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Der Trickster

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Gemeinsam mit Autor Günter Wirtz begleiten wir den geheimnisvollen Cral auf seinem Weg durch eine phantastische Welt, in der Kurzgeschichte des Monats des Phantastik-Autoren-Netzwerks.

 Als die Sonne über dem Berg im Osten aufging, spürte Boris ein Zwicken in seinem Zeigefinger, untrügliches Zeichen, dass sich dem Sanatorium ein Gast näherte. Auf dem Weg zum Ausgang passierte er den  Empfangsbereich.

»Haben wir eine Neuanmeldung?«, fragte er Lotte, die an ihrem Cappuccino nippte. Das Heinzelweibchen warf einen Blick auf ihren Computerbildschirm und schüttelte den Kopf.

»Nicht dass ich wüsste, und du weißt, dass ich alles weiß.«

Vor allem alles besser, dachte Boris. Nachdem sich sein Finger zu einem Schlüssel verformt hatte, steckte er ihn in das Schloss der Eingangstür. Ein Klicken zeigte an, dass sich der Mechanismus entriegelt hatte. Boris öffnete die Tür einen Spalt. Vor ihm stand ein Mann mit Kapuzenpullover, dessen Gesicht im Schatten lag.

»Morgen.« Die Art, wie er das Wort aussprach, hätte eher zu »Moder« gepasst. Der Fremde streifte die Kapuze zurück und enthüllte eine Glatze. Die gebogene Nase und die ruckartigen Bewegungen seines Kopfes erinnerten Boris an einen Vogel.

»Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin krank, seelisch krank, verstehen Sie?«

Und ob Boris verstand. Er arbeitete zwar hier nur als Faktotum, aber dass der Mann vor ihm ein Problem hatte, war offensichtlich.

»Kommen Sie!« Boris führte den Fremden zu Lotte, die seine Personalien aufnahm, wobei sie den lethargisch hingehauchten Angaben ihren rheinischen Singsang entgegensetzte.

»Karl Kral? Mit C oder K?«

»C.«

»Carl ist der Rufname?«

»Carl für die Menschen, Cral für – unseresgleichen.«

»Und was sind Sie unter unseresgleichen für ein …?«

»Gestaltwandler«, unterbrach sie der Fremde.

»Darf ich fragen, in welche Art von Gestalt …?«

»Rabe.«

»Oh, ein Rabe! Wohnort?«

»Hier und da.«

»Beruf?«                                                                   

Boris, der schweigend dabeistand, tippte auf Grabredner.

»Straßenkünstler.«

»Ach, was führen Sie denn so vor, wenn …?«

»Ich zeichne und jongliere.«

»Mit Keulen?«

»Mit Kohlestiften.«

»Ich meinte das Jonglieren.«

»Ich auch.«

Lotte sah ihn stirnrunzelnd an.

»Verzeihung, ich wollte witzig sein.« Cral verzog keine Miene. »Ich jongliere mit Flammenbällen.«

»Mit Flammenbällen?«

 

Boris war froh, Cral wenig später im Behandlungszimmer des Chefs abliefern zu können. Der Blick, die Stimme, alles an dem Mann wirkte unheimlich. Sollte sich Emil mit ihm auseinandersetzen. Er kannte sich mit solchen … Persön-lichkeiten besser aus.

 

Emil Bolze bat den Neuankömmling, Platz zu nehmen. Seine Blicke wechselten zwischen der Datei, die Lotte ihm auf sein Tablet geschickt hatte, und dem Fremden. Ein Rabenmetamorph, der sich selbst eine Depression diagnostizierte. Das Gesicht seines Gegenübers erinnerte ihn an eine Figur aus dem Hänneschen-Theater. Die Zeit hatte ihm offenbar jedes Jahr eine neue Sorge in die Haut geschnitzt. Emils Bemühungen, ein Gespräch zu beginnen, scheiterten an der Wortkargheit des Gestaltwandlers. Daher beschloss der Arzt, dem neuen Patienten erst ein- mal Zeit zu geben, sich einzufinden. Für heute war der Terminkalender ohnehin rappelvoll.

 

Emil begleitete Cral zu Mac Dip. Der Heinzelmann war dafür zuständig, bedenkliche Gegenstände der Sanatoriumsgäste für die Dauer ihres Aufenthaltes aufzubewahren. Seinen Namen verdankte er der unaussprechlichen Bezeichnung des Archivs: »Deposit of inappropriate Properties«, kurz DIP. Dass Mattes, alias Mac Dip, seine knollige Nase in die Taschen der Neuankömmlinge tunkte, machte den Namen umso passender.

Mit der unbewegten Miene eines Profis inspizierte Mac Dip Crals Rucksack und legte alle verdächtigen Utensilien auf einen Tisch. In diesem Fall waren das ein Taschenmesser, ein Feuerzeug, eine Sonnenbrille, Kohlestifte, eine Rolle Klebeband, ein großer Holzbecher, zwei mit seltsamen Fasern überzogene Handschuhe, eine Plastikflasche sowie diverse Filzbälle.

»Das muss ich leider an mich nehmen«, erklärte Mac Dip und griff nach Taschenmesser und Feuerzeug. Mit Daumen und Zeigefinger prüfte er die Sonnenbrille. »Echtes Glas«, stellte er fest und warf einen fragenden Blick zu dem Psychotherapeuten. Der schüttelte leicht den Kopf. In Anbetracht der depressiven Stimmung, in der sich der Patient befand, war erhöhte Vorsicht geboten. Mac Dip verstand und legte die Brille zu den beschlagnahmten Sachen. Anschließend schraubte er den Verschluss der Flasche auf und roch an der Öffnung. »Spiritus? Was machen Sie damit?«

»Bälle tränken. Feuerjonglage ist meine Spezialität.«

Mac Dip brummte etwas Unverständliches in seinen Bart und stellte die Flasche ebenfalls beiseite. Den Rest steckte er nach kurzer Inspektion zurück in den Rucksack. Cral nahm seine Tasche und stierte zu Boden.

 

Allein auf seinem Zimmer, legte sich Cral aufs Bett und lächelte zufrieden. In Gedanken spulten sich wie ein Film die Schlüsselszenen der Geschehnisse ab, die ihn hierher- geführt hatten. Würde die Story im Kino laufen, wäre der Titel wohl »Der Trickser«. In der Hauptrolle: Carl Cral. Sein Motto: »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich alle Welt bescheiß.« Im Intro sah er sich in die Berliner Szenekneipe für phantastische Wesen zurückversetzt, in der alles angefangen hatte. Trancemusik, schummriges Licht, Nachtschwärmer aller Art. Cral wusste aus Erfahrung, dass man dort so manchen guten Tipp bekam. Also hatte er zugehört, als dieser drogenabhängige Ork mit Namen Torf ihm von seiner Entziehungskur in einem geheimen Sanatorium in den Karpaten erzählte. Vor allem davon, dass sich in dem Sanatorium ein buddhistischer Phönix aufhielt, der sich danach sehnte, dem Kreislauf der Wiedergeburten endgültig zu entfliehen. Torf hatte die Reinkarnation des Vogels während seines Klinikaufenthalts zwei Mal miterlebt.

»Voll abgefahren!« Die blutunterlaufenen Augen des Orks wölbten sich aus ihren Höhlen. »Ist einfach so verbrannt! Weg war er. Und danach, Alter, du glaubs es nich, lag da stattdessen dieses Ei, so glühend wie die Kohle in nem Schmelzofen von diesen Dreckszwergen.«

Bei dem Wort Kohle war Crals Geschäftsinstinkt erwacht. Seine folgenden Recherchen ergaben, dass es offenbar zwei Arten von Phönix gab. Jene, die zu Asche verbrannten, und solche, die nach ihrem Flammentod in einem Ei wiedergeboren wurden. So weit, so gut. Weniger gut war die Nachricht, dass sowohl der Phönix aus der Asche als auch der Phönix aus dem Ei in einem Abstand von fünfhundert Jahren zu verbrennen pflegten. Hatte Torf sich die Ge- schichte in seinem verkoksten Hirn etwa nur eingebildet? Das wäre überaus bedauerlich, denn aus dem Standard- werk der Zauberei, dem »Librum de arte magica«, erfuhr Cral weiterhin, dass das Ei eines Phönix einen goldenen Dotter besaß, dessen Verzehr »omnes dolores sempiterne percurabit«. In Gedanken übersetzte Cral: »von allen Schmerzen für immer befreien wird«. Diese Information brachte ihn auf die Idee, einen seiner vermögenden Kunden zu kontaktieren, der unter heftiger Arthrose litt. Cral hatte ihm schon für andere Kleinigkeiten wie den Sud einer Al- raune Unsummen abgeknöpft, doch die schmerzlindernde Wirkung dieser Mittel war stets zeitlich begrenzt gewesen. Crals Grinsen wurde breiter, als er sich daran erinnerte, dass er dem Mann bei dem Anpreisen seiner Ware nicht nur »ewige Schmerzfreiheit«, sondern zugleich »Unsterblichkeit« garantiert hatte. Dank der kleinen Übertreibung hatte er den Kaufpreis auf eine Milliarde hochschrauben können. Eine Milliarde. Der Gedanke an das Geld pumpte Endorphine durch Crals Adern.

 

Emil empfing seinen neuen Patienten am nächsten Morgen in einem rostroten Polohemd. Da sich Cral wie am Tag zuvor sehr verschlossen zeigte, verlegte sich der Psychotherapeut auf die Methode der »Autospektive«, über die er bereits eine Reihe von wissenschaftlichen Artikeln publiziert hatte. Hinter dem Begriff steckte das Verfahren, den Patienten sich selbst zeichnen zu lassen. Im Fall von Cral bot sich die Selbstbetrachtung auch deshalb an, da er seinen Lebensunterhalt nach eigenen Angaben mit dem Anfertigen von Portraitzeichnungen bestritt. Wer weiß, so überlegte Emil, vielleicht könnte er das Werk in einer neuen Veröffentlichung verwerten.

Cral ließ sich Zeit. Immer wieder seufzte er und setzte den Stift ab, doch nach einer halben Stunde schob er dem Arzt das Blatt über den Tisch und verbarg dann das Gesicht in seinem rechten Ellbogen.

»Alle Achtung!«, entfuhr es Emil.

Cral hatte eine Kohlezeichnung angefertigt, in der er sich selbst in seiner Doppelnatur zeigte. Mund und Schnabel weit aufgerissen, versuchten sich das menschliche Wesen und sein tierischer Zwilling voneinander loszureißen, aber ein Geflecht von Sehnen hielt ihre Hinterköpfe zusammen. Interessant war, dass der Kopf des Raben nach unten, der des Menschen nach oben zeigte. In dem zum Schrei geöffneten Mund verschwanden Blumen und Bäume, die den Schnabel des Vogels als verwelkte Gerippe verließen.

Der Fall war offensichtlich: Cral litt unter einer ausge-prägten Depression mit einhergehender Sozialphobie, die mit seiner Doppelnatur im Zusammenhang stand. Der Ra- be lebte in ihm wie eine Art Parasit, der sich von der Energie und Lebenslust seines Wirts ernährte.

»Wie lange leiden Sie schon an Ihrer Krankheit?« Die Finger, die Cral hob, krümmten sich wie Krallen.

»Drei Jahre? Haben Sie währenddessen andere Ärzte aufgesucht?«

Cral nickte, ohne den Kopf aus seinem Ellbogen zu ziehen.

»Ich verstehe. Was haben Sie selbst unternommen, um Ihren Zustand zu bessern? Gibt es bestimmte Dinge, die Ihnen guttun? Sport, Lesen, Zeichnen?«

Endlich tauchte Cral aus seinem imaginierten Gefieder auf. Er sah den Arzt mit schief gelegtem Kopf an. »Ich suche Trost in den Lehren Buddhas. Yoga hilft mir.«

»Das ist ein guter Ansatz. Aber ich denke, in der Verfassung, in der Sie sich befinden, brauchen Sie momentan eine andere Art von Unterstützung, um den Raben in Ihnen …« Cral sah erschrocken auf. Sein Kopf ruckte hin und her,

als würde er einen Fressfeind wittern.

»Um seinen negativen Einfluss zu verringern. Ich denke da vorläufig an eine Bilsenkrauttherapie.« Emil tippte etwas in seinen Laptop.

»Eis«, murmelte Cral.

Der Psychotherapeut sah ihn fragend an.

»Eiswürfel auf meinen Schläfen lindern das Brennen in meinem Kopf.«

Cral nickte in Richtung seiner Zeichnung. Emil verstand. Die wirren Zacken in dem Gehirn des Menschen symbolisierten kein Durcheinander, sondern ein Feuer.

»Ich werde veranlassen, dass man Ihnen jeden Abend einen Kübel mit Eis bringt.«

»Danke. Noch etwas. Gibt es … hier … jemanden, der ebenfalls … den Lehren Buddhas … zugeneigt ist?« Cral schien jedes Wort aus einer Fülle von Möglichkeiten herauszupicken.

Emil wunderte sich, dass der Gestaltwandler ausgerechnet danach fragte. Aber vielleicht half es ihm ja, sich zu öffnen, wenn er zu jemandem Kontakt hatte, der seine Gesinnung teilte.

»Wir haben tatsächlich einen Patienten hier. Schon seit langer Zeit. Einen Phönix. Er verbringt Tag und Nacht in unserem Salzsteingarten. Ich hätte Ihnen ohnehin empfohlen, sich täglich für einige Stunden an diesem Ort aufzuhalten. Die Salinen haben nicht nur auf Lunge und Herz, sondern auch auf das Gemüt eine erfrischende Wirkung. Boris wird Ihnen den Weg dorthin zeigen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob Amara gewillt sein wird, mit Ihnen zu sprechen, da sie recht kontaktscheu ist.«

Ohne sich seine gute Laune anmerken zu lassen, folgte Cral einem der Heinzelmännchen nach der Sitzung zur Essens- ausgabe. Er hatte einen Rabenhunger und stellte erfreut fest, dass die Küche in diesem Sanatorium einiges zu bieten hatte. Scheinbar lustlos stocherte er in seinem Wildgulasch und genoss doch jeden Bissen. Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich alle Welt bescheiß. Ja, die Zeichnung war überzeugend. Dieser naive Seelenklempner hat meine Lügen geschluckt. Nicht nur, dass ich nun weiß, wo dieser Phönix zu finden ist, ich habe sogar die offizielle Erlaubnis, diese Amara anzusprechen. Hm, lecker, so zart und saftig! Außerdem scheint dieser Salzsteingarten ein interessanter Ort zu sein.

 

»Interessant« wurde ihm nicht gerecht. Nachdem Boris den neuen Gast am Nachmittag durch ein Labyrinth von Gängen zum Eingang des Salzsteingartens geführt hatte, musste Cral erst einmal innehalten, um zu begreifen, was sich da vor seinen Augen ausbreitete. Allein die Ausmaße! Das war kein Garten, sondern ein weitläufiger Park, in dem sich bizarr geformte Felssäulen in die Höhe schraubten. Aufgrund der Helligkeit, die von der kristallinen Oberfläche der Steine ausging, konnte man sich ohne künstliches Licht auf dem Gelände orientieren.

Staunend spazierte Cral durch das weitläufige Areal. Je länger sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnten, umso mehr nahm er von der Landschaft wahr. Das Gestein war nicht nur von Salzkristallen überzogen, sondern auch von Flechten und Moosen, die in verschiedenen Grün- und Gelbtönen schimmerten. Richtige Mooswiesen erstreckten sich zwischen den Felsen. Wie konnten die Pflanzen hier ohne Sonnenlicht …? Er blickte nach oben. Die Felsendecke war so hoch, dass er sie kaum sehen konnte, aber dann erkannte er, dass sie aus keiner geschlossenen Fläche bestand, sondern einem Sieb ähnelte, durch dessen Löcher das Tageslicht hereinströmte. In den Lücken konnte Cral den blauen Himmel und Teile von Wolken erkennen. So war das also. Die Lichtsäulen trafen von oben auf die Gesteinsoberflächen, wo sie von den Salzkristallen gebrochen und verstreut wurden, um auf weitere Kristalle zu treffen, die ihrerseits zur Verbreitung des Lichts beitrugen. Faszinierend. Vor allem, weil die Öffnungen die Frage, wie er mit dem Ei des Phönix fliehen sollte, beantworteten.

Die Luft war erfüllt vom Plätschern und Rauschen des Wassers, das an vielen Stellen an den Felswänden und Gesteinssäulen herabrieselte. Am Boden sammelte es sich in Bächen, die sich einen Weg durch die Steinfelder und Mooswiesen bahnten. Cral bückte sich und streckte seine Hand ins Wasser. Es war angenehm warm. Kein Wunder, dass in der gesamten Höhle frühlingshafte Temperaturen herrschten. Er führte seinen Finger an die Lippen. Salzig, das hatte er sich gedacht.

Nachdem er einem größeren Bachlauf gefolgt war, er- reichte er nach einiger Zeit einen See, in dem sich die Kristalle der Felswände spiegelten. Bunte Blüten reckten sich aus grünen Blattteppichen und verströmten einen aromatischen Duft. Am gegenüberliegenden Ufer ergoss sich ein Wasserfall von einem mannshohen Felsplateau in den Teich. Ein wunderschönes Bild, aber weder der rauschen- de Wasservorhang noch die Blüten fesselten Crals Blick, sondern der Vogel, der auf dem Plateau hockte und zu schlafen schien. Das rote und goldene Gefieder, der an einen Adler erinnernde Kopf: Das musste Amara sein.

Als Cral den See umrundete, entdeckte er in dem Wasser einen langen Schatten. Erst hielt er ihn für einen Fisch, doch dann sah er die langen Haare und den großen schuppigen Schwanz. Eine Nixe, hier? Gehört hatte er von diesen Wesen, aber gesehen noch keines.

Cral näherte sich dem Wasserfall, stellte sich vor den Phönix und grüßte ihn: »Namaste«. Dazu beugte er seinen Kopf.

Amara reagierte nicht.

»Mach dir nichtsss drausss, sssie issst sssehr schweigsssam. Eigentlich sssagt sssie nie etwasss.« Die Nixe war aus dem Wasser aufgetaucht und betrachtete Cral neugierig. »Wasss bissst du? Ein Hexssser?«

Die Meerjungfrau hatte nicht nur die Eigenart, die S- Laute zu dehnen, sondern auch ein Faible für Wörter, die einen S-Laut enthielten. Entweder hielt sie sich für eine Schlange oder ihren Sprachfehler für attraktiv, dachte Cral. Ohne auf die Frage zu reagieren, setzte er sich in der Nähe von Amara auf einen Felsen, schlug die Beine im Schneidersitz übereinander und gab sich den Anschein, zu meditieren. Die Nixe war offenbar beleidigt, weil er sie ignoriert hatte, denn aus ihren großen Augen perlten weiße Tränen. Wohl nah am Wasser gebaut, dachte Cral und verkniff sich ein Lächeln über die Doppeldeutigkeit. Un- auffällig schielte er zu Amara, doch der Vogel beachtete ihn nicht.

Nach zwei Stunden hielt er es nicht mehr aus. Seine Gelenke rebellierten gegen die ungewohnte Sitzhaltung. Wie konnte man beim Meditieren an etwas anderes denken als daran, Schmerzen zu haben?

Er stand auf, streifte noch eine Weile durch den Park und begab sich dann zum Ausgang. Ein Heinzelweibchen, das er nach dem Weg fragte, geleitete ihn freundlicherweise zu seinem Zimmer.

 

Von nun an hielt er sich jeden Nachmittag im Salzsteingarten auf und meditierte in Blicknähe von Amara am Ufer des Teichs. Am dritten Tag grüßte Amara zurück. Zwei Tage später ließ sie sich auf ein Gespräch ein. Nach einer Woche offenbarte sie Cral ihren Wunsch, Samsara, dem Rad der Wiedergeburt, zu entkommen. Cral fragte sich, wie es der drogenabhängige Ork geschafft hatte, Amaras Vertrauen zu gewinnen. Egal. Im Gegensatz zu diesem Volltrottel von Torf sagte er dem Phönix seine Hilfe zu.

»Ich danke dir, doch leider ist das unmöglich. Wenn mein Körper verbrennt und sich in einem Ei neu formt, glüht es wie Lava. Aber genau in dem Moment muss es jemand greifen und in eisiges Wasser werfen. Vor dem springenden Punkt.«

»Der springende Punkt?«, hakte Cral nach.

»Ist der Moment, in dem meine entflammte Seele in das Ei fährt. Du kannst den Funken durch die Schale sehen. Doch wenn du ihn siehst, ist die Gelegenheit bereits vertan und nichts kann verhindern, dass ich erneut zu einem Vogel werde.«

»Und das Ei? Was soll ich damit tun?«

»In den Kompost damit. Das wäre ökologisch die beste Lösung.«

Aber ökonomisch ein Desaster, dachte Cral. »Wann ist es soweit?«

»In einer Woche.«

Cral stutzte. »Heißt es nicht, dass ein Phönix eine Le-benserwartung von fünfhundert Jahren hat?«

»Nicht, wenn er wie ich jede Nahrung verweigert. In diesem Fall verringert sich die Lebensspanne auf einen Monat.«

 

Der tägliche Gang zum Salzsteingarten wurde zur Routine. Mittlerweile kannte Cral den Weg von seinem Zimmer zu dessen Eingang auswendig. Mit Genugtuung stellte er fest, dass Amara bei jeder Begegnung dünner aussah. Wie die Hexe bei Hänsel und Gretel kam er sich vor. Nur, dass er nicht darauf wartete, dass sein Opfer zu-, sondern abnahm. Cral mochte die Geschichte nicht. Am Ende landete die Hexe und nicht Hänsel im Backofen. Und Rumpelstilzchen riss sich mitten entzwei. Warum stellten sich die Bösen im Märchen bloß immer so dämlich an? Er war anders. Zuge- geben, auch er gehörte zu den Fieslingen, nicht aber zu den Idioten. »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich alle Welt bescheiß.« Anstatt um ein Lagerfeuer zu tanzen und dabei seinen Leitspruch auszuposaunen, behielt er ihn lieber im Kopf.

 

Neben seinen Aufenthalten im Salzsteingarten fanden täglich Therapiesitzungen statt, sowohl einzeln als auch mit anderen Patienten. Dabei glichen die Gruppentreffen einem absurden Theaterstück. Da war zum Beispiel dieser eingebildete Vampir, der sich ständig wünschte, sein Spiegelbild sehen zu können. Cral fragte sich, warum. Er hätte ihm auch so sagen können, dass etwas mehr Sonnenlicht seinem Teint gutgetan hätte. Dann diese grauhaarige Hexe, die den Mund nicht aufbekam. War sicher auch besser so. Und was das schizophrene Irrlicht und den alkoholabhängigen Zwerg anging, so wollte er ihnen lieber nicht im Dunklen begegnen. Cral fragte sich, wie der Psychiater mit dem Polohemdtick es inmitten dieser Freaks aushielt. Eine Ausnahme gab es allerdings und die hatte Cral im Arbeitszim- mer des Arztes bei einem der Einzelgespräche angetroffen. Eine Frau. Und was für eine! Der Gedanke an sie katapultierte seinen Testosteronspiegel in die Höhe. Sie hatte ein seidenes Gewand getragen, das ihren grazilen Körper mehr ent- als verhüllte. An das Gesicht konnte er sich nicht erinnern. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte ihrem Dekolleté gegolten, denn dort, eingebettet von der perfekten Symmetrie ihrer Brüste, mündete ihre Halskette in einen lupenreinen Diamanten von der Größe eines Hühnereis.

»Was siehst du?«, hatte der Psychiater gefragt.

Cral war skeptisch geworden. Was war das hier? Ein Rohrschachtest der Kategorie »Nicht jugendfrei!«? Obwohl seine Libido in diesem Moment verrückt gespielt hatte, war er ruhig geblieben und hatte die Ausgeburt seiner erotischen Phantasien als »hübsche Frau« bezeichnet, die ihn an seine »verstorbene Tante« erinnere. Noch jetzt musste er über den Vergleich lachen, denn die Schwester seines Vaters konnte sich in eine Ziege verwandeln und war als Tier definitiv schöner als in ihrer Menschengestalt.

 

»Morgen ist es so weit. Um Mitternacht«, eröffnete ihm Amara schließlich.

Cral nickte. »Ich werde da sein.«

Am liebsten hätte er seine Meditation an diesem Tag ausgesetzt, denn seine Gelenke litten nach wie vor unter den Verrenkungen, doch er wollte Amara nicht auf den letzten Metern misstrauisch machen. Also füllte er die Langeweile, indem er die Nixe beobachtete, die im Teich in kreisenden Achten ihre Bahnen zog. Vermutlich gehörte sie zu den Geschöpfen, die in manchen Ländern noch heute ungestraft in sogenannten »Fantasia-Gärten« der Öffentlichkeit zur Schau gestellt wurden. Wie bei Tieren in einem Zoo konnte die Gefangenschaft auch bei fantastischen Wesen zu Hospitalismus führen. Ob das Dehnen der S-Laute eine Folge dieser Krankheit war? Nicht sein Problem.

Plötzlich zog etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Gestalt näherte sich dem Wasserfall und nickte Amara zu. Cral musste schlucken. Die Frau war wunderschön.

»Hello«, begrüßte sie ihn auf Englisch. Ihre Stimme brachte die Reizübertragung seiner Synapsen zum Erliegen. »I never have seen you sitting here before. You must be a new ghost, eh, guest.«

Cral nickte. Gehörte die Frau zum Personal oder war sie eine Patientin? Wie auch immer, er musste sie kennenlernen. Doch als er etwas Originelles erwidern wollte, brachte er nur ein Krächzen hervor.

Die Frau lächelte. »It was nice to meet you.«

Nach diesen Worten verschwand sie lautlos hinter einem der Felsen.

 

Der hypnotische Blick, die engelsgleiche Stimme. Nur mit Mühe konnte sich Cral auf seinen Plan konzentrieren. Ungeduldig wartete er am nächsten Abend darauf, dass auf den Gängen Nachtruhe einkehrte. Als es so weit war, packte er seinen Rucksack und schlich sich zum Salzsteingarten. Das Rauschen des Wassers und der Geruch der Mineralien waren um diese Zeit besonders intensiv. Durch die Öffnungen des Felsenhimmels sah er Sterne. Der Schein des Mondes ließ die Salzhaut der Felsen schwach aufglimmen, hell genug, um dem Bach zu folgen, der ihn zu dem Teich führte. Als er den Wasserfall erreichte, glich Amara einem Skelett, das nur noch von Federn zusammengehalten wurde. Die Augen geschlossen, sagte sie keinen Ton. Cral hatte den Eindruck, dass sie überhaupt nichts mehr von ihrer Umgebung wahrnahm. Der Gestaltwandler zog die Glasfaserhandschuhe aus der Tasche, anschließend den Holzbecher mit den Eiswürfeln. Dann wartete er in fieberhafter Erregung. Plötzlich wurde die Luft um ihn herum wärmer. Amaras Gefieder begann zu zittern.

»Passs auf!«

Cral fuhr herum. Die Nixe hatte ihren Kopf aus dem Wasser gestreckt, die Augen weit aufgerissen. »Du darfssst nicht hinsssehen oder willssst du erblinden?«

Das Licht war so grell, dass er den Rat der Nixe befolgte und dem Phönix den Rücken zukehrte. Hinter Cral entwickelte sich eine unglaubliche Hitze. Mehrere Minuten loderte das Feuer. Cral verfolgte die tanzenden Schatten zu seinen Füßen. Als es erlosch, drehte sich der Gestaltwandler vorsichtig um. Da lag es, rot glühend.

Die Hitze versengte ihm die Augenbrauen. Schnell griff er mit seinen Handschuhen nach dem Ei. Der angeblich nicht entflammbare Stoff begann sofort zu schmoren. Ein furchtbarer Schmerz fuhr in seine Finger. Cral zwang sich, nicht loszulassen. Mit lautem Zischen tauchte er das Ei in das Eiswasser. Dampf umhüllte die Felsen. Vorsichtig zog Cral die Handschuhe aus und hielt seine Arme unter den Wasserfall. Zu spät erinnerte er sich daran, dass das Wasser salzhaltig war. Der beißende Schmerz drohte ihm das Bewusstsein zu nehmen. Rot leuchteten seine Finger. Auf der Haut bildeten sich Blasen. Schnell! Die kalte Nachtluft in den Karpaten würde den Schmerz lindern. Er stopfte das Ei in einen der Handschuhe und wickelte das Bündel mit Klebeband um seinen Bauch.

»Eine Milliarde, eine Milliarde«, stieß er hervor, um die Schmerzen zu verdrängen und sich auf die Verwandlung zu konzentrieren. Der erste Versuch misslang, der zweite ebenfalls. Beim dritten Mal hoben ihn die Flügel in die Luft. Er stieg hinauf zur Decke, durchstieß eine der Öffnungen und war bald nur noch ein krächzender Punkt im Nachthimmel.

 

»Wie hast du herausgefunden, dass Cral ein falsches Spiel trieb?«, wollte Boris von Emil wissen. Sie saßen zusammen mit Lotte im Behandlungszimmer des Arztes und tranken Tee.

»Die Zeichnung hat mich darauf gebracht. Als ich sie mir in Ruhe angeschaut und mit Autospektiven anderer Patienten verglichen habe, wurde mir klar: Crals Hinweise auf seine Krankheit waren zu offensichtlich, zu plakativ. In der Zeichnung steckten mehr Klischees als Zwiebelstacheln in einem Mettigel. Einmal misstrauisch geworden, fielen mir noch andere Ungereimtheiten auf. Zum Beispiel hatte er behauptet, Jongleur und Zeichner zu sein, aber sein Nacken war so weiß wie mein Poloshirt. Sehr ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass solche Schausteller der Sonne den Rücken zukehren, um bei der Arbeit nicht geblendet zu werden. Und würde ein Buddhist, dem jedes Wesen heilig ist, Gulasch essen? Zudem hatte ich gesehen, wie Cral bei Mac Dip seinen Rucksack ausleerte. Seine Sonnenbrille stammte von einer italienischen Edelmarke. Auch dem Luxus hatte er also trotz seiner buddhistischen Einstellung nicht abgeschworen. Um Sicherheit zu gewinnen, stellte ich ihm eine Falle. Ich lud Grispa zu einer unserer Sitzungen ein und bat Cral, sie zu beschreiben. Er sagte, er sehe eine Frau, die ihn an seine verstorbene Tante erinnere.  In Wirklichkeit war ihm Grispa als Dessousmodel erschienen. Das passte nicht zu der buddhistischen Vorstellung, sich von Leidenschaften, die das Leiden erst schaffen, zu lösen. Nein, Cral täuschte uns. Aber warum? Als ich in Gedanken unser Gespräch Revue passieren ließ, wurde of- fensichtlich, dass er den Kontakt zu Amara suchte. Und Maryssa, unsere sensible Nixe, belauschte die beiden. Cral war bereit, Amara bei ihrem Wunsch, zu sterben, behilflich zu sein. Aus Nächstenliebe? Wohl kaum. Und warum hatte Cral diese seltsamen Handschuhe im Gepäck und warum verlangte er von mir Eiswürfel gegen seine angeblichen Kopfschmerzen? Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen: Er wusste von Amara und hatte seinen Besuch bei uns geplant. Doch wozu? Hier spielte ich meine Trumpfkarte aus. Unser werter Berggeist lief ihm über den Weg, und da er sich nicht nur in eine attraktive Frau verwandeln, sondern auch Gedanken lesen kann, er- fuhr ich den Rest: Cral wollte das Ei des Phönix an einen Schweizer Multimilliardär verkaufen, dem er weißgemacht hatte, dass der Verzehr des Eis unsterblich machen würde. Als ich Amara davon berichtete, war sie empört und erklärte sich einverstanden, Cral einen Strich durch seine Rechnung zu machen. Ehe sie in Flammen aufging, hockte sie sich über das von uns präparierte Keramik-Ei und brachte es so zum Glühen. Maryssa, die in unserem Plan eingeweiht war, sorgte dafür, dass sich der Gestaltwandler von Amara abwandte. Kurz bevor Cral sich wieder umdrehte, verschwand Amara in einer Felsnische. Cral dachte, er hätte das Phönix-Ei vor sich und floh mit ihm in der Gestalt eines Raben.«

»Aber leidet Amara jetzt nicht noch mehr?«, wollte Bo- ris wissen.

»Im Gegenteil, unser Komplott hat ihr sichtlich Spaß gemacht. Und mehr noch. Sie hat den Entschluss gefasst, ihre Unsterblichkeit zu akzeptieren und ihr Dasein stärker in den Dienst anderer zu stellen. Daher hat sie begonnen, neben ihrer Meditation Mitpatienten und Personal in der Kunst buddhistischen Disputierens zu unterweisen. Ihre eifrigste Schülerin ist Maryssa. Die vergießt zwar während der Gespräche noch hin und wieder Perlentränen, aber immerhin traut sie sich, ihrer Lehrerin zu antworten. Die Idee, in das Keramik-Ei einen Zettel mit der Aufschrift

›REingelegt‹ unterzubringen, stammte übrigens auch von Maryssa. Kurzum, das Abenteuer war für unseren Phönix und unsere Nixe eine hervorragende Therapie.«

»Und Cral?«

»Für Cral wohl nicht. Ich schätze, er nimmt das Ende, das fast jeder Fiesling nimmt.«

 

Der Mann saß vor einer Fensterfront mit Blick auf Genfer See und Bergkulisse. Ehrfürchtig betrachtete er das Ei auf seinem Sekretär. Mit einem Messer durchtrennte er die Schale am oberen Ende. Scherben klirrten. Verwundert griff der Mann in die Öffnung und zog einen Zettel daraus hervor. Während dem Mann das Blut ins Gesicht schoss, erbleichte Cral. Schnell verwandelte er sich in einen Raben. Er wollte auffliegen, doch jemand packte ihn am Nacken. Cral dachte an Rumpelstilzchen. Als sein Genick brach, dachte er nichts mehr.

 

 

Über den Autor

Günter Wirtz, geboren 1965 in Düren. Studium der Fächer Deutsch und Spanisch in Bonn. Arbeitet als Lehrer in der Nähe von Siegen. In seiner Freizeit schreibt er Geschichten, die er in Anthologien und eigenen Erzählbänden veröffentlicht, so z. B. sein Buch Phantastische Geschichten (2019). 2020 publizierte der Cornelsen-Verlag seine interaktive Fantasyerzählung Abenteuer mit Spaghetta. Vor wenigen Monaten erschien sein erster Roman mit dem Titel Kaskaden – Die Behörde, ein Agententhriller, der in Spanien spielt. Besonders stolz ist er auf den ersten Platz bei der Storyolympiade 2014 und 2016.

 

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