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Nesciamus: Gefährliche Geheimnisse

Ein spielleiterloses Abenteuer zwischen Brett- und Rollenspiel

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Kategorie: Brett- und Kartenspiele Pen & Paper

Dämonen suchen das beschauliche Dorf Rauningen heim. Als mehr oder minder einfache Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sind auch wir zur regelmäßigen Blutwacht bestellt, die das Angreifen der gefährlichen Geschöpfe vermeiden soll. Als wir Zeuge werden, wie ein unschuldiger Tuchhändler einem Dämon zum Opfer fällt, sind wir damit beauftragt, das Dorf vor Schlimmeren zu bewahren. Wir müssen schnell handeln, doch die autoritären ‚Hüter der Wahrheit‘ sehen heroische Alleingänge nicht gerne. Sie sind bereit, das Dorf aufzugeben …

Die Grundgeschichte von Gefährliche Geheimnisse, dem ersten Abenteuer der Nesciamus-Reihe, ist nicht allzu außergewöhnlich. Alles deutet auf ein eher sozial oder politisch ausgerichtetes Abenteuer statt auf Monsterhatz und Beutejagd hin, ansonsten könnte das Abenteuer aber fast im Fantasyallerlei untergehen. Zumindest wenn es sich hier um ein generisches Rollenspielabenteuer handeln würde und nicht um ein spielleiterloses Rollenspiel …

Brettrollenspiel

Nesciamus schlägt in eine Nische an Spielen, die sich in den letzten Jahren immer mehr aus den schattigen Ecken der Rollenspielspelunken hervorwagen: rollenspielnahe Spiele, die auch für Gelegenheitsspieler geeignet sind. Zahlreiche Dungeoncrawler oder Einstiegsrollenspiele kommen mit Abenteuern ohne große Vorbereitungszeit und teilweise ganz ohne Spielleiter aus. Dabei wird sich häufig den Prinzipien der alten Spielbücher oder Textadventures bedient, also im Endeffekt Geschichten, die sich an Entscheidungspunkten Abzweigen und oft mit kleineren Regelsystemen daherkommen. Entscheiden wir uns für den linken oder rechten Weg? Wie überzeugen wir den Ork am Höhleneingang, uns durchzulassen, und können wir unsere Proviantrationen ordentlich einsetzen?

Das Prinzip, je nach Entscheidung andere Textabschnitte oder Karten auszuwählen, bleibt unverändert simpel und ist daher praktisch. Mit Spielen wie Oben und Unten konnte das Konzept sogar klassische Brettspieler erreichen und T.I.M.E. Stories kombiniert das Prinzip höchst erfolgreich mit abgedrehter Metahandlung und wunderbar illustrierten Karten.

Auch das vorliegende Abenteuer zu Nesciamus geht in diese Richtung. Optisch vielleicht nicht so brilliant wie T.I.M.E. Stories, aber dennoch schick anzusehen, kommt die schön aufgemachte Box mit einem äußerst knappen Regelheft und zwei Kartenstapeln daher. Zwölf Großformatige Hochglanzkarten geben die Kernszenen und Ereignisse vor, während etwa 50 normale Spielkarten Charaktere und Aktionen darstellen.

Das Grundprinzip ist altbekannt. Die Szene konfrontiert uns mit einem Ereignis, das Charaktere und Aktionen einführt und uns zu Entscheidungen und Proben führt. Je nach Entscheidung oder Erfolg wird eine andere Szene oder Aktionskarte freigespielt, die wiederum weiterführt. Das Grundgerüst wird durch den Einsatz von Karten und verteilte Rollen zu einem Gruppenerlebnis. Während klassische Spielbücher den Vorteil hatten, auch ohne Rollenspielgruppe zu funktionieren, lebt Nesciamus vom Gruppenerlebnis und nimmt uns lediglich die Vorbereitungszeit und Spielleiterrolle ab. Das gelingt durch den Einsatz von Karten, die problemlos herumgereicht werden können, und durch verteilte Rollen. Wir verkörpern so jeweils einen eigens erstellten Charakter, übernehmen aber auch die Nichtspielercharaktere. Deren Motivationen und Interaktionsmöglichkeiten werden auf einer Karte knapp vorgestellt und sollen dann von Spieler oder Spielerin umgesetzt werden. Das soll im Optimalfall durch aktives Rollenspiel und eine saubere Trennung von Charakter- und Spielerwissen begleitet werden, das Abenteuer lebt aber entgegen des Titels mehr von den Entscheidungen als durch Geheimnisse. Geht es schleppend voran, können die Spieler also durchaus Tipps geben oder Entscheidungsoptionen offen vorlegen. Zwar begünstigt das Spiel eine Diskussion unabhängig von abstrakten Entscheidungen – der gerade aktive NSC-Spieler interpretiert die Entscheidung und wählt insgeheim eine passende Option aus und allgemeine Entscheidungsoptionen werden erst nach dem Diskussionsprozess offen gelegt –, Nicht-Rollenspieler können sich das Leben aber auch etwas einfacher machen.

Gewissermaßen entsteht so ein Choose Your Own Adventure Game – also Spielbuch –, das stärkere Rollenspieloptionen ermöglicht als die genannten Brettspiele, aber auch ohne diesen Bonus funktioniert. Schaut man rein auf die Entscheidungsstruktur, schneidet Nesciamus für mich sogar besser ab als die großen Platzhirsche wie das genannte T.I.M.E. Stories. Die Handlung ist plausibel und bewegend, die Entscheidungen haben ernsthafte Konsequenzen. Durch Schlagwörter merkt sich das Spiel vorherige Entscheidungen und generiert so unterschiedliche Enden. Während die ersten Entscheidungen nicht immer spürbare Konsequenzen haben, nimmt deren Bedeutung im Spielverlauf zu. Anstatt die Handlung durch Scheinentscheidungen in die Länge zu ziehen, haben sich die Autoren für wirklich unterschiedliche Enden entschieden. So sehen wir beim einmaligen Durchspielen zwar nicht den ganzen Inhalt, sind so aber zu einer zweiten, dafür etwas kürzeren Runde motiviert.

Auch das zugrundeliegende Regelsystem ist nicht unnötig aufgebläht. Zwei beigelegte Spezialwürfel (mit den Seiten 0-1-2-2-3-3) werden geworfen, zu einem von fünf Charakterwerten addiert und mit einer Schwierigkeit verglichen. Um Varianz zu schaffen und die Gruppe komplett einzubinden, wird zwischen einfachen, komplexen und Gruppenproben unterschieden, wobei die knappe Definition sogar auf dem Charakterbogen Platz gefunden hat. Dadurch unterstützen die Regeln das grundlegende Prinzip auf gelungene Weise und lassen sich problemlos in ein offenes Rollenspiel übertragen.

Grundsätzlich halte ich das Nesciamus-Abenteuer für eines der besten Brettrollenspielhybriden. Mir hätte persönlich sogar etwas weniger Rollenspielnähe zugesagt. Das Ausspielen der Nichtspielercharaktere funktioniert zwar erstaunlich gut, ist aber ebenso wie das freie Erstellen der Charaktere eine Einstiegshürde. Ein Satz vorgefertigter Charaktere und eine etwas bessere Präsentation der Hintergrundwelt hätten das Spiel einfacher an Brettspieltische bringen können. So braucht es zumindest einen Rollenspielmissionar, der bei den Einstiegshürden hilft. Davon abgesehen gibt es aber wenig zu beanstanden. Druck und Heftbindung merkt man den Hobbyhintergrund an, ansonsten hat die finanzielle Förderung des Kirchenkreises aber ein äußerst gutes Produkt zu fairem Preis erzeugt. Moment: Kirchliche Förderung?!

Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Bei so manchem eingesessenen Rollenspieler dürfte schon ein Blick auf den Untertitel für Unbehagen sorgen. Schließlich wird das Spiel als „Rollenspiel zum Thema Reformation“ angepriesen. Die Rückseite bestätigt etwaige Befürchtungen: Gefördert wurde das Projekt vom Jugendreferat des Kirchenkreises Aachen. Das darf durchaus für Skepsis sorgen. Haben wir es hier vielleicht mit einem missionarischen Spiel mit pädagogisch wertvoller Botschaft zu tun?

Wer unangenehm an biedere Versuche erinnert wird, jungen Menschen das Christentum zu verkaufen, darf erleichtert sein. Verantwortlich sind mit der Dragon Legion und Smirking Dragon zwei überzeugte und ernsthafte Rollenspielnetzwerke, die darüber hinaus einen äußerst guten Job machen. Sie werden dem im Lutherjahr gesetzten Thema gerecht, ohne sich einer kirchlichen Agenda zu verpflichten. Das Team hat die Mittel nutzen können, um das Spielbuch professionell umzusetzen, ohne sich dabei zu verbiegen.

Dass das Spiel beiden Seiten – Rollenspielern und kirchlicher Jugendarbeit – gerecht wird, verdankt es einem indirekten Zugang zum Thema. Den Hintergrund bildet bewusst nicht die echte Reformationszeit. Nicht das Leben historischer Reformatoren, kein rebellischer Müntzer oder umstrittener und leider oft heroisierter Luther stehen im Mittelpunkt, sondern eine Problemkonstellation der Reformation. Die wird transferiert auf eine Fantasywelt, die alles andere als traditionell christlich ist. Dämonen existieren wirklich und es haben sich rein fiktive Organe gebildet, um diesem Problem institutionell Herr zu werden. Die können zwar über Umwege mit der katholischen Kirche identifiziert werden, aber wer nicht vorher wüsste, dass diese Parallele gewollt ist, könnte sie problemlos übersehen. Vielmehr haben wir hier ein generisches, etwas historischer anmutendes Fantasysetting, das durch das gestellte Thema an Tiefe gewinnt. Im besten Fall erzeugt das Abenteuer ein Gefühl von Ausweglosigkeit, stellt uns vor schwere Entscheidungen und ermöglicht so eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einem komplizierten Dilemma.

Dass das Abenteuer in harten Sackgassen enden kann, ist eine mutige Entscheidung, die das Spielerlebnis noch intensiviert. Die Gefährlichen Geheimnisse sind so ein erwachsenes Spiel, das eine Auseinandersetzung mit der Reformation erlaubt, aber nicht erzwingt. Es funktioniert nicht als brave Rollenspielalternative für Christen, sondern überzeugt unabhängig vom Thema. Hier findet sich kein Gramm an missionarischem Eifer und allerhöchstens etwas Parteilichkeit für die Sache der ‚Reformatoren‘. Weder Bibelzitate noch pädagogische Tipps oder Geschichtsverweise versalzen das Spiel, das dennoch sein Ziel erfüllt. Auch wer mit Kirche und Religion nichts anfangen kann, darf dem Projekt eine Chance geben.

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