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Macht, Moral und ein mörderisches Spiel

Über eine Tat, die Geschichte geschrieben hätte

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Kategorie: Literatur

Die Vergangenheit hat so einige Fehden hervorgebracht, die bis heute einen legendären Nachhall haben. Denkt man an Großbritannien, so könnten einem Prinzessin Diana und Camilla Parker Bowles, Winston Churchill und Margaret Thatcher, Elisabeth I. und Mary, Königin von Schottland in den Sinn kommen. Doch auch jenseits des Großen Teichs gab es schon reichlich Hauen und Stechen, wenn nicht im wörtlichen, doch zumindest im übertragenen Sinne. Ein besonders schönes Beispiel kam mir neulich zu Ohren, welches wirklich jedes Recht hätte, in die Annalen legendärer Feindschaften einzugehen. Oder kennt ihr schon die Geschichte um Victoria Woodhull und Anthony Comstock?

Ein spannungsreiches Setting

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist berühmt für ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umwälzungen. Kolonialismus und Industrialisierung erreichten ihren Höhepunkt und brachten Generationen schwerreicher Entscheider*innen hervor, die dem alteingesessenen Adel den Rang abliefen. Technische Innovationen, neue Informationskanäle und Ausbildungschancen, revolutionäre Entscheidungen in allen Bereichen des Rechts und Fortschritte in allen Bereichen der Wissenschaft mischten die Gesellschaft grundlegend auf. Und doch brachte die völlig neue Dynamik eine Unsicherheit und Überhitzung mit sich, die etwa Korruption, globale Migrationswellen, Gewalt und letztendlich auch die Mündung ins Jahrhundert der Katastrophen mit sich brachte.

Diese Überhitzung übersetzte sich direkt ins zwischenmenschliche Miteinander, sei es nun in Zentraleuropa, dem viktorianischen England oder aber in den USA des „Gilded Age“, genau der Epoche, die ihren Anfang in den 1870er Jahren nach dem Sezessionskrieg nahm und mit dem Eintritt der Amerikaner in den ersten Weltkrieg endete. Geprägt wurde der Name übrigens von Mark Twain, der ganz bewusst nicht von einem „Goldenen“, sondern von einem „Vergoldeten Zeitalter“ sprach, das eben einige Wenige sehr reich, aber gleichzeitig einen Großteil der Bevölkerung bettelarm machte.

Gute Sitten, schlechte Sitten

Welche gesellschaftlichen Spannungen seinerzeit zum Tragen kamen, lässt sich an einer einzelnen Institution ablesen: Der New York Society for the Suppression of Vice, also der New Yorker Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters, gegründet 1873 von Anthony Comstock, dem obersten Polizeiinspektor, der sich den viktorianischen Moralvorstellungen zugeneigt fühlte.

Ihre besondere Aufgabe bestand darin, die Einhaltung der staatlichen Gesetze zu überwachen und mit den Gerichten und Staatsanwält*innen zusammenzuarbeiten, um Straftäter*innen vor Gericht zu bringen. Sie und ihre Mitglieder setzten sich auch für zusätzliche Gesetze gegen vermeintlich unmoralisches Verhalten ein. Hervorgegangen war die NYSSV aus einer von Comstock gegründeten Gruppierung innerhalb der YMCA, also der Young Men's Christian Association. Die neugegründete Society wurde von der Legislative des Staates New York gegründet, die ihren Vertreter*innen Durchsuchungs-, Beschlagnahme- und Verhaftungsbefugnisse einräumte und der Society 50 % aller in den daraus resultierenden Fällen erhobenen Geldstrafen zusprach.

Diese neugewonnene Macht nutzte Comstock, um die sogenannten Comstock-Gesetze zu erwirken, die obszöne Materialien von Literatur bis zu Verhütungsmitteln vom Postversand ausschlossen. Oder kurz zusammengefasst: er gab sich selbst die Befugnis, fremde (und unliebsame) Post zu öffnen, nach unmoralischen Inhalten zu filzen und die Urheber*innen juristisch verfolgen zu lassen. Comstock war derart drastisch und unnachgiebig, dass seine Arbeit und er als Person bald einen ganz eigenen Ruf bekamen. So prägte der spätere Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw den Begriff Comstockery: „Es bestätigt schlicht die Sicht der Alten Welt, wonach Amerika ein provinzieller Platz und eine Kleinstadtzivilisation zweiter Klasse ist.“

Comstock selbst zog Genugtuung und Stolz aus seiner Arbeit. Er brüstete sich, im Laufe seiner Karriere mehr als 15 Tonnen Bücher, ca. 150 Tonnen Bleidruckvorlagen und über 4.000.000 Bilder vernichtet zu haben. Von sich selbst behauptete er außerdem stolz, über 4.000 Verhaftungen und 15 Selbstmorde verursacht zu haben. Besonders bildhaft übrigens das Siegel der NYSSV: Es zeigt auf einer Seite eine Bücherverbrennung und auf der anderen eine Verhaftung.

Die erste Kandidatin für das Weiße Haus

Ein Mensch, auf den es Comstock besonders abgesehen hatte, war Victoria Woodhull. Sie war die erste Präsidentschaftskandidatin der Vereinigten Staaten und kämpfte für Frauenrechte, die Gleichberechtigung von Afroamerikaner*innen und die freie Liebe. Berühmt war sie u. a. für die Zeitschrift Woodhull and Claflin’s Weekly, welche sie mit ihrer Schwester veröffentlichte, um ihre Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen. Darin behandelten die Schwestern Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Legalisierung der Prostitution und die Rolle der Männer in diesem Milieu. Aber auch sozialistische Ideen, Forderungen der amerikanischen Gewerkschaftler*innen und andere politische, wirtschaftliche, soziale, pädagogische und kulturelle Themen wie Kinderarbeit, Schulbildung und sexuelle Aufklärung fanden darin Platz.

Fun Fact: Da Woodhull auch Börsentipps und Finanzanalysen abdruckte, schalteten sogar angesehene Banken und Börsen in der Anfangszeit Werbeannoncen.

Aktion und Reaktion

Natürlich war eine Frau wie Victoria Woodhull einem Anthony Comstock ein Dorn im Auge. Immer wieder zeigte er sie während des Wahlkampfs an, verhinderte Auftritte und verging sich insbesondere an ihrem Postverkehr. Woodhull, die sich von ihren mehr als progressiven Einstellungen in fast jedem Lebensbereich keinen Millimeter bewegen wollte und keinem noch so öffentlichen und schmutzigen Streit aus dem Weg ging, brachte mit der Zeit einige prominente Weggefährt*innen und Unterstützer*innen gegen sich auf. Einem wie Comstock würde sie sicher nicht klein beigeben.

Am eigentlichen Wahltag in 1872 war Woodhull inhaftiert. Comstock hatte sie wegen Versendung eines sexuell anstößigen Artikels verhaften lassen, in dem sie einen Reverend wiederholt der außerehelichen Affären bezichtigte. Diese Ausgabe brachte ihr übrigens eine zweite Anzeige ein, denn darin prangerte sie ebenfalls Kindesprostitution an. Als der Reverend dann sämtliche 100.000 Exemplare der Ausgabe aufgekauft hatte, hatte Woodhull mit ihrer Schwester nachgelegt und 150.000 Zeitschriften nachdrucken lassen, für die sie selbst den Vertrieb übernahmen.

Als Comstock sie später erneut verhaften lassen wollte, gelang es Woodhull unterzutauchen und am 9. Januar 1873 ihre angekündigte Rede im Cooper Institute New York über Meinungs- und Pressefreiheit zu halten, wobei sie ihre Gegner scharf angriff. Als Quäkerin verkleidet, hatte sie den bewachten vollbesetzten Saal betreten, sich als Victoria Woodhull gezeigt und gesprochen, ehe sie von den anwesenden Polizeikräften verhaftet wurde.

Wege trennen sich

Es bliebe noch unendlich viel zu schreiben über Victoria Woodhull und Anthony Comstock, die streitfreudige Revoluzzerin und den nicht weniger streitfreudigen moralischen Hardliner. Wie ging es wohl mit den beiden weiter?

Fragt man die deutsch-belgische Autorin Philea Baker, so wurde Anthony Comstock 1875 ermordet in der Ninth Avenue Lane aufgefunden. Die nach New York emigrierte Medizinstudentin Alessa Arlington, selbst dringend tatverdächtig, nachdem Comstock sie angezeigt hatte, nahm sich unfreiwillig freiwillig des Mordfalls an und übernahm auf eigene Faust die Ermittlungen. In ihrem, aber auch in Woodhulls Sinne, denn Victoria Woodhull war als dringend Tatverdächte natürlich ebenfalls im Visier der Ermittler*innen. In Philea Bakers Krimi Gegen die guten Sitten treten noch eine Reihe anderer historischer Figuren auf, mit denen es sich Comstock und Woodhull seinerzeit verscherzt hatten. Einen detaillierten Abriss der damaligen New Yorker Gesellschaft und prominenter Konflikte natürlich inklusive. Gegen die guten Sitten ist der dritte Teil der viktorianischen Krimireihe um die Alessa Arlington. Die ersten beiden Teile behandelten ebenfalls realhistorische Begebenheiten und Figuren. Alessa selbst jedoch ist eine fiktive Figur.

Wie ging es nun aber in der Realität mit Comstock und Woodhull weiter? Das möchte ich euch natürlich nicht vorenthalten.

Victoria Woodhull und ihre Schwester waren nach der monatelangen Haft 1872 finanziell am Boden. Woodhull widmete sich anschließend schwerpunktmäßig politischen Reden, die sie auf Vortragsreisen hielt. Gerade ihre skandalösen Themen brachten ihr hohe Einnahmen. 1877 ging sie wieder nach Großbritannien und widmete sich thematisch u. a. dem Katholizismus, dem Feminismus und dem menschlichen Körper als Tempel. Als große Unterstützerin der britisch-amerikanischen Beziehungen und als Suffragette ging sie posthum in die Geschichte ein, obwohl ihre weiteren Präsidentschaftskandidaturen 1884 und 1888 scheiterten.

Anthony Comstock blieb sich selbst treu und verdingte sich weiter als Sittenwächter, bis er mit 71 Jahren mitten in einem gewohnt erbitterten und schmutzigen Rechtsstreit zu Hause an einer Pneumonie starb.

“History doesn´t repeat itself, but it does often rhyme.“

Die Comstock-Gesetze wurden später von vielen Staaten übernommen und 1909 auf andere Verkehrswege, wie dem Schienennetz ausgebreitet. Erst 1965 und 1972 entschied der Oberste Gerichtshof sie für nichtig. Durch das aktuelle Vorgehen der amerikanischen Partei der Republikaner werden die Gesetzte jedoch auch heute noch diskutiert und auch die Themen Pressefreiheit und Datenschutz sind schon seit Jahren nicht mehr von der politischen, medialen und gesellschaftlichen Agenda wegzudenken.

Und so möchte ich nun gern mit Mark Twain schließen, den ich ja eingangs bereits erwähnte. Er wusste schon, dass sich Geschichte nicht zwangsweise wiederholt, sondern Geschichtsstränge wie die Zeilen eines Gedichtes aufeinander beziehen. Noch heute beeinflussen politische und wirtschaftliche Entscheidungen unsere Realität.

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