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Die wahre Geschichte der Wikinger

Ein epischer Rundumschlag zu so ziemlich allem, was man über Wikinger wissen wollen könnte

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Kategorie: Literatur

Der Archäologe Neil Price gilt weltweit als der führende Experte für die Wikinger-Ära. In seinem umfassenden Werk Die wahre Geschichte der Wikinger beschreibt er die facettenreiche und oft missverstandene Epoche aus der Sicht ihrer Bewohner*innen – nachdem er sie drei Jahrzehnte lang erforscht hat.

Nicht nur für (Hobby-)Historiker*innen ist die Wikinger-Ära interessant, auch in Literatur, Gaming und LARP ist die Zeit von 750-1050 längst angekommen. Grund genug, ein bisschen tiefer abzutauchen: Wie gewalttätig waren die nordischen Krieger*innen wirklich, die Bethesda ganz offensichtlich als Vorlage für die Bewohner*innen von Skyrim dienten? Wie lebten sie ihren Glauben? Und welche politische Bedeutung hatten ihre Raubzüge für den Rest von Europa?

Randvoll mit Fakten und Goodies

Diesen – und unzähligen weiteren – Fragen geht Neil Price in seinem Monumental-Werk Die wahre Geschichte der Wikinger auf 653 Seiten (768, wenn man die Anhänge mitzählt) nach. Das tut er glücklicherweise ganz strukturiert, denn zur Wikinger-Zeit gibt es einiges zu sagen (und das tut Price auch). Sein Buch gliedert sich in drei Teile, die grob der geschichtlichen Chronologie folgen:

Dazu kommen Karten, Bilder (auch farbig), Hinweise zur altnordischen Aussprache, ein Prolog, ein Epilog, eine wissenschaftliche Einführung, ausgiebige Literaturhinweise und ein Register.

Die Erschaffung von Mittelerde, äh, Midgard

Im ersten Teil erfahren wir von den Anfängen und Hintergründen der Wikinger-Zeit. Es geht es um ihre Sagen und Mythen, und wie diese uns noch heute beeinflussen. Außerdem wird ihre geschichtliche Vergangenheit beleuchtet: Wo kamen die Wikinger her? Wann und wie wurde Skandinavien besiedelt?

Price erläutert ganz alltagsnah die sozialen Netzwerke, in denen die Wikinger zusammenlebten, wer bei ihnen Macht hatte (und warum), welchen Status Mann, Frau und andere Geschlechter hatten, und wie mit dem Tod umgegangen wurde.

Einleiten tut er das wunderbar episch mit einem Prolog, der die Schöpfungsgeschichte der Menschheit aus Sicht der Wikinger beschreibt. Auch durch immer wieder eingestreute Anekdoten und Details lockert er sein gehaltvolles Buch auf.

So erfahren wir beispielsweise, dass die Welt der Menschen bei den Wikingern “Midgard” hieß – wer fleißig nordische Sagen gelesen hat, wird davon schon einmal gehört haben. Das bedeutet übersetzt “Mittelhof” und inspirierte J.R.R. Tolkien zum Namen für “Mittelerde”.

Wir lernen auch, dass die Namen der Wochentage noch heute zum Teil auf nordische Götter zurückgehen, vor allem in den skandinavischen Sprachen (wann ist endlich Freya-Tag, also, Freitag?).

Spannend ist außerdem, dass Götter, Geister und Fabelwesen für die Wikinger Realität waren, “[…] da [sie] an diese Wesenheiten ebenso wenig glaubten, wie heute jemand an das Meer glaubt. […] All dies war ein ebenso natürlicher Teil [ihrer] Welt wie die Bäume und Felsen.” Magisch!

Geschichtsstunde mit Längen: Das Wikingerphänomen

Im zweiten Teil des Buchs wird es dann etwas chronologisch-geschichtlicher (manche würden sagen: trockener). Price schildert, wie die berühmten Wikinger-Überfälle begannen, also die Raubzüge auf reiche englische Kloster und später auch gewinnversprechende Orte in küsten- oder flussnahen Regionen in ganz Europa und auch dem Osten.

Er geht auf die Form ihrer Machtstrukturen ein – nämlich, dass es “die” geeinten Wikinger nie wirklich gab; dass sie eher für sich operierende Piratenmannschaften auf der Suche nach einem Auskommen und Ruhm waren. Und Price beschreibt auch, wie sie sich von Skandinavien aus ausbreiteten und andere Teile der Welt besiedelten (und teils auch wieder von dort vertrieben wurden).

Eingefleischte Geschichts-Nerds kommen in diesem Teil voll auf ihre Kosten. Eine Jahreszahl reiht sich an die andere. Ein Kloster nach dem anderen wird mitsamt Ausgrabungsfunden und möglichen Implikationen dieser Funde aufgezählt. Die bedauernswerten Adeligen, die das Pech hatten, den brandschatzenden Wikinger-Truppen in die Quere zu kommen, werden mit Namen, Todesart und Nachfolger*innen vorgestellt.

Keine leichte Lektüre

Wer nicht so viel Vorwissen zur Einordnung der vielen Fakten in diesem Teil mitbringt, wer nicht jeden archäologischen Fachbegriff versteht oder das Buch nur abends – im Dämmerzustand kurz vorm Einschlafen – liest, der könnte sich an den Längen in diesen Kapiteln (und auch einzelner Sätze und ihrer wissenschaftlichen Formulierung) verschlucken.

Die hochtrabenden Versprechungen von Einband und Klappentext (“packend und zugänglich ...”, “überraschend und unterhaltsam ...”) werden in diesen Passagen doch sehr gedehnt. Das muss aber nicht der Fehler des Autoren sein; es gibt zu dieser Zeit einfach viel zu berichten. Es entsteht allerdings der Eindruck, dass Price sowohl einer wissenschaftlichen Leserschaft gerecht werden wollte als auch den Populär-/Unterhaltungslesern. Und Letztere kamen dabei streckenweise etwas zu kurz.

Neue Welten, neue Nationen

Zuletzt widmet sich Price der späteren Wikinger-Ära. Hier wird es noch einmal spannend, denn er beschreibt unter anderem den riesigen Ressourcenbedarf, den eine Seefahrernation wie die Wikinger hatte. Unzählige Menschen mussten zusammenarbeiten, unzählige Bäume gefällt und Schafe gezüchtet werden, damit man die schnittigen Schiffe bauen (und Segel nähen) konnte, die wir heute mit den Wikingern in Verbindung bringen.

Es geht aber auch um die nordatlantischen Regionen Grönland, Island und die Färöer-Inseln, die von Wikingern besiedelt wurden. Um die Entdeckung Nordamerikas durch die Wikinger. Und wir erfahren, wie das Christentum zu den Wikingern kam und wie sich die heute bekannten Staaten Dänemark, Schweden und Norwegen formten.  

Das Ende der Wikinger-Zeit

Eine stimmige Klammer zum Anfang bildet der Epilog, in dem Price den Weltuntergang aus Sicht der Wikinger beschreibt: Ragnarök. Hier hätte das Buch durchaus enden können, sodass die Leser*innen mit einem poetischen Gefühl zurückbleiben. Ein so renommierter Wissenschaftler wie Price kann diese dramatischen Zeilen aber natürlich nicht einfach so stehen lassen; und sein ehrbares Streben nach Vollständigkeit sei ihm auch gar nicht vorgeworfen.

Wir enden also nicht mit der epischen Götterschlacht, mit brodelnden Ozeanen, erloschenen Himmelskörpern (und fertigen skandinavischen Nationalstaaten), sondern bekommen zum Abschluss noch eine wissenschaftliche Einordnung dieser Bilder dazu.

Das wahre Gesicht der Wikinger

Neil Price hat sich den Wikingern mit Leib und Seele verschrieben, im Guten wie im Schlechten. Das spürt man auf jeder Seite seines Werks. Begeistert erzählt er von ihren Mythen, ihrer kulturellen Weltoffenheit und wie stolz sie sich bis heute weigern, den Forscher*innen manche ihrer gut gehüteten Geheimnisse preiszugeben.

Gleichzeitig berichtet er schonungslos von ihren Schattenseiten: Sklaverei, Erpressungen und Gemetzel bei den Raubzügen, rituelle Blutopfer und Vergewaltigungen. Das ist nichts für schwache Gemüter, wenn auch die Stimme des Autors als Korrektiv die geschilderten Sitten immer wieder in Perspektive rückt.

Fazit

Insgesamt ist Die wahre Geschichte der Wikinger, das die Times als „das historische Buch des Jahres 2022” adelte, ein imposantes Buch, das man nicht “mal eben wegsnackt”. Eher eignet es sich zum tiefen Abtauchen und für-viele-Wochen-Versinken.

Es ist jedem zu empfehlen, der ein tieferes Verständnis für Wikinger gewinnen will; ob nun aus der geschichtsbegeisterten Perspektive oder der eines Wikinger-LARP- oder Skyrim-Fans (der darin eine Menge wiederentdecken wird).

Genug Zeit, ein gewisses geschichtliches Grundverständnis und ein wissenschaftlicher Wortschatz sind allerdings von Vorteil, um dieses Monumentalwerk genießen zu können.

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