgeschichten über Amityville und das Winchesterhaus bis aufs Letzte ausgelutscht worden waren. Das übersinnliche Grauen direkt vor der Haustür zog beim Leser nicht mehr, aber ein aufgegebenes Gotteshaus, versteckt in einem verfluchten Wald auf der anderen Seite des Erdballes … Damit würde Tony Riley wieder den Ruhm vergangener Tage erlangen!

Er marschierte zur Kapelle. Ein unscheinbares Gebäude mit einem kleinen Turm, nichts Besonderes. Es wirkte weder verfallen noch neu. Tony machte einige Bilder davon. Mithilfe seiner Fantasie und seines Schreibtalents würde er das Häuschen in eine imposante Kathedrale der Hölle verwandeln. Er brannte darauf, sein Buch zu schreiben. Noch in dieser Nacht würde er damit beginnen. Und jetzt wusste er, wann er sich zuletzt so gefühlt hatte – nämlich bei der Recherche in Point Pleasant im Bundesstaat West Virginia zu „Herr der Motten“, seinem ersten und einzigen Bestseller. Kreativität und Inspiration tanzten Samba.

Der Eingang zur Kapelle war eine massive, aber unverschlossene Holztür. Tony fand sie wenig spektakulär, vor allem dafür, dass der Teufel selbst dort immer wieder von allzu neugierigen Wanderern gesichtet wurde. Zudem roch es muffig, als wäre seit Jahr und Tag niemand mehr hierhergekommen. Tony knipste den Raum einmal in der Totale, dann den Altar, die Decke und die Aussicht, die man vom Fenster aus hatte – für jene Szenen, in der er aus der Sicht der Teufelskreatur schreiben wollte, die mit ihren wahnsinnigen Augen aus dem Fenster starrte, um das nächste Opfer auszuerwählen.

Die Schnappschüsse durch das schmierige Fenster waren perfekt. Oh ja, daraus konnte er etwas Großes machen.

Langsam wurde es dunkel. Sechzehn Uhr dreißig deutscher Zeit, der November war der Monat für einen Horrorautoren. Doch das bedeutete ebenso, dass er schnell zurück zu seinem Wagen musste. Schließlich wollte er die Nacht nicht umherirrend in einem Wald verbringen.

 

Es war acht Uhr abends, als Tony die Herberge betrat, die sich in Polling, einer Ortschaft nordwestlich der Pestkapelle, befand. Natürlich wäre auch eine komfortablere Unterkunft im nordöstlichen Seeshaupt direkt am Starnberger See möglich gewesen, doch Tony wollte seine einzigartigen Eindrücke von der Kapelle im Nebel nicht mit der Idylle eines Sees vermischen. Der Grusel und der Horror sollten seine Gedanken beschäftigen, daher kam ihm die kleine Herberge, die selbst ein Spukort hätte sein können, gerade recht.

Die Rezeption war im Grunde nicht mehr als ein kleiner Tresen mit einer Frau dahinter, die nur sehr spärliches Englisch sprach. Während er auf seinen Schlüssel wartete, entdeckte er ein weiteres nettes Detail: einen Wolpertinger. Auch wenn ihm das Wesen aus Internetrecherchen bekannt war, so sah er eine solche Skulptur zum ersten Mal in echt. Ein ausgestopfter Hase mit Eulenflügeln, kurzem Geweih und Eichhörnchenschwanz – vielleicht würde auch dieses Tierchen seinen Platz im Buch bekommen. Jenseits der Alten Welt war das putzige Fabelwesen jedenfalls nicht allzu bekannt.

Endlich! Die Frau reichte ihm den Schlüssel. Er konnte es kaum erwarten, in die Tasten seines Laptops zu hämmern. Linda würde noch einige Stunden in der Nähe des Starnberger Sees unterwegs sein, bevor ein Taxi sie betrunken zurückbrachte und sie ihren Sex einfordern würde. Tja, sie war nun mal deutlich jünger als er und somit am Wochenende gern lange unterwegs, auch ohne ihn. Egal, sie sah gut aus und liebte ihn gleichermaßen wie all seine Bücher – was wollte er mehr? Er war an ihre Unternehmungslust gewöhnt, und immerhin verschaffte diese ihm genug Zeit, die ersten Szenen in Ruhe zu schreiben.

 

Dreiundzwanzig Uhr. Tony hockte noch immer mit dem Laptop am Schreibtischchen. Daneben standen eine drei viertel volle Flasche Zwetschgenwasser und ein Schnapsgläschen. Das Display war bis auf acht Zeilen schwarzen Textes vorwurfsvoll weiß geblieben. Die Idee war reiner Bullshit. Die Gewissheit hatte ihn hinterrücks mit stählernen Klauen an den Eiern gepackt und aus seiner heilen Welt herausgerissen. Wollte er der Leserschaft wirklich etwas Neues bieten, indem er eine Geschichte über den Teufel verfasste? Und war er extra dafür über den Großen Teich gereist? Bis hierher in irgendein bayerisches Kaff? Sein Kopf schmerzte von seiner eigenen Dummheit. Herrgott! Wofür der ganze Scheiß? Für nichts und wieder nichts!

Alles, was er in den letzten drei Stunden geschrieben hatte – diese acht verrotzten Zeilen –, erfüllte ihn mit Scham. Auch die Blicke in seine Konzeptblätter verstärkten dieses Gefühl, anstatt es zu besänftigen. Was hatte er sich dabei nur gedacht? Wollte er sich mit dem Comebackversuch etwa lächerlich machen wie ein Boxer, der aus Geldnot mit weit über vierzig noch einmal in den Ring stieg? Die Kritiker würden ihn zerreißen, wenn er nach drei Jahren Pause mit einem zweiten „Prypjats Riesenrad“ um die Ecke kam. Von wegen Kritiker. Vermutlich würde er nicht einmal mehr einen Verlag für diesen Bockmist finden. Kannte man den Namen Tony Riley denn überhaupt noch nach all der Zeit?

Er füllte das Schnapsglas.

Ach, was soll's. Er behielt die Flasche in der Hand und nahm einen großen Schluck daraus. Das Zeug schmeckte ekelhaft, doch auf der anderen Seite war es für die Situation einfach das Richtige, denn es brannte im Hals und benebelte den Kopf.

Er war gerade im Begriff, den Laptop zuzuklappen, als … Einen letzten Versuch wollte er noch wagen. Er hatte sich vorgenommen, die Bilder noch nicht zurate zu ziehen, da er sie erst später im Roman benötigen würde. Aber es blieb ihm keine Wahl. Vielleicht würde er wenigstens für einen kleinen Moment das Gefühl vom Nachmittag wiederherstellen können und dazu – wenn die Romanidee auch eine absolute Katastrophe war - wenigstens eine Kurzgeschichte schreiben können. Manchmal war es ihm gelungen, einer solchen genug Selbstvertrauen abzugewinnen, um sogar einen Roman daraus zu basteln. Er wollte noch nicht aufgeben. Auch wenn ihm die Tränen schon in den Augen standen.

Er holte die Kamera aus seiner Tasche, die neben ihm auf dem Boden lag, und schloss sie am Laptop an. Der Ordner war prall gefüllt mit Bilddateien. Er öffnete das erste Foto. Es zeigte den Waldrand mit den blätterlosen Bäumen, das nasse, bräunliche Laub am Boden. Der perfekte Schauplatz für eine klischeehafte 08/15-Geschichte. Gelangweilt klickte er weiter. Auch auf den nächsten zig Bildern war nichts als Wald zu sehen. Was für ein Scheiß, dachte er, biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf.

Doch dann … Tonys Stirn legte sich in Falten. War das ein Mensch, der dort in der Ferne durch den Nebel spazierte? Ganz genau war es nicht zu erkennen. Erst die nächsten Fotos brachten die Gewissheit, dass Tony wohl nicht allein bei der Kapelle gewesen war. Sagen und Mythen zogen nun mal Neugierige an wie ihn selbst eben auch. Es war nichts Verwerfliches daran, nur konnte er sich absolut nicht  erinnern, jemanden gesehen zu haben. Auf den folgenden Aufnahmen war die Person immer deutlicher zu sehen, sodass er sich inzwischen wunderte, davon nichts mitbekommen zu haben.

Als er ein Foto weiterklickte, fühlte er sich, als wäre ein Eimer eiskalten Wassers über seinem Kopf ausgeschüttet worden. Nein, es war nicht dieser angenehme Schauer, den er bei guten Ideen bekam und den er so liebte. Die Gedanken ans Schreiben und an den Roman waren in diesem Moment gänzlich verschwunden. Die Person auf dem Bild glich ihm selbst von Kopf bis Fuß. Angefangen bei der schwarzen Mütze über den Dreitagebart und die braune Jacke bis hin zum Fotoapparat, den er zwischen seinen Händen hielt.

Eine Weile tat Tony gar nichts, außer das Bild anzustarren. Dann fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht, um die Trunkenheit abzustreifen, und begann nachzudenken. Wie wahrscheinlich war es, dass sein genauer Doppelgänger mit ihm zum selben Zeitpunkt am selben Ort war und er ihn nicht gesehen hatte? Aber was wäre die andere Erklärung gewesen? Er hatte die Kamera doch zu keiner Zeit aus der Hand gelegt, keine Chance sie auszutauschen, oder? Hektisch klickte er weiter. Immer wieder erschien das Motiv des von der Seite abgelichteten Doppelgängers, der seine Kamera vor das Gesicht hielt. Kein Zweifel: Dieser Doppelgänger war er selbst. Tony nahm einen Schluck Zwetschgenwasser. Dann kniff er einige Sekunden die Augen zu.

Was ging hier vor? Spielte ihm sein Kopf einen Streich, weil er übermüdet und angetrunken war? Er klickte weiter. Die Fotos wurden immer grotesker. Sie zeigten ihn in der Kapelle, während er den Altar knipste – geschossen worden waren sie durch das Fenster.

Und dann zeigte ihn eines erstmals direkt von vorn. Tony erstarrte erneut. Er erinnerte sich genau: Für seine Recherche hatte er mehrere Schnappschüsse von der Aussicht durch das Fenster der Kapelle gemacht. Doch dass dabei jemand mit einer Kamera genau vor ihm stand, wäre ihm keinesfalls entgangen. Es war niemand da gewesen!

Wie hat dieser Mistkerl das gemacht?, fragte sich Tony. Erst verfolgt er mich unerkannt auf Schritt und Tritt, dann schafft er es, die Kameras auszutauschen und dann … Er muss ein starkes Zoomobjektiv verwendet haben, um mich von vorn zu knipsen!

Ja, so musste es gewesen sein. Tony atmete auf. Doch nur für einen Augenblick. Denn das nächste Bild zeigte ihn unten, an der Rezeption, während er auf den Schlüssel wartete. Das nächste, als er die Treppe nach oben ging.

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Der Fremde war hier. Mit ihm. In diesem Hotel.

Mit angsttauben Fingern klickte er weiter zum letzten Bild. Es zeigte ihn vor dem Laptop im Zimmer, die Flasche daneben.

Tony sprang auf und fuhr herum. Ihm war eiskalt und feuerheiß zugleich. Er stürzte in die Küchennische, riss die Schublade auf und umklammerte das längste Messer, das er fand.

„Wo steckst du, du Mistkerl?!“

 

Zwar machte Linda der Jetlag zu schaffen, doch sie hatte einen tollen Tag gehabt. Ihr Mann, ein Schriftsteller, was sie nie zu erwähnen vergaß, hatte in der Zwischenzeit für seinen neuen Bestseller recherchiert (diesmal würde es ein Bestseller werden, dessen war sie sich sicher). Sie liebte es, dass Tonys Recherchen an so vielfältigen Orten der Welt stattfanden. Obwohl sie niemals zu einer Blockhütte in Kanadas Wildnis oder nach Prypjat mitgekommen wäre, folgte sie ihm doch zu den meisten Orten, um tagsüber etwas zu erleben und ihm abends, nach seinen Besichtigungen, die er ausschließlich allein durchführte, nahe zu sein. Der Starnberger See wäre zwar im Sommer ein lohnenderes Ziel gewesen, doch die gute deutsche Küche und der Besuch im „Saustall“, einer Diskothek, in der sie sich zwei, drei - oder waren es vier? – Cocktails gegönnt hatte, trösteten erfolgreich darüber hinweg. Das Schönste daran war natürlich, dass sie jetzt zu Tony konnte.

Tonys Lust war proportional an die Qualität seiner geschriebenen Seiten geknüpft – und diese war in letzter Zeit leider sehr überschaubar gewesen. Aber nun war er bestimmt mindestens genauso gut gelaunt wie sie selbst, denn schon seit drei Wochen sprach er von nichts anderem als dieser Kapelle und dem Roman, den er darüber schreiben würde. Er hatte sicherlich schon in dieser Nacht damit angefangen und würde ihr möglicherweise die ersten Seiten daraus vorlesen, bevor sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen und es hemmungslos miteinander trieben. Oh ja, das würden sie.

Linda eilte durch die Hotellobby und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Am Zimmer angekommen, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der Raum war dunkel und es war still.

„Tony?“, fragte sie und bemerkte dabei, dass sie lallte.

Er antwortete nicht.

Ob er tatsächlich schon schlief? Linda ließ das Licht aus, um ihn nicht zu stören, und blinzelte auf die Digitalarmbanduhr. Ein Uhr dreißig. Nicht die ungewöhnlichste Zeit zum Schlafen; zudem war sein Tag gewiss anstrengend gewesen. Auch gut, dann würde sie sich zumindest an ihn kuscheln und … Während sie nachdachte, bemerkte sie den aufgeklappten Laptop auf dem Schreibtisch. Der Bildschirm war schwarz, doch das gelbe Lichtchen blinkte. Sie war zu neugierig, um es zu ignorieren, sie wollte unbedingt sehen, was er geschrieben hatte. Sie nahm Platz und drückte eine Taste, um die Sperre aufzuheben.

Anstatt einer Word-Datei war eine Fotografie geöffnet. Und das Bild zeigte Tony, hier im Zimmer. Er hielt ein Messer in der Hand, sein Gesichtsausdruck war angespannt. Linda erschrak im ersten Augenblick.

Covershooting, beruhigte sie sich. Zwar hatte sie keine Idee, weshalb das Hotelzimmer als Kulisse dienen sollte und weshalb es bereits jetzt stattfand, aber … nun ja. Es wirkte in jedem Fall seltsam.

Sie klickte eine Datei weiter. Tony war einen Schritt zurückgewichen. Die Anspannung lag unverändert in seinem Gesicht.

Das nächste Bild: Es war verschwommen und in ein merkwürdiges rotes Licht getaucht. Tony war kaum zu erkennen.

Schnell klickte sie zum letzten Bild, sie musste wissen, was hier vor sich ging. Kein rotes Licht. Nur Tonys verzerrtes Gesicht. Seine Augen waren blutunterlaufen, der Mund zu einem qualvollen Schrei geöffnet.

Linda hielt sich die Hand vor den Mund. Dann kämpfte sie sich vom Stuhl hoch.

„T-Tony?“, rief sie. Auf Beinen, weich wie Pudding, ging sie zum Lichtschalter. Ihr Mann lag nicht im Bett. Auch im Badezimmer war niemand. Wo war er hin?

Schwerfällig ließ sie sich wieder auf den Schreibtischstuhl fallen. Hätte sie bloß nicht so viel getrunken! Ihr Herz raste. Sie griff mit bebender Hand nach dem Handy in ihrer Hosentasche. Sie musste ihn anrufen. Sofort.

Doch ihr Blick streifte wieder den Laptop. In dem Ordner befand sich eine Datei mehr als zuvor. Wo kam die plötzlich her?

Linda klickte sie an.

Sie selbst war auf dem Bild. Das war sie, wie sie kreidebleich vor dem Laptop saß. Und Tony stand hinter ihr.

Mit rot leuchtenden Augen und erhobenem Messer.

Sie wirbelte herum. Ein gellender Schrei brach aus ihr heraus.

 

 

Thomas Karg lebt im Herzen Niederbayerns. Seine Werke beschäftigen sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Seele und des Lebens. Er erzählt düstere Geschichten in allen Schattierungen und Formen – von subtil bis blutig, von realistisch bis phantastisch.

Seine erste eigene Kurzgeschichtensammlung Fest der Geier und andere verstörende Geschichten wurde 2017 veröffentlicht und erreichte Platz 2 beim Vincent Preis. Seine Kurzgeschichte Der Bestseller landete beim Vincent Preis 2019 ebenfalls auf Platz 2. Weitere seiner Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.

Gemeinsam mit Thomas Lohwasser und Vanessa Kaiser schreibt er seit 2019 die postapokalyptische Romanreihe Die Erben Abaddons.

Außerdem veröffentlicht er zusammen mit Vanessa Kaiser unter dem Pseudonym »Jo van Karkas« Kurzgeschichten.

Für die Anthologien Fantastisches Deutschland Hessen (Ulrich Burger Verlag) und Mysterien der See (Verlag Torsten Low) fungierte er jeweils als Herausgeber.

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