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Der Sprawl

Missionsbasiertes Cyberpunkrollenspiel

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Kategorie: Pen & Paper

Der Cyberpunk ist als Genre nicht totzukriegen und erfreut sich insbesondere im Rollenspiel großer Beliebtheit. Der Platzhirsch Shadowrun – von Kritikern gerne auch als Fantasy mit Knarren aus dem Genre ausgenommen – erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und mit Cyberpunk 2020, der düsteren Hard-Sci-Fi-Welt von SLA Industries, oder dem innovativen Remember: Tomorrow kommen auch Fans andere Genremischungen auf ihre Kosten. Der Sprawl von Hamish Cameron unterscheidet sich von diesen Spielen durch zwei Aspekte: Zum ersten ist der Hintergrund offensiv an ein Retro-Verständnis von Cyberpunk angelehnt. Mit längst schon von der Gegenwart überholten Technologien und den klassischen Problemen und Konflikten des Cyberpunk steht hier eine Welt ganz nach dem Geschmack von William Gibson oder Ridley Scotts Blade-Runner-Adaption im Mittelpunkt. Zum Zweiten basiert der Sprawl auf dem flexiblen System, das Vincent Baker in Apocalypse World entwickelt hat. Gepaart mit einem ungewöhnlichen Artwork kommt in Sprawl ein ganz eigenes Rollenspielerlebnis heraus …

Sprawl (intransitive verb)

to spread or develop irregularly or without restraint; bushes sprawling along the road; sprawling suburbs; a sprawling narrative

Die Regeln

Der Sprawl ist ein narrativ ausgelegtes, aber gleichzeitig regelintensives Spiel. Gewissermaßen sind die etwa 300 Seiten ein Regelwerk im strikten Sinne. Außer durch Beispiele und kleine Kurzgeschichtseinschübe finden sich im Buch keine wirklichen Hintergrundbeschreibungen, sondern letztlich nur die Regeln, um gemeinsam eine Geschichte zu erleben. Regeln und Hintergrund sind dabei jedoch so eng verbunden, dass gesonderte Hintergrundkapitel gar nicht nötig sind.

Diese enge Verzahnung wird durch einen innovativen Regelansatz möglich, der nicht sofort deutlich wird. Auf den ersten Blick haben wir es im Kern mit sechs Attributen und einem etwas umständlich formulierten Fertigkeitssatz zu tun, bei dem die „Fertigkeiten“ als „Spielzüge“ bezeichnet werden. So dürfen wir „auf die Straße gehen“, „Erste Hilfe leisten“ oder uns „unters Messer legen“.

Auch auf den zweiten Blick bestätigt sich der Verdacht, es mit einem herkömmlichen System zu tun zu haben. So beschreiben die genannten Spielzüge üblicherweise eine Probe auf ein zugewiesenes Attribut. Hierzu werfen wir 2W6 und zählen Attributswert und andere Boni oder Mali hinzu. Eine 7+ ist ein Erfolg, eine 10+ ein guter Erfolg. Der erste merkliche Unterschied zu anderen Systemen ist jedoch bereits die klare Ausformulierung dieser Effekte. Heilen wir, gibt es beim Teilerfolg eine Stufe Leben zurück, dafür gibt es bis zu einer richtigen Behandlung einen dauerhaften Malus. Beim vollen Erfolg dürfen wir hingegen bis zu zwei Stufen heilen und erhalten keinen Nachteil. Auch das kennt man so durchaus von anderen Spielen, auffällig ist aber, dass dieser Detailgrad bei allen Spielzügen angewendet wird:

Nehmen wir das „Nachforschungen anstellen“. Hierzu würfeln wir auf „Verstand“ und dürfen eine von sechs vorgegebenen Fragen stellen. Etwa: „Wo würde ich … finden?“ oder „Wie ist … abgesichert?“. In jedem Fall wird die Frage beantwortet. Bei einer 10 oder mehr dürfen wir sogar eine weitere Frage stellen, während wir bei einer 6 oder weniger zwar immer noch die Frage beantwortet bekommen, aber keine [Info] bekommen. Solche abstrakten [Infos] geben im späteren Spiel +1 auf eine Probe, der Spieler oder die Spielerin muss jedoch erklären, wie die gewonnene Information die Situation positiv beeinflusst. So könnten wir die Laufwege der Security beobachtet haben und dadurch ein +1 bekommen, wenn wir uns verbergen müssen.

Spätestens hier dürften simulationsorientierte Rollenspielerinnen aufhorchen. Tatsächlich wird den Spielern im Sprawl ein sehr großer Spielraum gelassen, um ihre Informationen zu verwenden. Auch die Spielleitung – hier SysOp genannt – weiß vor dem Spiel nicht alles und hat daher gar keine „richtige“ Antwort darauf, wie sich eine Information genau auswirkt. Das schlägt sich auch in den Prämissen des Spiels nieder. Hier wird auch der SysOp angehalten, zu „spielen, um herauszufinden, was passiert“. Was wie eine Ausrede für schlechte Vorbereitung klingt, ist hier ein bewusstes Spielprinzip und formuliert aus, was viele Runden bereits unbewusst tun …

Gestützt wird das durch die bereits genannten Spielzüge. Wie auch die Charaktere verfügt der SysOp über eigene Spielzüge, die jedoch etwas offener formuliert sind und ohne viel Würfeln auskommen. Der SysOp kann beispielsweise „eine Gefahr aufzeigen“, „Schaden zufügen“, „Ressourcen verbrauchen“ oder Konzernzüge ausführen. Streng durchgeführt, kommt es dabei zu einem Wechselspiel aus Charakter- und Spielleitungszügen, bei denen die Spielleitung mehr reagiert als agiert. So soll der SysOp nur selber „ziehen“, wenn die Spieler einen Zug verpatzen, die Handlung stockt oder es die Geschichte erfordert.

Der SysOp

Der Sprawl kennt zwar eine klare Trennung zwischen Spielleitung und Charakteren, ist aber bemüht, beide Seiten als Teil des Spiels zu begreifen. Auch die Spielleitung ist an relativ klare Regeln gebunden und verfügt über Mechanismen, die den Spielfluss steuern helfen und Inspirationssackgassen vermeiden sollen.

Zuerst verfügt das Spiel über eine knappe kollaborative Spielwerterstellung. Wie bereits erwähnt, gibt uns der Sprawl zwar ein gewisses Gefühl vor – 80er Jahre Cyberpunk –, aber keine ausgestaltete Spielwelt. Statt Konzernlisten gibt es Beispielsnamen und welche Art an Technik genau existiert, ist ebenso offen, wie die genaue Gesellschaftsstruktur. Stattdessen bietet uns das Buch ein grobes Prozedere an, um die Welt gemeinsam aus den Vorstellungen der Spieler und Spielleitung zu erschaffen. Hier legen wir genaue Konzerne, ihre Beweggründe, Ziele und Animositäten fest und betten die Charaktere fest in diesen Zusammenhang ein. So entsteht eine maßgeschneiderte Spielwelt, die auch wirklich zum Tragen kommen soll. Durch Mechaniken wie „Tags“ – schlagwortartige Eigenschaften – werden zudem Themen und von den Spielern als spannend empfundene Konflikte festgelegt.

Hinter dem Spielleiterschirm kommen zudem „Agenden“, „Prinzipien“ und „Countdowns“ zur Anwendung. Während die Agenden ganz grundsätzliche thematische Leitlinien angeben, sind Prinzipien gewisse Richtlinien, um dieses Gefühl umzusetzen. So geben uns die vier Agenden vor, das wir den Sprawl technisch, dreckig und exzessiv gestalten sollen, die Charaktere mit Konflikten konfrontieren und sie dabei in die Umgebung einbetten sollen und – wie schon erwähnt – spielen, um den Handlungsverlauf herauszufinden. Die Prinzipien legen uns nah, dies beispielsweise durch konsequente Verwendung von Konzernnamen und spezifische Fragen umzusetzen.

Während Agenden und Prinzipien gewisse Leitfragen darstellen, geben Countdowns ein recht klares Gerüst an, mit dem Bedrohungen und anbahnende Konflikte verwaltet und dramaturgisch sinnvoll eingesetzt werden. Die Countdowns werden vielleicht am besten an der Missionsstruktur deutlich. Der Sprawl bricht einen Spieleabend bzw. eine Mission auf vier grundsätzliche Phasen herunter, die in dieser Form immer eingehalten werden sollten ...

Die Mission

  • Zuerst werden die Charaktere „den Auftrag annehmen“, also mit einem Auftraggeber in Kontakt kommen. Hier bestimmt sich die Aufgabe und Bezahlung, wobei uns das Buch mit einer gut strukturierte Liste an möglichen Auftragszielen und Komplikationen versorgt. Tatsächlich ist die Phase ein eigener, etwas ausführlicher Spielzug, mit dem wir je nach „Schneid“ (eines der 6 Attribute) weitere Informationen sammeln können, unbemerkt bleiben oder gar den Auftraggeber herausfinden. Bereits hier ergeben sich also Ideen für weitere Komplikationen und zeichnet sich ein Bild des Auftrags ab.
  • Einmal angenommen, geht es an die Beinarbeit. Hier können sich die Charaktere auf die Mission vorbereiten, wobei sie wiederum mit konkreten Spielzügen operieren. Ist die Phase in klassischen Systemen oft unbestimmt lang, so kommt hier ein besonders prägnanter Countdown zum Einsatz, der mit der Zeit und durch unvorsichtige Aktionen ansteigt und harte Konsequenzen verspricht. So beendet der Countdown die Beinarbeitsphase und kann selber wiederum Bedrohungs-, Konzern oder Aktionscountdowns beeinflussen.
  • In der Aktionsphase, also der eigentlichen Ausführung des Auftrags, werden die Vorbereitungen der Spieler auf die Probe gesetzt. Hier ist insbesondere der genannte Aktionscountdown zentral, der das Vorgehen in relativ klaren Schritten erschwert. Kurzum: Hier sind wir im klassischen Rollenspielmodus.
  • War der Auftrag erfolgreich, dürfen die Charaktere schließlich „die Bezahlung einstreichen“. Das verläuft ähnlich wie die Annahme des Auftrags und ist wiederum mit möglichen Komplikationen verbunden. Es ist nicht unüblich, hier nur einen Teil der Belohnung zu bekommen, belogen worden zu sein oder von einem Konzern bespitzelt zu werden.
  • Durch diese klare Struktur hat es die Spielleitung verhältnismäßig leicht, eigene Missionen zu schreiben. Die klassische Abenteuerstruktur von Cyberpunkspielen wurde gelungen auf den Punkt gebracht und mit klaren Spielzügen verbunden. Im Optimalfall entwickelt sich so aus den Aktionen der Spieler selbst eine Geschichte, die durch die Countdowns dramaturgisch getaktet wird. Um das Spiel nicht zu stark in einzelne Missionen verfallen zu lassen, folgt nach den vier Phasen noch eine kurze Überlegungsphase, in der die Konsequenzen und entstandenen Komplikationen geordnet werden und zu neuen Missionen führen.

    Das Buch

    Das von Uhrwerk und Pro Indie umgesetzte Buch ist ohne Zusatz und ganz simpel Der Sprawl getitelt. Wir haben es hier nicht mit einem klassischen Grundregelwerk, Handbuch oder Quellenband zu tun, sondern einem vollständigen Rollenspiel. Auch wenn ergänzende Bücher – Beispielsmissionen und Weltbeschreibung – angedacht sind, sind diese völlig optional. Der Sprawl ist so konzipiert, dass man nur mit dem Buch alleine und ein bisschen Erfahrung im Cyberpunk-Genre unbegrenzt spielen kann.

    Die über 300 Seiten sind dementsprechend randvoll mit Spielmaterial gefüllt. Neben den eben skizzierten Regeln finden sich 10 Charakterklassen (bzw. Charakterbücher), Abstrakte und daher enorm flexibel anwendbare Listen zu Cyberware und anderen Ressourcen, eine umfangreiche Beschreibung der Matrix und allerhand Spielleiterinformationen. Wir lernen, wie wir Missionen im Sprawl leiten sollen, welche Spielzüge uns als Spielleitung offen stehen und sogar, wie wir das System auf unsere Bedürfnisse anpassen können. Einzig eine umfangreiche Weltbeschreibung fehlt, die ist aber wie erwähnt auch nicht nötig oder vorgesehen. Bedienen wir uns also bei den Cyberpunkvorstellungen der Spielerinnen und erschaffen daraus unsere eigene Welt, so haben wir wirklich alles in der Hand, was wir brauchen – abgesehen von zwei Würfeln, Stift und den Charakterbüchern natürlich …

    Und hier fängt dann doch ein kleines oder größeres „aber“ an. Sicher, aus der Zeit, wo Charakterbögenblöcke und Würfel mitgeliefert werden mussten, sind wir – abgesehen von Kickstarter Exclusives – längst raus. Zwei Würfel und eine Möglichkeit, die Charakterbögen auszudrucken, dürfte heute jede Gruppe haben, für alle anderen bietet Uhrwerk sogar ein Gimmick-Set. Ärgerlich ist aber, dass die zentralen Charakterbücher im Buch nicht einmal als Kopiervorlage beiliegen und sich kein Verweis auf die passende Onlinequelle findet. Das ist umso ärgerlicher, als sich die Struktur eines Charakterbuches deutlich vom klassischen Charakterbogen unterscheidet. Das kann zwar mit jeder gängigen Suchmaschine gelöst werden, zeigt aber, dass es uns das Buch nicht ganz einfach macht. Trotz einiger Seiten Einleitung, in der die Kernkonzepte des Spiels vorgestellt werden, ist man als Powered by the Apocalpyse-Neuling etwas verlassen. Die Beschreibungen enthalten zwar alles, was wir wissen müssen, nehmen aber nicht allzu viel Rücksicht auf Anfänger. Der Sprawl fällt etwas mit der Tür ins Haus und verlangt uns daher einige Arbeit ab.

    Das zeigt sich auch in Struktur und Layout des Buches. Das Buch ist zwar durchaus sinnvoll strukturiert, eine einleitende Anleitung, die uns vorschlägt, in welcher Reihenfolge wir die Kapitel als Spieler oder Spielleiterin lesen sollen, verwirrt beim ersten Lesen aber mehr als zu helfen. Zu dieser Verwirrung trägt auch das äußerst stylische Layout bei. Das Layout ist auf sattem Schwarz gesetzt und nutzt knalliges Gelb und Pink als Kontrastfarben. Auch das restliche Farbschema stimmt bis hin zum neonpinken Leseband. Neben ganzseitigen Illustrationen, welche die Kapitel einleiten, wird der Text durch abstrakte, computergenerierte Grafiken aufgelockert, die sich  äußerst stilvoll ins Thema einbetten, und selbst die Seitenzahlen sind als Fortschrittsbalken im Stil von 002/00304 dargestellt. Der Sprawl zieht uns wirklich in das düstere Herz der Cyberpunkmatrix.

    Was thematisch überzeugt und das Buch zum Hingucker macht, geht leider auf Kosten des Überblicks. Die Seitenzahlen sind etwas zu klein gehalten und da jede farbliche Kodierung oder ein Seitenregister fehlen, springt man etwas schwer zwischen den Kapiteln umher. Zu guter Letzt lassen sich die Beispielgeschichten im stilvollen Grün oder Graublau bei schlechtem Licht kaum lesen. Als Handbuch eignet sich der Sprawl daher nur bedingt, was man selbstverständlich wiederum durch Listen, Hilfsmittel und gute Vorbereitung ausgleichen kann. Nicht umsonst kommt das Original in einer schicken Tageslicht- und lesefreundlichen Nachtversion daher.

    Die von Carsten Damm angefertigte Übersetzung kann mich dafür entgegen mancher Kritik durchaus überzeugen. Die Eindeutschungen sind zwar ewig diskutierbare Ermessens- und Geschmacksache, sind aber hier für mein Empfinden gut dosiert und konsequent umgesetzt worden. Vor allen Dingen ist der allgemeine Stil nachvollziehbar, flüssig lesbar und in einem leicht rotzigen Cyberpunk-Ton gehalten.

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