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Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Diesen Monat präsentieren wir Euch die Kurzgeschichte aus dem Phantastik-Autoren-Netzwerk von Ju Honisch. Viel Spaß beim Lesen!

Der Einzug des Nachbarn hatte nachts stattgefunden. Emanuel hatte großzügig davon abgesehen, sich zu beschweren, obgleich er von der ganzen Angelegenheit überrascht worden war und Überraschungen verabscheute. Allerdings schlief er nachts ohnehin kaum und wollte dem neuen Nachbarn nicht gleich unangenehm auffallen. Er fiel generell nicht gerne auf.

Nachbar. Schon bei dem Wort empfand er Widerwillen. Er brauchte Platz. Er brauchte seine Ruhe. Nachbarn störten nur.

Emanuel hatte das große Gebäude bislang allein bewohnt. Es war einmal ein Lager gewesen, in das man im Obergeschoss ein weiträumiges Loft eingebaut hatte. Die hallenhohen Wände und auch die Abgeschiedenheit hatten ihm gefallen. In dem inzwischen vollständig verwaisten Industriegebiet wohnte sonst niemand.

Keine Menschenseele.

Es war sein Revier. Gewesen. Bis jetzt. Jetzt würde er teilen müssen. Teilen! Es gab nicht viel, das er gerne teilte. Im Grunde nichts.

Die eine Straße, die zum Ortskern der Kleinstadt führte, ging nur in diese Richtung, denn hinter diesem letzten Gebäude war das Tal zu Ende. Dort erhob sich eine Felswand und viel grüner Wald.

Wer immer gemeint hatte, ein Industriegebiet wäre quasi am Ende der Welt optimal untergebracht, hatte sich eines Besseren belehren lassen müssen. Man hatte im Ort schon lange nichts mehr von ihm gehört.

Die vom Bauausschuss ungeplante Einsamkeit besaß jedoch auch Vorteile. Keine Kinder spielten laut, keine Besoffenen grölten des Nachts. Es war still und leer. So mochte es Emanuel.

Doch nun hatte er einen Nachbarn.

Im Erdgeschoss war jetzt auch der letzte Rest Lager verschwunden und dafür ein weiteres teures Loft entstanden, ohne Dachgarten zwar, doch mit edler Granit-Terrasse. Unter Emanuels Türschild prangte nun ein zweites mit dem Namen Nibras Kamar.

Woher der Name stammte, wusste Emanuel nicht. Es war einerlei. Namen sagten selten etwas über einen Menschen aus. Emanuel hatte sich als derzeitigen Nachnamen Longren gewählt. Das sagte auch keinem was, dabei war es durchaus nicht ohne Bedeutung.

Emanuel seufzte und zog sich etwas an. Das hatte er schon lange nicht mehr getan.

 

---

 

Wäscheleinen waren dazu da, einen mit dem Nötigsten zu versorgen. Die junge Frau hatte gestohlen. Sie besaß nicht viel auf dieser Welt. Als Aussteigerin hatte sie ihr letzter Gastgeber bezeichnet. Sie mochte die Bezeichnung. Er wiederum hatte sie gemocht. Sie hatte gerne bei ihm gewohnt, doch dann hatte er eine Gegenleistung eingefordert. Sie war nicht bereit gewesen, sich ihm hinzugeben. Sie war stolz auf ihren Körper, und er gehörte nur ihr.

Sie war dann weitergezogen.

 

---

 

Am Tag nach dem Einzug des Nachbarn hatte Emanuel darauf gewartet, dass Herr Kamar kommen würde, um sich vorzustellen. Er hatte sogar Bier kaltgestellt und Sekt und Wein, um auf gute Nachbarschaft anzustoßen. So tat man das doch?

Herr Kamar kam nicht. Vielleicht wusste er nicht, was sich gehörte? Vielleicht war auch er lieber allein. So wie Emanuel, der dennoch all das tat, was der Anstand gebot, und er fand, der Anstand gebot, dass man sich vorstellte. Er war da vielleicht ein wenig konservativ. Doch er war der Meinung, das sei sein gutes Recht. Er war schließlich kein Jungspund mehr.

Sein. Gutes. Recht. Er lächelte fein.

Am Tag darauf war Herr Kamar immer noch nicht erschienen, und am dritten Tag überlegte sich Emanuel, ob der Nachbar vielleicht der Meinung war, er, Emanuel, müsste sich als angestammter Revierhalter hier zuerst melden. War es überhaupt eine Revierentscheidung? Wer sich zuerst bewegte, hatte verloren? Es war lange her, dass Emanuel sich mit Etikette befasst hatte.

Er war zuerst hier gewesen. Es war sein Ort – Hort – Heim – Domäne – Revier. Egal.

Er griff in die Regalreihe mit der Kniggesammlung und suchte. Falls das irgendwo stand, so fand er es nicht. Er würde einfach runtergehen und sich vorstellen. Eine Weile blätterte er noch, denn er liebte Bücher, besonders alte, und bei seinen Knigges waren schöne alte Ausgaben dabei, sogar eine Erstausgabe von 1788: Über den Umgang mit Menschen.

Er zog sich um. Guter Donegal Tweed würde einen gediegenen Eindruck machen, zeitlos in seiner teuren Eleganz. Herren, die den Titel verdienten, trugen so etwas. Er war hier der Herr.

Er trat ins Treppenhaus. Ein feiner Mief lag in der Luft. Emanuel schnüffelte, vermochte den Geruch jedoch nicht zuzuordnen – menschlich und doch auch chemisch. Während er die Treppe hinunterstieg, wurde der Geruch intensiver. Der neue Nachbar müffelte. Oder er kochte wirklich sehr exotisch.

Emanuel besaß nicht einmal einen Herd.

An der unteren Tür angelangt, blieb Emanuel einen Moment lang unschlüssig stehen, fühlte sich vor dem Eingang wie vor einem gleichpoligen Magneten: abgestoßen. Emanuel war menschenscheu. Das war er jedoch beileibe nicht immer.

In einer Hand hielt er den Sekt. Mit der anderen drückte er auf die Klingel. Eine lange Weile geschah nichts. Wahrscheinlich war es schon zu spät, schließlich war es bereits dunkel. Emanuel war eher eine Nachteule, schlief gerne lang in den Tag hinein und war dann entsprechend spät abends unterwegs.

Er wollte schon aufgeben, da hörte er endlich Schritte von der anderen Seite der Tür. Diese öffnete sich nun einen schmalen Spalt weit. Herr Kamar lugte hervor. „Ja?“, fragte er, wenig neugierig und wenig erbaut.

Der Geruch war nun noch intensiver als vorher, und Emanuel wünschte, er wäre nicht gekommen. Nicht so spät. Nicht mit einer Flasche Sekt. Gar nicht hätte er kommen sollen.

„Emanuel Longren“, stellte er sich vor. „Ich wohne über Ihnen. Ich wollte mich vorstellen und Sie …“ begutachten, abchecken, überprüfen, einordnen, „… willkommen heißen.“ Höfliches musste nicht notwendigerweise wahr sein.

Der Mann nickte desinteressiert. Es war etwas Zeitloses an ihm, sein Alter war schwer zu schätzen. Seine krausen, weißen Haare standen ihm vom Kopf ab, sahen fast so aus wie ein Afrohaarschnitt, nur eben in der falschen Farbe. Einen Moment lang musste Emanuel an Einstein denken, dessen Frisur auch dem Gesetz der Schwerkraft getrotzt hatte, als wäre ihm daran gelegen, Isaac Newton als altmodisch und irrelevant zu verhöhnen. Das Fehlen von Farbe war allerdings noch eklatanter. War der Mann Albino?

„Das ist … nett“, sagte Herr K. nach einer Weile unschlüssig. Dann schwieg er. Anstalten, Emanuel hineinzubitten, machte der Weißhaarige nicht.

„Ich dachte“, soufflierte Emanuel, „wir könnten vielleicht ein Glas auf gute Nachbarschaft trinken.“ Er pfiff auf gute Nachbarschaft. „Ich habe natürlich auch Wein oder Bier, falls Ihnen das lieber ist, Herr Kamar.“ Das war nicht wirklich eine Aufforderung, ihn einzulassen, aber irgendwie doch.

 

---

 

Die junge Frau hieß Chantal. Sie hatte sich am Anfang ihrer Reise mit anderem Namen vorgestellt, doch sie war es leid gewesen, gesagt zu bekommen, was für einen ungewöhnlichen und schönen Namen sie doch hatte, und dass er genau zu ihr passte.

Ungewöhnlich und schön. Wohlproportioniert, mit Model-Beinen und wehendem Blondhaar.

Der Name Chantal löste weniger Bewunderung aus. Chantals gab es in erfreulicher Vielzahl. Sie war nun eine von vielen blonden Schantallen.

 

---

 

„Ah“, sagte Herr Kamar. „Wein wäre mir tatsächlich lieber. Haben Sie Rotwein?“

„Oben in meiner Wohnung. Ich kann ihn holen.“

„Nicht nötig“, versicherte Herr K. „Ich komme einfach mit.“ Damit wand er sich aus dem engen Türspalt und schloss die Türe akribisch hinter sich, ohne dass Emanuel noch Gelegenheit hatte, einen Blick auf die Einrichtung zu werfen. Die Neugier in ihm schien die Arme zu verschränken und mit dem Fuß zu tappen.

Emanuel vermied gemeinhin Besuch.

Der neue Nachbar wohl auch. Hoffentlich hatten sie nicht noch mehr gemeinsam.

„Sehr freundlich von Ihnen, Herr Longren.“ Sie stiegen die Treppen empor.

Ein Fremder in seiner Behausung. Jede Gefälligkeit rächte sich.

Er schloss auf und winkte Herrn Kamar hinein. Im Loft gab es keinen Flur, man stand sofort in der großen Halle, deren Wände fast vollständig mit Bücherregalen bis zur Decke bestückt waren.

Das Sitz-Ensemble drängte sich in eine Ecke. Der Rest des Raumes war frei, wenn man von dem runden Haufen Bücher absah, der nicht mehr ins Regal gepasst hatte und nun einfach auf dem Boden lag.

„Beeindruckend“, murmelte Kamar. „Sie mögen Bücher wohl sehr, oder?“

„Sie sind sozusagen mein Schatz“, antwortete Emanuel und wandte sich der Küchenzeile zu. Er holte einen Rotwein und blies den Staub von der Flasche. „Ist der recht?“

„Natürlich! – Sind Sie Gelehrter oder Professor?“

„Privatgelehrter. Einen Ruf habe ich nicht.“

„Dann haben Sie auch keinen zu verlieren“, scherzte Kamar.

Emanuel lachte bemüht und goss zwei Gläser Wein ein. Der Besucher sah sich um.

„Eigenwillige Einrichtung. Alle Möbel auf einer Seite und dann diese große freie Fläche. Wo schlafen Sie denn?“

„Oben.“ Emanuel deutete nachlässig auf die Treppe, die sich an einer Wand zum Dachgeschoss hin erhob. „Prost!“

„Prost!“

„Auf gute Nachbarschaft!“ Er winkte Herrn Kamar zu den Sitzsäcken.

„Seventies!“, lobte der Nachbar, ohne sich zu setzen. „Ich mag ja auch alte Sachen. Ich bin Restaurator.“

„Was restaurieren Sie denn?“

„Im Moment alte Gemälde.“

„Da war so ein Geruch …“

„Das ist eine historische Farbmischung. Mit Blutanteil.“

Blut. Genau. Das war es, was er gerochen hatte. Nicht mehr frisches Blut.

„Wie interessant“, log Emanuel. „Wo bekommen Sie das Blut her?“

„Metzger.“

„Ah.“ Woher auch sonst.

Das Schweigen hätte peinlich sein können, doch der Wein verwandelte es in eine Genusspause. Eine eigene Art der Wandlung, dachte Emanuel, der sich gerne zum Spaß auch mal mit Religionen und Mythen befasste, ohne dass er den Unterschied genau fassen konnte.

Aber wer konnte das schon?

Nun stand Herr Kamar vor der Vitrine und betrachtete versonnen Emanuels Figurinensammlung.

„Sie mögen Fantasy?“, fragte er, und irgendwie war sein Grinsen schief.

„Ich befasse mich gerne mit Mythen und Legenden. Sie eröffnen einem solch tiefe Einblicke in das menschliche Seelenleben.“

„Und Religionskitsch?“ Herr Kamar trat einen Schritt zurück und wandte seinen Blick blinzelnd von den gesammelten Devotionalien ab, die übergangslos neben Frodo, Smaug, Gandalf und anderen standen.

„Ein unermessliches Sammelgebiet, das ich jedoch nur sehr peripher angehe.“

Herr Kamar nickte. „Da geht es mir ähnlich. Mein Spezialgebiet sind afrikanische Mythen. Die derzeitige Phantastik bezieht sich ja primär auf mittel- und westeuropäische Überlieferung. Ähnlichkeiten sind freilich vorhanden.“

Sie blickten einander an. Emanuel stellte fest, dass er mit diesem Menschen, der sein Nachbar war, tatsächlich etwas gemein hatte. Irritierend. Emanuel sah sich gerne als einzigartigen Individualisten.

Der Mann schritt nun die Bücherregale ab. Erst jetzt konstatierte Emanuel, dass sein Gast unpassend gekleidet war. Er trug einen dunkelfleckigen Overall und klobige Filzpantoffeln. Dennoch schien er sich in Gegenwart des in teuren Tweed gewandeten Gastgebers nicht underdressed zu fühlen. Was ihm an Geschmack fehlte, machte er durch Ego wett.

„Eine sehr schöne Sammlung“, lobte Herr Kamar.

Hoffentlich bat er nicht darum, etwas ausleihen zu dürfen. Emanuel gab grundsätzlich nichts aus der Hand.

Seine Bücher. Sein Schatz.

 

---

 

Schantalle blickte auf das kleine Display in ihrer Hand. Die Koordinaten waren richtig. Mit einem Industriegelände hatte sie nicht gerechnet. Doch es sah verlassen aus. Die Straßenlaternen waren dünn gesät. Hinter den letzten Gebäuden würde der Talkessel zu Ende sein. Dort sollte es sein. Seltsam.

Sie hinterfragte die Richtung nicht. Der Weg stimmte. Die Sommernacht war klar und schön. Neumond. Entsprechend war es dunkel. Doch sollten die letzten Straßenleuchten versagen, hatte Schantalle alles dabei, was nötig war.

 

---

 

Emanuel wünschte sich, sein Nachbar würde gehen. Unhöflich wollte er jedoch keinesfalls sein. Das Image, das er pflegte, war das eines untadeligen Gentlemans.

Kamar war immer noch mit der Betrachtung der Bücherregale beschäftigt.

„Erstausgaben …“, murmelte er.

„Sie sind mir am liebsten.“

„Verständlich. So viele Knigge!“

„Ich wünschte, mehr Menschen würden ihn lesen. Vor allem die frühen Ausgaben.“

Der Nachbar grinste. Seine Zähne standen irgendwie zu tief im Mund, was sein Lächeln etwas unangenehm machte. „Glauben Sie, der Knigge hat das Benehmen der Menschen beeinflusst?“

„Kaum. Das menschliche Benehmen ist – divers. Nicht einmal Grundwerte sind – in der Gesamtheit der Weltbevölkerung – annähernd identisch.“

„Sehr philosophisch.“ Der Mann trank sein Glas leer und stellte es ab. „Ich werde dann wieder ein bisschen arbeiten. Deadline und so.“ Er grinste, als amüsierte ihn etwas. „Und mein … Material … wird nicht frischer. Danke für die Einladung.“

Die Tür schloss sich hinter dem Gast.

Emanuel atmete auf, als er wieder allein war. Etwas entspannte sich in ihm, rann gleichermaßen seine Wirbelsäule entlang. So mussten sich die Damen des 19. Jahrhunderts gefühlt haben, wenn sie nach einem unangenehmen Tag endlich aus ihrem Korsett durften.

Er warf das Jackett über den Sitzsack und ließ das Gespräch in seinen Gedanken revuepassieren. Sein Nachbar, der Künstler. Emanuel mochte es, wenn die Zeit nicht an den schönen Dingen nagte, die kunstfertige Menschen einst geschaffen hatten. Die Zeit war da durchaus rücksichtslos.

Er blickte in den Spiegel. Sah man ihm das Alter an? Sicher nicht. Er sah distinguiert aus, nicht zu jung, aber auch nicht zu alt. Er würde sich überlegen müssen, ob Herr Kamar so etwas wie ein Freund werden würde.

Sein Instinkt sagte nein. Sie fanden trotz der Überschneidungen, die es in ihren Interessen gab, einander vermutlich eher kurios als sympathisch. Dieser Blutgeruch! Blut hielt sich nicht lang genug frisch, als dass das Aroma anders als leicht verwest riechen konnte. Jetzt, wo er es wusste, fand Emanuel, dass der Geruch das ganze Gebäude durchzog.

Musste er damit jetzt leben? Für immer? Er würde etwas unternehmen müssen. Jedoch nicht gleich. Der Mann war schließlich gerade erst eingezogen.

Ein neuer Duft erreichte Emanuels empfindliche Nase. Ein Lebensduft, wo er eben noch Tod eingeatmet hatte. Er trat zum Fenster, blickte hinaus.

Ein Mädchen. Der Ausdruck war veraltet. Heute sagte man junge Frau. Jungfrau. Nein, auch das war veraltet.

Er lächelte sanft. Solange die Jungfrau nicht veraltet war …

 

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Nibras Kamar schloss die Wohnungstür hinter sich und lehnte sich dagegen. So hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sein Nacken prickelte. Hätten seine Haare nicht schon hochgestanden, sie hätten sich der Schwerkraft sicher jetzt entzogen.

Ein seltsamer Mensch, dieser Emanuel Longren. Dieser stechende Blick aus den großen Augen, die wie grünes Muranoglas wirkten.

Den Nachbarn und ihn schien etwas zu verbinden, etwas Fundamentales. Nibras wusste nicht, was, doch es war ihm unangenehm. Er war Einzelgänger.

Wein. So verflucht zivilisiert.

Er nahm seinen goldenen Kelch in die Hand. Ein wunderschönes Stück. Natürlich hatte er alle jene symbolischen Gravuren entfernt, die ihm missfallen hatten. Dennoch ein wertvolles Kunstwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert. Früher hatten Priester daraus Wein getrunken, das Blut Christi. Was Nibras daraus trank, war nicht das Blut Christi.

Herr Longren – nicht einmal seinen Vornamen hatte der Nachbar ihm angeboten, so wie das jetzt wohl Sitte war. Man duzte sich. Man redete sich mit Vornamen an. Man pflegte eine Pseudovertrautheit, die immer nur dem nutzte, der Vertrauen zu missbrauchen wusste.

Doch Herr Longren war Herr Longren geblieben, und Nibras war weiterhin Herr Kamar.

Nibras blickte zur Zimmerdecke. Sie war die Reviergrenze zwischen ihm und dem anderen. Ab jetzt würden sie sich meiden.

Er nahm den Pinsel zur Hand, stieg auf eine Leiter und begann, die Decke blutrot anzustreichen. Das hatte er nicht vorgehabt, doch es verstärkte die Grenze nach oben. Er brauchte diese Grenze.

Die Chemikalien im Blut sorgten dafür, dass die organischen Stoffe in der Mischung nicht verrotteten, nicht braun wurden oder gar grünlich. Sie blieben einfach dunkelrot. Seine Lieblingsfarbe. Natürlich roch es ein bisschen, doch Nibras mochte den Geruch. Und sein Nachbar … vielleicht hatte er den Duft nicht wahrgenommen?

Doch. Das hatte er.

Er pinselte nachdenklich. Es war ein Glücksgriff gewesen, diese Bleibe zu finden. So groß. Die Schichten seiner Wanddekoration würde die Behausung nicht so schnell zu klein werden lassen. Die letzte Wohnung war entschieden  zu eng geworden. Seine Eltern damals hätten dazu eine andere Meinung gehabt, aber er hatte sie schon sehr lange hinter sich gelassen.

Irgendwo an einer Wand.

Er atmete tief ein. Er war in seinem Element, umgeben von der Schönheit des Lebens. – Und einem Nachbarn, zu dem er sich irgendwas würde einfallen lassen müssen.

Alles ließ sich lösen. Die Segnungen der Chemie …

Ein neuer Geruch drang durch das gekippte Fenster. Nur nachts erlaubte sich Nibras den Luxus, die schweren Holzpaneele von den Lichtöffnungen zu öffnen und frische Nachtluft in seine Gefilde zu lassen. Tagsüber zog er Dunkelheit vor.

Nachts hingegen war es angenehm, die Welt zu erschnuppern. Er roch etwas. Etwas näherte sich. Das war gut so. Er blickte auf seinen schwindenden Vorrat an Wandfarbe. Er hatte sich immer darauf verlassen können, dass das, was er brauchte, sich rechtzeitig bei ihm einfinden würde. Es war die Macht des Mondes, die für ihn sorgte - so hatte man es ihm beigebracht.

Allerdings war heute Neumond, und seit der Mondlandung hatte er das nicht mehr ganz wörtlich nehmen können.

Er sah auf den Tisch. Die letzten Reste seines Materials lagen noch dort. Eine ausgeblutete Hülle. Erst mal einfrieren. Irgendwann würde er sie brauchen. Wo er herkam, ging man stets sorgfältig mit Ressourcen um. Er nahm eine Hand in seine, als entböte er einen durchaus verspäteten Gruß. Dann legte er die Hand ans Fußende.

Den Tisch sollte er putzen. Erfreulicherweise putzte sich Edelstahl leicht. Nur in den Rinnen und Rillen setzte sich manchmal etwas fest. Dafür waren sie aber eminent praktisch, wenn es darum ging, Flüssigkeit zu gewinnen. Seziertische waren eine segensreiche Erfindung.

Nibras trat zum Fenster. Da. Die Frau kam die Straße entlang. Ganz allein. Hatte ihr niemand erklärt, dass das gefährlich war? Er lächelte.

So wie sie da durch die Nacht lief, war sie eine Einladung an alle, die sie erstrebenswert fanden. Sie war wirklich sehr süß. Er nahm natürlich auch Hässliche, aber das Auge trank schließlich mit.

Er knöpfte seinen Overall auf und ließ ihn vom Körper fallen. Das Outfit hatte dem Bücherwurm vom ersten Stock nicht gefallen. Tweed. Meine Güte. Tweed!

Er öffnete das Fenster ganz und hockte sich auf das Sims wie ein Gargoyl. Seine Zehen krallten sich um die Kante. Dann schob er die Arme durch die Öffnung und sprang. Hoch und weit.

 

---

 

Hier musste es sein. Schantalle sah auf ihr Display. Dann blickte sie sich um. Der Sternenschein erhellte die Nacht. Wenig künstliches Licht, keine Lichtverschmutzung. Die letzten Straßenlaternen machten es kaum heller. Hier also. Im Moment sah es allerdings so aus, als wäre sie ganz allein. Es war still. Zu still.

 

---

 

Nibras ließ seine Schulterblätter zu Flügeln werden. Sie breiteten sich aus, weißlich und rotädrig, hautig und fast ein wenig transparent wie eine Kaugummiblase. Seine Hände wurden zu Krallen, seine Zehen ebenso. Seine nadelspitzen Außenzähne wuchsen in einer Reihe vor den normalen Zähnen.

Er stieß nach oben gen Nachthimmel, spürte die Nachtluft auf seiner Haut, fühlte Freiheit, Sehnsucht und Hunger. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt.

Hoch! Höher! In die Luft, zu den Sternen …

Er klatschte gegen etwas Mächtiges direkt über ihm. Eine Barriere mitten in der Luft?

Das konnte nicht sein! Da war nichts. Sein Kopf zuckte zurück, als gigantische Krallen nach ihm griffen. Er wich aus, sah einen schuppigen Unterbauch von riesigen Ausmaßen in hellgrün. Nun krallte auch er zu, schlug mit weißen Hautschwingen nach oben, bekam etwas wie eine Ohrfeige von grünlichen Lederschwingen nach unten.

Er taumelte. Krallen verhedderten sich. Größere, kleinere. Die kleineren waren seine. Das war noch nie passiert! Wut wurde Teil des Kampfes.

Nibras stürzte zu Boden, hackte währenddessen nach dem Wesen, das da so plötzlich und unerwartet über ihm erschienen war. Er würde nicht unterliegen. Niemals. Er war stets der Sieger.

Beide waren sie jetzt am Boden, starrten einander an, flaschengrüne Augen gegen rötliche, vier runde Leuchtpunkte in mondloser Nacht. Leichter Rauch stieg aus den Nasenlöchern seines Gegenübers.

Die Fassungslosigkeit beider Wesen dauerte viel zu lang. Aber wer rechnete schon damit, dass …

„Ein Vampir!“, zischte es zahnig von der Kreatur gegenüber, die ihn bei weitem überragte und deren Schuppen in Reihen von pfeilspitzen Erhebungen den Körper entlangliefen bis zur messerscharfen Schwanzspitze. „Und dann noch nackt! Ekelerregend!“

„Ich dachte, es gibt keine Drachen!“, gab Nibras genauso ungehalten zurück. „Müssen wir jetzt noch ein paar Hobbits und Zwerge erwarten? Sie … Fantasyklischee!“

„Und Sie, Herr Kamar? Decken Sie das Genre Horror ab?“ Herr Longren klang giftig. „Nichts als Schund!“

Sie starrten einander wütend an.

„Ach und Sie? Ein verstaubtes Detail der Heraldik!“

„Uns Drachen gab es immer schon! Aber Vampire sind eine reine Erfindung des sexuell unterdrückten Homo Sapiens. Kunstrestaurator! Dass ich nicht lache! Daher der Blutgestank! Sie lassen Ihr Essen rumliegen, mein Guter. Das gehört sich nicht.“

„Ich wüsste nicht, dass im Knigge Benimmregeln für jemanden wie mich stehen. Ich stehe über allen Regeln! Wenn Sie denken, dass ich jetzt höflich beiseitetrete, haben Sie sich geirrt. Tun Sie mir einen Gefallen und sterben Sie aus. Jetzt gleich!“ Nibras hatte nicht vor, nachzugeben, auch wenn sein Kontrahent mit triefenden Zähnen von oben her auf ihn herabsah – in jedem Sinne des Wortes.

„Das ist meine Jungfrau!“, beharrte jener. „Glauben Sie mir, ich hatte schon länger keine. Die meisten weiblichen Wesen in diesem Zustand sind noch nicht reif.“

„So spezialisiert sind Sie? Und da hat die Evolution Sie nicht schon längst ausradiert?“

„Sie fressen wohl alles, was Blut hat. Kein Stil! Was soll man auch erwarten von …“

Ein Geräusch ließ beide herumfahren in Richtung Opfer. Vermutlich würde es den Streit ausnützen, um zu fliehen. Unmöglich natürlich. Fliegend waren beide schneller als so eine - Jungfrau.

Doch nein. Die junge Frau stand immer noch da. Sie hatte ihren Rucksack abgesetzt und manövrierte ihr Smartphone gerade in einen Selfiestick.

Dann wandte sie den beiden Nachtjägern den Rücken zu.

„Say Cheese! Please!“

Das Blitzlicht veranlasste Nibras dazu, laut loszuschreien, während Emanuel in grausem Bass „Unverschämtheit!“ brüllte. Nibras fürchtete einen Moment lang, sein Nachbar würde die respektlose Frevlerin mit einem dünnen, bläulich heißen Strahl Feuer zu Asche verbrennen. Er konnte sehen, wie der andere sich zusammenriss. Von Asche hatte keiner etwas.

Schon hatte die schöne Maid sich wieder umgedreht und strahlte die beiden an.

„Ich heiße Schantalle!“, stellte sie sich vor. „Und ihr? Nur wo wegen der Vollständigkeit.“

Beide starrten sie an. Schreien, Klagen, Bitten, Betteln und Wimmern waren beide gewöhnt. Die Aufforderung, sich offiziell vorzustellen, war hingegen neu.

„Nibras Kamar“, murmelte Nibras etwas betreten, riss sich dann zusammen und fügte gefährlich zischend hinzu: „Dein Blut gehört mir!“

„Angenehm! Und du?“

Sie duzte den Drachen. Nibras merkte, wie ihn das aus der Fassung brachte. Grüne Augen blickten ihn kurz böse an und schwenkten den Blick auf die Maid, die schon wieder in ihrem Rucksackt wühlte.

„Du bist mein!“, donnerte er.

„Wessen? Willst du dich nicht wenigstens vorstellen? Das gehört sich so.“

Der Meister des Knigge verharrte einen Moment sprachlos. „Emanuel Longren. Zu Ihren … äh …“

Sie holte zwei Metallgehäuse aus dem Gepäckstück. „Einen Moment noch!“, bat sie höflich. Die beiden Ungeheuer waren zu perplex, um ihr die Bitte abzuschlagen.

„So.“ Sie drückte je einen Knopf, und die Kästchen sprangen auf. Ein hohes Summen ertönte. Dann nahm Nibras einen Grashalm wahr, der größer war als er selbst. Um ihn herum war alles gigantisch. Nur Herr Longren war immer noch größer als er, allerdings kleiner als die Margerite, die am Straßenrand blühte.

„So, die Herren“, meinte Schantalle fröhlich, griff den einen und den anderen und stopfte sie jeden in sein Kästchen. Dann schloss sie ab.

„Einmal Horror und einmal Fantasy“, kicherte sie. „Und jetzt ein bisschen Science Fiction.“ Sie tippte auf ihr Handydisplay und die beiden Metallschachteln begannen zu schimmern. Dann lösten sie sich vom Boden und schwebten dem Nachthimmel entgegen, an dem für einige Sekunden eine riesige, weiße Scheibe aus dem Dunkel auftauchte.

„Bericht!“, sprach sie in ihr Handy. „Einmal klassischer europäischer Drache, einmal Vampir - vermutlich afrikanisch, beide Gestaltwandler. Neue Beiträge für die Galaktische Menagerie unwahrscheinlicher Kreaturen.“

„Deine Boni werden vermerkt“, hallte es aus dem Handy. „Dir steht Urlaub zu.“

„Lass man. Hier in der Nähe soll es noch einen Wassermann und eine Waldfee geben. Die sollte ich noch mit aufsammeln. Jetzt gehe ich erst einmal schlafen. Habe ja zwei schicke Lofts zur Verfügung.“

 

 

Über die Autorin

Ju Honisch schreibt im Bereich Historical Fantasy, Steampunk, Low Fantasy und Portal Fantasy. Sie schreibt sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch.

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