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Zwischen Schmetterlingseffekt und Gesellschaftskritik

Claudia Rapp im Genretalk über Zeitreisen

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Kategorie: Literatur

Auch die phantastische Literatur hat ihre Wurzeln im Endeffekt in der realen Welt. Das sieht man wohl in weniger Genres deutlicher als in Zeitreiseromanen. Claudia Rapp, selbsterklärte atheistische Skeptikerin, stellt uns das etwas spezielle Genre näher vor. Neben zahlreichen Lesetipps diskutiert die Literaturwissenschaftlerin auch die Frage, wie Autor*innen die Probleme und Themen ihrer eigenen Zeit in andere Epochen projizieren ...

Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Liebe Claudia, ich freue mich sehr, dass du dir Zeit zu unserem kleinen Genretalk nimmst. Ich weiß, dass du sehr umtriebig in der Literaturlandschaft bist. Promovierte Literaturwissenschaftlerin, Herausgeberin und Übersetzerin. Deine Übersetzungstätigkeit wurde dieses Jahr sogar beim Vincent Preis für einen Sonderpreis vorgeschlagen und der von dir übersetzte Roman Das scharlachrote Evangelium von Clive Barker hat den Preis sogar schon als bester internationaler Roman gewonnen. Stell dich doch einmal kurz vor und wie dein Weg zur phantastischen Literatur begann? 

Claudia Rapp: Ich bin in den 70ern und 80ern im Rheinland aufgewachsen; vorlesende Eltern, die große Schwester und die Stadtbücherei waren meine wesentlichen Einflüsse. Das fing mit den Heinzelmännchen zu Köln, Preusslers kleinem/r Gespenst/Wassermann/Hexe und Lindgrens Karlsson an, dann Michael Ende, Hohlbeins Märchenmond, Lewis's Narnia, Tonke Dragt und Susan Cooper … Geschichten, in denen es noch eine andere Welt gibt, parallel, verborgen, jenseits, haben mich als Kind und Jugendliche wohl am meisten fasziniert. Später kamen noch Mythologie und Geschichte dazu. Anfang der 90er habe ich dann zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und im Anschluss Anglistik und Germanistik am Bodensee studiert. Eigentlich wollte ich eine Magisterarbeit über die Entwicklung der Vampirfigur schreiben, aber am Ende hab ich mich in Hawaii verliebt und ganz unphantastisch über zeitgenössische Literatur von den Inseln promoviert …

Und heute übersetze ich Horror, Thriller und Romance, gebe beim Amrûn Verlag die Zombie Zone Germany (und die Lückenfüller-Tentakelporn-Anthologien) heraus und werfe mit schrägen Kurzgeschichten um mich. Zuletzt erschien eine winzig kleine Zeitreise-Story im Cadvendarium bei Lysandra Books.

In den letzten Jahren war ich viel unterwegs. Städtetrips, Konzerte und Festivals, Worldcon, Eastercon, IceCon … Ich kanns kaum erwarten, dass wir alle geimpft sind und wieder unbeschwert reisen können. Bis dahin sind wohl alle Arten von Reisen im Kopf und in der Fantasie noch mehr wert als früher.     

Andreas (ZW): Da du die Zombie Zone Germany betreust und einen schönen kleinen Text dazu geschrieben hast, wollte ich dich eigentlich zu Zombies befragen. Dein Genrewunsch hat mich aber überrascht und sofort interessiert gemacht: Zeitreiseromane. Die hatte ich bis dato gar nicht im Blick. Was fasziniert dich denn an diesem spezifischen Genre?

Claudia: Darüber musste ich tatsächlich nochmal nachdenken, obwohl ich mir das Thema gewünscht habe. Was genau fasziniert mich? Das Chaos. Die Unmöglichkeit. Das Beobachterparadox (ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, eigentlich aus der Ethnographie: die Anwesenheit des Forschenden beeinflusst die Forschung). Die Spannung, die sich aus Heimlichkeit und dem Versuch, nicht aufzufliegen, zu überleben, zurückzukehren, die Vergangenheit oder die Zukunft zu verändern, ergibt. Das schiere Abenteuer. Die wissenschaftlich-detektivische Neugier, so viel wie möglich über eine bestimmte Zeit herauszufinden. Und den Weg nach Hause zu finden.        

Andreas (ZW): Oft werden Zeitreisegeschichten in der Science Fiction verortet. Sind Zeitreisen für dich SF? Sind sie ein Genre für sich oder greifen gar über mehrere Genres hinaus?

Claudia: Wenn ich es wörtlich nehme, sind nicht alle Zeitreisegeschichten SF, weil es nicht immer eine wissenschaftliche Erklärung gibt; manchmal wachen die Figuren schlicht eines Tages in einer anderen Zeit auf, reisen nur im Traum oder durch Zauberei und Magie. Da passt dann vielleicht der im Englischen gebräuchliche Begriff speculative fiction besser. Und wenn es in die Vergangenheit geht, sind wir schnell beim historischen Roman oder der Alternativweltgeschichte, alt-history. Gerade in den klassischen, älteren Zeitreiseromanen dient die Reise vor allem der Gesellschaftskritik, also wahlweise: "Früher war alles besser", "Wir sind viel schlimmer als die angeblichen Barbaren von früher", "Früher war alles noch viel schlimmer; seid froh, dass ihr in einer fortschrittlichen Welt lebt", "Wenn wir so weiter machen, sieht die Zukunft düster/dystopisch aus" oder "Wenn wir etwas ändern, steht uns diese utopische Zukunft bevor".      

Andreas (ZW): Na hoffentlich wachen wir eines Tages in einer besseren auf. Aber noch einmal zeitlich zurück: Was ist denn deines Erachtens die erste Zeitreisegeschichte?

Claudia: Häufig wird da zuerst H.G. Wells' The Time Machine von 1895 genannt (auf Deutsch 1904). Der Roman wird auch als frühe Dystopie gesehen, weil er sich im Grunde mit Klassenunterschieden und der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen befasst, also wie so oft die Themen und Probleme der Gegenwart des Autors in die Zukunft projiziert.

Aber es genügt ein Blick auf Wikipedias Liste von Zeitreiseromanen, um zu sehen, dass Franzosen und Amerikaner – etwa Washington Irving (1819, wobei Rip van Winkle eher Kurzgeschichte als Roman ist und Mark Twain (1889, A Yankee in King Arthur's Court) – früher dran waren als der Engländer Wells. Da wird Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume, ein französischer utopischer Roman aus dem Jahr 1771, als erster gelistet.

Andreas (ZW): Empfehlen sich die Geschichten immer noch zum Einstieg, oder welche Zeitreisegeschichte empfiehlst du um einen Zugang zur Thematik zu bekommen? Und was wäre dein Geheimtipp?

Claudia: Ich mag ja Crichtons Timeline von 1999, gerade weil der Roman (und erst recht der gleichnamige Film mit Gerard Butler) all die Ungereimtheiten, die das Genre häufig bereithält, vorführt. Es gibt eine Zeitmaschine, gewissenlose Wissenschaftler, Quantenphysik, ein Wurmloch; es geht zurück ins Mittelalter, wo Kämpfe und Abenteuer warten … und die Menschen von heute problemlos mit denen des 14. Jahrhunderts kommunizieren. Aaaah! Das Problem der sprachlichen Verständigung ist für mich immer der größte Stolperstein. Mir doch egal, wie genau die Reise durch die Zeit vonstattengeht, aber bitte thematisiert doch, wie und wieso sich die Menschen Jahrhunderte früher/später verständigen können!  

 Ansonsten lässt sich der Einstieg natürlich auch mit den zahlreichen Filmen und Serien machen, die sich auf unterschiedlichste Weise mit Zeitreisen befassen. Zurück in die Zukunft, Dr. Who, Interstellar, Dark … oder die Jugendserie Unterwegs nach Atlantis, eine deutsch-tschechische Co-Produktion von 1981 nach dem Drehbuch von Ota Hofmann, den Älteren unter uns vor allem als Mitschöpfer von Pan Tau bekannt …  

Wer sich eher verwirren und von schillernder Sprache durch eine besondere Geschichte tragen lassen möchte, dem empfehle ich This Is How You Lose the Time War von Amal El-Mohtar und Max Gladstone. Die 2019 erschienene Novelle hat mit Hugo, Nebula und BSFA-Award alle wichtigen Preise der Phantastik gewonnen.   

Mein persönlicher Geheimtipp ist aber definitiv der Roman The Heavens von Sandra Newman, erschienen Anfang 2019 (Ende 2020 auf Deutsch bei Matthes & Seitz als Himmel erschienen)

Andreas (ZW): Was fasziniert dich denn an deinem Geheimtipp so? Was macht die Geschichte so anders?

Claudia: Wie kann ich das erklären, ohne zu viel zu verraten? Der Roman hat mich wirklich in seinen Bann gezogen, heftig zum Weinen gebracht, mein Herz schneller schlagen lassen, mich wünschen lassen, ICH könnte die Geschehnisse aufhalten, ändern … Die Geschichte beginnt in New York kurz nach der Jahrtausendwende, und die Welt ist augenscheinlich ein bisschen besser, grüner, "woke"-r, als in (unserer) Wirklichkeit. Die Figuren wissen natürlich gar nicht zu würdigen, was sie da haben. Und dann beginnen die Träume, die Zeitreisen sind. Und die "gegenwärtige" Welt verändert sich, strebt immer mehr in Richtung dessen, was wir als Realität kennen. Allein dieser Dreh hat mich fertiggemacht. Als wolle die Autorin sagen, hey, wir hätten jemanden wie AOC (also Alexandria Ocasio-Cortez) als US-Präsidentin haben können, haben aber Trump gewählt.

Naja, außerdem kommt Will Shakespeare vor. Ich mag Will Shakespeare. Zusammenfassend: Der Roman ist gleichzeitig absurd, bissig, schwelgerisch, drastisch und elegisch. Manche Bücher sind toll, aber lassen dich innerlich kalt? Dieses hat mich alles andere als kalt gelassen.   

Andreas (ZW): Du selbst hast mit Summer Symphony - ein Trip mit Sex, Rock‘n‘ Roll einen entsprechenden Roman und natürlich – Zeitreisen verfasst. Sag doch bitte einmal ein paar Worte mehr zum Roman und welche Rolle dort die Zeitreisen spielen.

Claudia: Am Anfang stand die Lust, irgendwas mit Wikingern zu schreiben. Mir schwebte ein historischer Roman vor, aber dann hat sich die Musik als zentrales Element in meinem Kopf festgesetzt. Ich war schon immer fasziniert davon, wie Musik uns mental auf Reisen schicken kann, wie ich mich beim Anhören von guter Musik verlieren kann, wie Melodien Erinnerungen und Gefühle wachrufen, uns der Wirklichkeit entrücken, all das. Musik praktisch als Transportmittel für Zeitreisen zu verwenden, war da nur noch ein kleiner Schritt. Der Rest ergab sich aus meinen Festivalsommern und aus der Recherche (Wer hätte gedacht, dass es verdammt viel Recherche braucht, wenn es um Wikinger geht? Na dann, verlegen wir uns doch auf die alten Finnen, über die nicht allzu viel belegt ist, bis sie von den Schweden kolonialisiert wurden … das lässt mehr Raum für die eigene Vorstellung, und dann gibt es da noch das Kalevala, eine im 19. Jh. verfasste Sammlung mündlich überlieferter finnischer Mythologie und Folklore, eine Schatzkiste der Inspiration …)

Letztendlich bieten bei mir die Zeitreisen also eine Möglichkeit, Abenteuer zu erleben. Zu Beginn suchen sie meine Hauptfigur Luise heim, aber je mehr sie erfährt, desto mehr Fragen tun sich auf. Also beginnt sie, die Reisen aktiv und willentlich herbeizuführen. Luise ist neugierig, wissbegierig und auch sonst gierig, könnte man sagen. Denn sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit warten Gefühle und sexuelle Abenteuer auf sie, was unweigerlich zu Verwicklungen führt – ich hoffe, all das macht neugierig auf das Buch. Philosophische Fragen nach dem Wesen der Zeit, nach parallelen Universen, nach dem berühmt-berüchtigten Schmetterlingseffekt und der Veränderung der Zukunft schwingen bei mir zwar mit, stehen aber nicht im Vordergrund, würde ich sagen. In erster Linie will ich unterhalten und meine Begeisterung für Musik, Geschichte und Sprache mit den Leser*innen teilen. Und meine Begeisterung für Metal-Festivals.          

Andreas (ZW): Welche Möglichkeiten bietet die Phantastik denn im Allgemeinen und Zeitreisen im Besonderen, welche die klassische Literatur nicht hat? Was haben uns phantastische Geschichten zu sagen? 

Claudia: Dazu gibt es natürlich mehrere Antworten. Für mich spielt sowohl der vielgeschmähte Eskapismus, die Flucht aus dem Alltag, eine Rolle, als auch die Möglichkeit, Alternativen zum Status Quo zu entwerfen und aufzuzeigen: Nur weil "wir das immer schon so gemacht haben", müssen wir noch lange nicht immer so weitermachen wie bisher. Gegenentwürfe politischer, gesellschaftlicher Natur, ein anderes Leben, eine andere Welt.

Wenn ich schreibe, möchte ich auf alle Fälle auch immer den Zauber hervorkitzeln, der überall in unserer scheinbar so entzauberten, rationalen Welt lauert. Mich zieht das Unerklärliche an, die Türen zu anderen Welten, die das noch nicht Erklärte uns öffnen kann. Wenn Hulks Geheimnis ist, dass er immer wütend ist, dann ist meins, dass ich eine ziemlich atheistische Skeptikerin mit Doktortitel bin und genau deswegen die Phantastik brauche. Um all das auszuloten, was die Ratio allein nicht fassen kann. Und um das Staunen zu feiern.      

Andreas (ZW): Entschuldige die etwas klischeehafte Frage, aber sie drängt sich bei diesem Thema einfach auf: Wenn du könntest, in welche Epoche würdest du gerne reisen und warum?

Claudia: Will Shakespeare? Piraten? Musketiere? Altes Ägypten? Karl der Große? Harlem Renaissance? Es gibt so viele spannende Epochen und historische Momente, und ich frage mich häufig, ja aber wie hat sich das angefühlt? Und wie lange hätte ich dort überlebt? Für mich wäre ein Blick zurück auf jeden Fall reizvoller als einer nach vorn. Die möglichen Zukünfte machen mir eher Angst, da bin ich pessimistisch. Ich glaube, momentan würde ich am liebsten in die Steinzeit oder noch weiter zurück, mir die Anfänge der Menschheit anschauen. In letzter Zeit habe ich einiges über Evolution, Genetik, Prähistorie gelesen, da drängt sich der Wunsch auf, selbst nachsehen zu gehen, wie die frühen Menschen gelebt und gedacht haben. Und sei es nur, um schlagende Argumente zurückzubringen, die ich der Evolutionspsychologie um die Ohren hauen kann. :)           

Andreas (ZW): Hab schon einmal vielen Dank für deine Antworten. Wer sich nun mehr für dich und deine Werke interessiert: was planst du denn in näherer Zeit? 

Claudia: Ich trage schon viel zu lange die Idee für einen Roman mit mir herum, der nun endlich langsam Gestalt annimmt. Es geht um die Loreley und eine Reihe weiterer mythologischer Wesen dieser Art. Meerjungfrauen, Sirenen, Nymphen. Die Kurzfassung? Diese Wesen müssen sich zusammentun und die Welt retten. Ich hatte das Glück, ein Corona-Sonderstipendium der Kulturprojekte Berlin zu ergattern, sodass ich mich eine Weile lang auf das Schreiben konzentrieren kann.

Was Übersetzungen angeht, wartet Frank Festa, mein treuester Auftraggeber bereits darauf, dass dieses Stipendium ausläuft und ich mich wieder an die Arbeit mache. Und ich bin gespannt, was für Bücher mich dann erwarten.

Andreas (ZW): Herzlichen Glückwunsch dazu! Und vielleicht ist ja sogar noch ein Vincent-Sonderpreis drin. Für den kann man übrigens noch abstimmen ...

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