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Leseprobe: Das Schwärmen von tausend Bienen

Der neunte „Outlander“-Band

Zur klassischen Webseite

Kategorie: Literatur

Spannung und Dramatik, Leidenschaft, Liebe und Abenteuer: Seit 8 internationalen Bestsellern steht die Serie »Outlander« für einen hoch spannenden Mix aus Zeitreise-Roman und historischem Roman. Auch im 9. Band von »Outlander« lässt Welt-Bestseller-Autorin Diana Gabaldon uns hautnah am Schicksal von Claire und Jamie Fraser, ihrer Familie und ihren Freunden teilhaben.

Prolog


Wir wissen, dass etwas auf uns zukommt. Es wird etwas geschehen – etwas
Bestimmtes, das ernst ist und schlimm. Wir stellen es uns vor, wir schieben es
von uns. Es wälzt sich langsam, unausweichlich in unsere Gedanken zurück.

Wir bereiten uns vor, so gut wir können. Zumindest denken wir das, obwohl
unser Inneres die Wahrheit kennt – es ist nicht möglich, dem Ansturm auszu-
weichen, uns anzupassen, die Wucht zu verringern. Er wird kommen, und wir
werden ihm hilflos gegenüberstehen.

Wir wissen das.

Und doch glauben wir irgendwie nie, dass es heute so weit ist.

 

 

ERSTER TEIL

Ein Bienenschwarm im
Kadaver eines Löwen

Die MacKenzies sind hier

Fraser’s Ridge, Kolonie North Carolina
17. Juni 1779

Ich hatte einen Stein unter meiner rechten Gesäßbacke, doch ich wollte mich
nicht bewegen. Der winzige Herzschlag unter meinen Fingern war sanf und
beharrlich, die flüchtigen Stöße Leben und die Zwischenräume Ewigkeit, mei-
ne Verbindung mit dem endlosen Nachthimmel und der Flamme, die ihm ent-
gegenstieg.

»Rutsch ein Stück zur Seite, Sassenach«, sagte eine Stimme in meinem Ohr.
»Ich muss mich an der Nase kratzen, und du sitzt auf meiner Hand.« Jamie
zuckte unter mir mit den Fingern, und ich wandte mich ihm zu, rückte ein
wenig und setzte mich wieder zurecht, ohne Mandy loszulassen, die völlig er-
schlaf in meinen Armen schlief.

Er lächelte mich über Jems Wuschelkopf hinweg an und kratzte sich an der
Nase. Es musste weit nach Mitternacht sein, doch das Feuer brannte noch hell,
und das Licht schlug Funken in seinen Bartstoppeln und leuchtete in seinen
Augen so sanf wie im roten Haar seines Enkelsohns und den Schattenfalten
des abgetragenen Plaids, das er um sie beide gelegt hatte.

Auf der anderen Seite des Feuers lachte Brianna leise, so wie Leute mitten in
der Nacht lachen, wenn schlafende Kinder in der Nähe sind.

Sie legte Roger den Kopf an die Schulter, die Augen halb geschlossen. Sie sah
vollkommen erschöpf aus – ihr Haar war ungewaschen und verknotet, und der
Schein des Feuers drückte tiefe Mulden in ihr Gesicht – und doch glücklich.

»Was ist denn da so lustig, a nighean?«, fragte Jamie und verlagerte Jemmy in
eine bequemere Position. Jem versuchte aus Leibeskräfen, wach zu bleiben,
doch allmählich verlor er den Kampf. Er gähnte herzhaf, schüttelte den Kopf
und blinzelte wie eine benommene Eule.

»Lustig da?«, wiederholte er, doch das letzte Wort verhallte, und er saß mit
halb offenem Mund und glasigen Augen da.
Seine Mutter kicherte. Sie klang wie ein Mädchen, und ich spürte Jamies
Lächeln.

»Ich habe nur gerade Papa gefragt, ob er sich an ein Gathering vor vielen
Jahren erinnern kann. Die Clans wurden alle an ein großes Lagerfeuer gerufen,
und ich habe Papa einen brennenden Ast gegeben und ihm gesagt, er soll ans
Feuer gehen und sagen, die MacKenzies wären da.«

»Oh.« Jem blinzelte, einmal, zweimal, blickte auf das Feuer, das vor uns loderte, und zwischen seinen feinen roten Brauen entstand eine kleine Falte. »Wo
sind wir jetzt?«

»Zu Hause«, sagte Roger, und sein Blick traf den meinen, dann wanderte er
zu Jamie weiter. »Für immer.«

Jamie stieß den Atem aus, den auch ich angehalten hatte, seit die MacKenzies
heute Nachmittag plötzlich unter uns auf der Lichtung aufgetaucht waren und
wir ihnen den Hügel hinunter entgegengeflogen waren. Einen Moment lang
war alles in wortlosem Glück explodiert, als wir uns einander in die Arme war-
fen, dann hatte sich die Explosion ausgebreitet. Amy Higgins kam aus ihrem
Blockhaus, durch den Lärm herbeigerufen, gefolgt von Bobby, dann Aidan –
der bei Jemmys Anblick einen Freudenschrei ausgestoßen und ihn gerammt
und zu Boden geworfen hatte –, Orrie und dem kleinen Rob.

Jo Beardsley war in der Nähe im Wald gewesen, hatte den Aufruhr gehört

und war gekommen, um nachzusehen … und es schien nur einen Augenblick
lang zu dauern, dann war die Lichtung voller Menschen. Sechs Haushalte wa-
ren nah genug, um die Nachricht vor Sonnenuntergang zu erhalten; der Rest
würde es zweifellos morgen erfahren.

Die spontane Gastfreundschaf der Schotten war wunderbar gewesen; Frau-
en und Mädchen waren zu ihren Hütten zurückgelaufen und hatten geholt, was
sie zum Abendessen gekocht oder gebacken hatten, die Männer hatten Holz
gesammelt und es – auf Jamies Bitte – oben zum Hügelkamm geschleppt, wo
der Umriss des neuen Hauses stand. Und wir hatten unserer Familie ein zünf-
tiges Willkommen bereitet, im Kreis von Freunden.

Man hatte den Reisenden Hunderte von Fragen gestellt: Woher kamen sie?
Wie war die Reise gewesen? Was hatten sie erlebt? Niemand fragte, ob sie froh
waren, wieder da zu sein; das hielten alle für selbstverständlich.
Weder Jamie noch ich hatten eine Frage gestellt. Dazu blieb genug Zeit – und
jetzt, da wir allein waren, hatte Roger gerade die eine beantwortet, die wirklich
wichtig war.
Der Grund für diese Frage jedoch … ich spürte, wie meine Nackenhaare
kribbelten.

»Ein jeder Tag hat seine Plage«, murmelte ich in Mandys schwarze Locken
hinein und küsste ihr kleines, im Schlummer taubes Ohr. Einmal mehr tasteten
sich meine Finger ins Innere ihrer Kleider vor – schmutzig von der Reise, aber
von sehr guter Qualität – und fanden die haarfeine Narbe zwischen ihren Rip-
pen, den Hauch des Skalpells, das ihr das Leben gerettet hatte, so fern von mir.

Es klopfe friedlich vor sich hin, dieses tapfere kleine Herz unter meinen
Fingerspitzen, und ich rang blinzelnd mit den Tränen – nicht zum ersten Mal
an diesem Tag und gewiss auch nicht zum letzten Mal.

»Ich habe recht gehabt, aye?«, sagte Jamie, und ich begriff, dass er es schon
zum zweiten Mal sagte.

»Recht womit?«

»Dass wir mehr Platz brauchen«, sagte er geduldig und wandte sich dem
unsichtbaren Rechteck des steinernen Fundaments zu, das bis jetzt die einzige
greifare Spur des neuen Hauses war.

Brianna gähnte wie ein Löwe, dann schob sie ihre wirre Mähne zurück und
blinzelte schläfrig in die Dunkelheit.

»Wahrscheinlich schlafen wir diesen Winter im Kartoffelkeller«, sagte sie,
und der Klang ihres Lachens verlor sich im nächsten Gähnen.

»Oh, ihr Kleingläubigen«, sagte Jamie völlig ungerührt. »Das Holz ist schon
gesägt, zerteilt und gehobelt. Bis es schneit, werden wir Wände und Fenster in
Hülle und Fülle haben. Vielleicht noch ohne Glas«, fügte er der Vollständigkeit
halber hinzu. »Aber das kann bis zum Frühjahr warten.«

»Mmm.« Wieder blinzelte Brianna und schüttelte den Kopf, dann reckte sie
sich, um einen Blick in Richtung des Hauses zu werfen. »Hast du schon eine
Kaminplatte?«

»Ja. Ein schönes kleines Stück Serpentin – ein grünes Gestein, weißt du
noch?«

»Ja. Und hast du ein Stück Eisen, um es darunterzulegen?«
Jamies Miene war überrascht.

»Noch nicht, nein. Aber ich werde eins suchen, wenn wir den Herd segnen.«
Ja, dann.« Sie setzte sich gerade hin und kramte im Stoff ihres Umhangs, bis
sie einen großen Leinensack zum Vorschein holte, eindeutig schwer und mit
diversen Gegenständen gefüllt. Sie grub kurz darin herum, dann zog sie einen
Gegenstand heraus, der im Feuerschein schwarz glänzte.

»Nimm den, Pa«, sagte sie und reichte Jamie das Objekt.

Er betrachtete es einen Moment, lächelte und gab es mir.

»Aye, der ist gut«, sagte er. »Du hast ihn für den Kamin mitgebracht?

«Der« war ein etwa zwanzig Zentimeter langer Meißel aus glattem schwar-
zem Karbidstahl, in dessen Griff das Wort »Crafsman« eingeprägt war.

Nun ja … für einen Kamin«, sagte Brianna und lächelte ihn an. Sie legte eine Hand auf Rogers Bein. »Anfangs dachte ich, wir würden vielleicht selbst ein
Haus bauen, wenn wir es könnten. Aber …« Sie wandte den Kopf und blickte
über den dunklen Bergkamm hinweg zum Gewölbe des kalten, klaren Himmels,
wo der Große Bär über uns leuchtete. »Wahrscheinlich schaffen wir es nicht bis
zum Winter. Und da ich davon ausgehe, dass wir euch zur Last fallen werden …«
Sie blickte unter den Wimpern hinweg zu ihrem Vater auf, und Jamie prustete.

»Rede keinen Unsinn, Kleine. Wenn es unser Haus ist, ist es auch das eure,
das weißt du ganz genau.« Er sah sie an und zog eine Augenbraue hoch. »Und
je mehr Hände beim Bau mithelfen können, umso besser. Möchtest du den
Grundriss sehen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wickelte er Jem aus seinem Plaid, legte ihn
neben mir auf den Boden und stand auf. Er zog einen brennenden Ast aus dem
Feuer und wies mit einem einladenden Ruck seines Kopfes auf das unsichtbare
Rechteck des neuen Fundaments.

Brianna war zwar schläfrig, doch sie spielte mit; sie lächelte mich an und
schüttelte gutmütig den Kopf, dann zog sie sich den Umhang um die Schultern und erhob sich.

»Kommst du mit?«, sagte sie zu Roger, doch der lächelte zu ihr auf und
schüttelte den Kopf. »Ich bin so kaputt; ich kann nicht mehr geradeaus schau-
en, mein Herz. Ich warte bis morgen.«

Brianna berührte ihn flüchtig an der Schulter und folgte dem Licht von
Jamies Fackel, brummte etwas, als sie über einen Stein im Gras stolperte, und
ich legte ein Stück meines Umhangs um Jem, der sich nicht geregt hatte.

Roger und ich saßen still da und lauschten ihren Stimmen, die sich in der
Dunkelheit entfernten – und saßen dann noch ein bisschen still da, lauschten
dem Feuer und der Nacht und den Gedanken des anderen.

Damit sie die gefährliche Reise wagten, von den Gefahren dieser Zeit und
dieses Ortes ganz zu schweigen … musste, was auch immer in ihrer eigenen
Zeit geschehen war …

Er blickte mir in die Augen, sah, was ich dachte, und seufzte.

»Aye, es war schlimm. Ziemlich schlimm«, sagte er leise. »Trotzdem … wä-
ren wir vielleicht zurückgegangen, um damit fertigzuwerden. Ich wollte es.
Aber wir hatten Angst, dass dort niemand wäre, den Mandy intensiv genug
spüren könnte.«

»Mandy?« Ich blickte auf den kräfigen, kleinen, im Schlaf erschlafen Kör-
per hinunter. »Wen spüren? Und was meinst du mit ’zurückgegangen’? War-
te –« Ich hob entschuldigend die Hand. »Nein, versuch nicht, es mir jetzt zu
erzählen; du bist erschöpf, und wir haben Zeit genug.« Ich hielt inne, um mich
zu räuspern. »Und es genügt, dass ihr hier seid.«

Jetzt lächelte er, ein echtes Lächeln, in dem jedoch die Erschöpfung vieler
Meilen und Jahre und furchtbarer Dinge lag.

»Aye«, sagte er. »Das tut es.«

Wir schwiegen eine Weile, und Rogers Kopf sank vornüber; ich dachte, dass
er eingeschlafen war, und zog schon die Knie hoch, um mich zu erheben und
alle für das Bett einzusammeln, als er den Kopf wieder hob.

»Eines aber.«

»Ja?«
»Bist du je einem Mann namens William Buccleigh MacKenzie begegnet?
Oder vielleicht Buck MacKenzie?«

»Der Name klingt irgendwie vertraut«, sagte ich langsam. »Wer ist das?«
Roger rieb sich das Gesicht und ließ die Hand dann langsam über seinen
Hals wandern, bis zu der weißen Narbe, die ein Strick dort hinterlassen hatte.

»Nun … erst einmal ist er der Mann, der mich an den Galgen gebracht hat.
Außerdem ist er mein Ur-ur-ur-ur-urgroßvater. Das wussten wir aber beide
nicht, als er mich an den Galgen gebracht hat«, sagte er beinahe entschuldi-
gend.

»Jesus H. … Oh, entschuldige. Bist du immer noch so etwas wie ein Pries-
ter?«

Er lächelte, obwohl ihm die Erschöpfung tiefe Furchen ins Gesicht grub.

»Ich glaube nicht, dass sich das abnutzt«, sagte er. »Aber falls du ’Jesus H.
Roosevelt Christ’ sagen wolltest, würde mir das nichts ausmachen. Der Situati-
on angemessen, könnte man sagen.«

Und mit knappen Worten erzählte er mir die seltsame Geschichte des Sohns
der Hexe und wie Buck MacKenzie im Jahr 1980 in Schottland gelandet war,
um dann mit Roger zurückzureisen, weil sie hofen, Jem zu finden.

»Das ist längst noch nicht alles«, versicherte er mir. »Aber das Ende ist – vor-
erst –, dass wir ihn in Schottland zurückgelassen haben. 1739. Bei … ähm …
seiner Mutter.«

»Bei Geillis?« Meine Stimme erhob sich unwillkürlich, und Mandy zuckte
und stieß ein paar kleine, mürrische Laute aus. Ich tätschelte sie hastig und
brachte sie in eine bequemere Lage. »Bist du ihr begegnet?«

»Ja. Ähm … interessante Frau.« Neben ihm stand ein Krug auf dem Boden,
der noch halb voll Bier war; ich konnte die Hefe und den bitteren Hopfen rie-
chen. Er griff danach und schien zu überlegen, ob er das Bier trinken oder sich
über den Kopf schütten sollte, doch schließlich trank er einen Schluck und
stellte den Krug wieder hin.

»Ich … wir … wollten, dass er mit uns kommt. Natürlich war es riskant, aber
wir hatten genug Edelsteine aufgetrieben, und ich dachte, wir könnten es alle
gemeinsam schaffen. Und … seine Frau ist hier.« Er winkte vage in Richtung
des fernen Waldes. »In Amerika, meine ich.«

»Daran … erinnere ich mich dumpf, von deinem Stammbaum.« Obwohl
mich die Erfahrung die Grenzen des Glaubens an Dinge gelehrt hatte, die auf
Papier festgehalten waren.
Roger nickte, trank noch einen Schluck Bier und räusperte sich hefig. Seine
Stimme war heiser und überschlug sich vor Müdigkeit.

»Ich nehme an, du hast ihm verziehen, dass er …« Ich wies flüchtig auf mei-
nen eigenen Hals. Ich konnte die Linie des Stricks sehen und den Schatten der
kleinen Narbe, die ich auf seiner Kehle hinterlassen hatte, als ich mit einem
Taschenmesser und dem Bernsteinmundstück einer Pfeife einen Lufröhren-
schnitt durchgeführt hatte.

»Ich habe ihn geliebt«, sagte er schlicht. Ein schwaches Lächeln schimmerte
aus den schwarzen Bartstoppeln und dem Schleier der Müdigkeit hervor. »Wie
of ist es einem Menschen vergönnt, jemanden zu lieben, der einem das Blut
und das Leben geschenkt hat, ohne auch nur zu ahnen, wer man sein würde
oder dass man je existieren würde?«

»Nun ja, wer Kinder bekommt, geht einige Risiken ein«, sagte ich und legte
Jem sanf die Hand auf den Kopf. Er war warm, das Haar ungewaschen, aber
weich unter meinen Fingern. Er und Mandy rochen wie Hundewelpen, ein sü-
ßer, kräfiger Geruch nach Säugetier und Unschuld.

»Ja«, sagte Roger leise. »Das stimmt.«

Raschelndes Gras und Stimmen hinter uns verkündeten die Rückkehr
der Baumeister – die in ein Gespräch über Wasserleitungen vertieft waren.

»Aye, vielleicht«, sagte Jamie gerade skeptisch. »Aber ich weiß nicht, ob wir
das Material, das du dafür brauchst, noch vor dem Winter bekommen können.
Ich habe immerhin gerade angefangen, einen neuen Abort zu graben; damit
kommen wir fürs Erste zurecht. Und dann im Frühling …«

Brianna erwiderte etwas, was ich nicht hören konnte, und dann waren sie da,
vom Feuerschein umkränzt, einander so ähnlich in dem Licht, das auf ihren
Gesichtern mit den langen Nasen schimmerte und ihrem roten Haar. Roger
bewegte die Beine, um aufzustehen, und ich erhob mich vorsichtig, Mandy auf
dem Arm, so schlaff wie ihre Stoffpuppe Esmeralda.

»Es ist wunderbar, Mama«, sagte Brianna und drückte mich an sich, und ihr
kräfiger, aufrechter Körper umfing mich mit sanfer Kraf, Mandy zwischen
uns. Sie hielt mich einen Moment lang fest, dann senkte sie den Kopf und küsste mich auf die Stirn.

»Ich liebe dich«, sagte sie, ihre Stimme leise und heiser.

»Ich liebe dich auch, Schatz«, sagte ich mit einem Kloß im Hals und berühr-
te ihr Gesicht, das so müde war und so sehr strahlte.

Dann trat sie zurück und nahm mir Mandy ab, um sie sich mit geübter
Leichtigkeit über die Schulter zu legen.

»Komm mit, Kumpel«, sagte sie zu Jem und stieß ihn sacht mit der Schuh-
spitze an. »Zeit fürs Bett.« Er stieß ein verschlafenes, fragendes Geräusch aus
und hob den Kopf zur Hälfe, dann plumpste er wieder in den Schlaf.

»Lass nur, ich nehme ihn schon.« Roger winkte Jamie beiseite, bückte sich,
rollte Jem in seine Arme und erhob sich ächzend. »Wollt ihr auch gehen?«,
fragte er. »Ich kann zurückkommen und mich um das Feuer kümmern, sobald
ich Jemmy hingelegt habe.«

Jamie schüttelte den Kopf und legte seinen Arm um mich.

»Nein, keine Sorge. Wir bleiben vielleicht noch etwas sitzen und warten, bis
es aus ist.«

Sie trotteten langsam bergab wie Rinder, begleitet vom Scheppern aus
Briannas Rucksack. Die Blockhütte der Higgins , wo sie übernachten würden,
war als schwacher Schimmer in der Dunkelheit zu sehen; Amy musste die
Lampe angezündet und die Abdeckung des Fensters beiseite gezogen haben.
 Jamie hatte den Meißel noch in der Hand; den Blick fest auf den kleiner wer-
denden Rücken seiner Tochter gehefet, hob er das Werkzeug und küsste es, wie
er einst das Hef seines Dolches vor mir geküsst hatte, und ich wusste, dass auch
dies ein heiliges Versprechen war.

Er verstaute den Meißel in seinem Sporran und nahm mich in die Arme. Ich
stand mit dem Rücken zu ihm, sodass wir ihnen beide nachsehen konnten, bis
sie verschwanden. Er legte das Kinn auf meinen Kopf.

»Was denkst du gerade, Sassenach?«, fragte er leise. »Ich habe deine Augen
gesehen; es sind Wolken darin.«
Ich lehnte mich ein wenig zurück und spürte seine Wärme wie ein Bollwerk
in meinem Rücken.

»Die Kinder«, sagte ich zögernd. »Sie … ich meine, es ist wundervoll, dass sie
hier sind. Zu glauben, dass wir sie nie wiedersehen würden, und plötzlich …«
Ich schluckte, überwältigt von der schwindelerregenden Freude, mich – uns –
so unerwartet als Teil dieser bemerkenswerten Sache wiederzufinden, einer
Familie. »Jem und Mandy aufwachsen sehen zu können … Brianna und Roger
zurückzuhaben …«

»Aye«, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Aber?«

Ich brauchte einen Moment, nicht nur, um meine Gedanken zu sammeln,
sondern auch, um sie in Worte zu fassen.

»Roger hat gesagt, in ihrer eigenen Zeit ist etwas Schlimmes passiert. Und du
weißt, dass es wirklich etwas Furchtbares gewesen sein muss.«
Aye«, sagte er, und seine Stimme verhärtete sich ein wenig. »Das hat

»Brianna auch gesagt. Aber du weißt doch, a nighean, dass sie schon einmal in
dieser Zeit gelebt haben. Ich meine, sie wissen … wie es ist, wie es sein wird.«
Er meinte den Krieg, und ich drückte seine Hände, die er um meine Taille
verschränkt hatte.

»Das glaube ich nicht«, sagte ich leise und blickte über die weite Lichtung
hinunter. Sie waren in der Dunkelheit verschwunden. »Das weiß niemand, der
es nicht selbst erlebt hat.« Den Krieg.

»Aye«, sagte er und hielt mich schweigend fest. Seine Hand ruhte auf meiner
gebracht hatte.

»Aye«, wiederholte er nach langer Pause. »Ich weiß, was du sagen willst, Sas-
senach. Ich dachte, mir platzt das Herz, als ich Brianna gesehen und begriffen
habe, dass sie es tatsächlich war, und die Kinder … Aber bei aller Freude …
Natürlich haben sie mir furchtbar gefehlt, aber ich konnte mich mit dem Ge-
danken trösten, dass sie in Sicherheit waren. Jetzt …«

Er hielt inne, und ich spürte seinen Herzschlag in meinem Rücken, langsam
und stetig. Er holte tief Luf, und das Feuer knallte plötzlich, als ein Pechklum-
pen zu Funken explodierte, die in der Nacht verschwanden.

»… sehe ich sie an«, sagte er, »und mein Herz ist plötzlich …«

»Von Grauen erfüllt«, flüsterte ich und hielt mich an ihm fest. »Schierem
Grauen.«

»Aye«, sagte er. »Genau.«

WIR STANDEN EINE Weile da, beobachteten die Dunkelheit unter uns
und ließen das Glücksgefühl zurückkehren. Auf der anderen Seite der Lichtung
leuchtete das Fenster in der Hütte der Higgins immer noch sanft.

»Zehn Menschen in dieser Hütte«, sagte ich. Ich atmete einen tiefen Zug
der kühlen, nach Fichten dufenden Nacht und stellte mir die Ausdünstungen
und die feuchte Wärme von zehn Schläfern vor, die jede waagerechte Fläche
in der Hütte in Anspruch nahmen, dazu der Kessel, der auf dem Herd dampf-
te.

Im nächsten Fenster erblühte das Licht.

»Vier davon die unseren«, sagte Jamie und lachte leise.

»Ich hoffe, die Hütte brennt nicht ab.« Jemand hatte frisches Holz auf das
Feuer gelegt, und über dem Schornstein begannen Funken zu tanzen.

»Sie wird nicht abbrennen.« Er drehte mich zu sich hin. »Ich will dich, a
nighean«, sagte er leise. »Wirst du mit mir schlafen? Es könnte für eine ganze
Weile das letzte Mal sein, dass wir nur für uns sind.«

Ich öffnete den Mund, um »Natürlich!« zu sagen, und gähnte stattdessen
herzhaft.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund und zog sie fort, um zu sagen: »Oje.
So war das wirklich nicht gemeint.«

Er lachte beinahe lautlos. Kopfschüttelnd zog er den zerknitterten Quilt zurecht, auf dem ich gesessen hatte, kniete sich darauf und hob mir die Hand
entgegen.
»Komm, leg dich zu mir, und wir schauen in die Sterne, Sassenach. Wenn du
in fünf Minuten noch wach bist, ziehe ich dich aus und nehme dich nackt im
Mondschein.«
»Und wenn ich in fünf Minuten schlafe?« Ich schlüpfte aus den Schuhen und
nahm seine Hand.
»Dann spare ich mir die Mühe, dir die Kleider auszuziehen.«
Das Feuer brannte nicht mehr so hoch, aber immer noch kräftig; ich konnte
spüren, wie der warme Luftzug mein Gesicht berührte und das Haar an meinen Schläfen hob. Die Sterne waren dicht gesät und leuchteten wie Diamanten,
die bei einem Einbruch im Himmel verschüttet worden waren. Ich teilte Jamie
diese Beobachtung mit, und er reagierte mit einem sehr abfälligen schottischen
Geräusch, legte sich dann aber neben mir zurück und seufzte genießerisch
über den Anblick.
»Aye, es ist schön. Siehst du die Kassiopeia – da?«

Ich richtete den Blick auf den ungefähren Himmelsabschnitt, dem sein Kopfnicken gegolten hatte, doch ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe keine Ahnung von Sternbildern. Ich kann den Großen Wagen sehen, und normalerweise erkenne ich auch den Oriongürtel, aber der Teufel soll
mich holen, wenn ich ihn jetzt gerade sehe. Und irgendwo da sind die Plejaden,
nicht wahr?«
»Sie sind Teil des Stiers – da neben dem Jäger.« Er zeigte mit ausgestrecktem
Arm zum Himmel. »Und das da ist der Kamelopard.«
»Oh, sei doch nicht albern. Es gibt kein Sternbild der Giraffe, davon hätte ich
gehört.«
»Eigentlich sieht man es gerade nicht – aber es existiert. Und ganz ehrlich
gesagt, ist es denn lächerlicher als das, was heute passiert ist?«
»Nein«, sagte ich leise. »Nein, das ist es nicht.« Er legte den Arm um mich,
und ich drehte mich so, dass meine Wange auf seiner Brust lag. Schweigend
beobachteten wir die Sterne und lauschten dem Wind in den Bäumen und dem
langsamen Schlag unserer Herzen.
Es schien sehr viel später zu sein, als Jamie sich regte und seufzte.
»Ich glaube, ich habe noch nie einen solchen Sternenhimmel gesehen, nicht
seit der Nacht, in der wir Faith gemacht haben.«
Ich hob überrascht den Kopf.
»Du weißt, wann sie gezeugt wurde? Nicht einmal ich weiß das.«
Langsam fuhr er mir mit der Hand über den Rücken, und seine Finger hielten inne und beschrieben Kreise in meinem Kreuz. Wäre ich eine Katze gewesen, hätte ich sanft mit dem Schwanz unter seiner Nase gewedelt.
»Aye, nun ja, ich könnte mich auch irren, aber ich habe immer gedacht, es
war die Nacht, in der ich im Kloster in dein Bett gekommen bin. Am Ende des
Korridors war ein großes Fenster, und auf dem Weg zu dir habe ich die Sterne
gesehen. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Zeichen – dass ich den Weg so klar
sehe.«
Einen Moment lang tastete ich in meinen Erinnerungen umher. Diese Zeit
im Kloster Ste. Anne, in der er dem selbst gewählten Tod so nah gekommen
war, war eine Zeit, an die ich nur selten zurückdachte. Es war eine grauenvolle
Zeit gewesen. Tage voller Angst und Verwirrung, die miteinander verschwammen, die Nächte schwarz vor Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und
doch – wenn ich den Blick zurückwandte, fand ich eine Handvoll lebhafter
Bilder, die wie die illustrierten Buchstaben einer antiken lateinischen Textseite
hervorstachen.
Vater Anselms Gesicht, bleich im Kerzenlicht, seine Augen voll Wärme und
Mitgefühl – und dann das zunehmende Leuchten des Staunens, als er meine
Beichte hörte. Die Hände des Abtes, die Jamies Stirn berührten, seine Augen,
Lippen und Handflächen, sacht wie die Berührung eines Kolibris, als er seinen sterbenden Neffen mit dem Heiligen Chrisam der Letzten Ölung salbte. Die
Stille der dunklen Kapelle, wo ich um sein Leben gebetet und eine Antwort auf
mein Gebet bekommen hatte.
Und unter diesen Momenten war auch die Nacht, in der ich aus dem Schlaf
erwacht war und er neben meinem Bett gestanden hatte, ein bleicher Geist,
nackt und frierend, so schwach, dass er kaum laufen konnte, und doch wieder
mit Leben erfüllt und mit jener hartnäckigen Entschlossenheit, die niemals von
ihm wich.
»Dann erinnerst du dich an sie?« Meine Hand lag leicht auf meinem Bauch,
während ich mich zurückbesann. Er hatte sie nie gesehen oder mehr von ihr
gespürt als zufällige Tritte und kleine Stöße aus meinem Inneren.
Er küsste mich flüchtig auf die Stirn, dann sah er mich an.
»Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Ja. Ich wollte nur, dass du mir mehr erzählst.«
»Oh, das habe ich auch vor.« Er stützte sich auf seinen Ellbogen und zog
mich an sich, sodass wir uns sein Plaid teilen konnten.
»Weißt du das auch noch?«, fragte ich und zog an dem Stoffzipfel, den er
über mich gelegt hatte. »Wie du dein Plaid mit mir geteilt hast, in der Nacht, als
wir uns begegnet sind?«
»Damit du nicht erfrierst? Aye.« Er küsste meinen Nacken. »Im Kloster war
ich es, der dem Erfrieren nah war. Ich war erschöpft von meinen Gehversuchen, und du hast mir ja nichts zu essen gegeben, also war ich kurz vor dem
Verhungern, und …«
»Oh, du weißt genau, dass das nicht stimmt! Du …«
»Würde ich dich anlügen, Sassenach?«
»Genau das würdest du«, sagte ich. »Du lügst mich ständig an. Aber das
spielt jetzt keine Rolle. Du warst fast verhungert und erfroren, und plötzlich
hast du beschlossen, statt Bruder Roger um eine Decke oder eine heiße Suppe
zu bitten, lieber nackt durch einen dunklen Steinkorridor zu wanken und zu
mir ins Bett zu kommen.«
»Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Essen, Sassenach.« Seine Hand legte sich fest um meinen Hintern. »Und herauszufinden, ob ich je wieder mit dir
ins Bett gehen könnte, war in diesem Moment wichtiger als alles andere. Ich
habe gedacht, wenn ich es nicht könnte, würde ich einfach wieder in den Schnee
hinauslaufen und nicht zurückkommen.«
»Natürlich ist es dir nicht in den Sinn gekommen, noch ein paar Wochen zu
warten und erst wieder Kräfte zu sammeln.«
»Nun ja, ich war mir einigermaßen sicher, dass ich so weit kommen würde,
wenn ich mich an den Wänden abstützte. Den Rest würde ich ja im Liegen tun.
Warum also warten?« Die Hand an meinem Hintern streichelte mich jetzt geistesabwesend. »Du erinnerst dich also doch daran.«

»Es war, als würde man mit einem Eisklotz schlafen.« So war es gewesen.
Außerdem hatte es mir das Herz zerrissen vor Zärtlichkeit und mich mit unerwarteter Hoffnung erfüllt. »Aber nach einer Weile bist du ja etwas aufgetaut.«
Zunächst nur ein wenig. Ich hatte ihn einfach nur an mich gedrückt und mir
alle Mühe gegeben, Körperwärme zu erzeugen. Ich hatte mir das Hemd ausgezogen, um so viel Hautkontakt wie möglich herzustellen. Ich erinnerte mich
noch an die harte, scharfe Rundung seines Hüftknochens, die Wölbungen seiner Wirbelsäule und die geschwollenen frischen Narben, die sich darüber zogen.
»Du warst kaum mehr als Haut und Knochen.«
Jetzt drehte ich mich um, zog ihn neben mir zu Boden und drückte ihn an
mich, um mit der beruhigenden Wärme seiner Gegenwart gegen die Kälte der
Erinnerung anzugehen. Er war warm. Und lebendig. Sehr lebendig.
»Du hast dein Bein über mich gelegt, um zu verhindern, dass ich aus dem
Bett falle, das weiß ich noch.« Er strich mir langsam über das Bein, und ich
konnte das Lächeln in seiner Stimme hören, obwohl sein Gesicht dunkel war
vor dem Feuer in seinem Rücken, das in seinem Haar Funken schlug.
»Es war ein enges Bett.« So war es gewesen – eine schmale Mönchsliege,
kaum groß genug für eine normale Person. Und er beanspruchte selbst in seinem ausgehungerten Zustand noch eine Menge Platz.
»Ich hätte dich gern auf den Rücken gedreht, Sassenach, aber ich hatte Angst,
ich würde uns beide auf den Boden werfen, und … nun ja, ich war mir nicht
sicher, ob ich mich aufstützen konnte.«
Er hatte vor Kälte und Schwäche gezittert. Doch vermutlich, so begriff ich
jetzt, dazu auch noch vor Angst. Ich nahm die Hand, die auf meiner Hüfte lag,
und hob sie an meinen Mund, um seine Fingerknöchel zu küssen. Seine Finger
waren kalt von der Abendluft und legten sich fest um die Wärme der meinen.
»Du hast es geschafft«, sagte ich leise. Ich drehte mich auf den Rücken und
nahm ihn mit.
»Mit knapper Not«, murmelte er und suchte sich den Weg durch die Lagen
aus Decke, Plaid, Hemd und Chemise. Er stieß einen langen Atemzug aus, und
ich tat es ihm nach. »O Jesus, Sassenach.«
Er bewegte sich, nur ein bisschen.
»Wie es sich angefühlt hat«, flüsterte er. »Damals. Zu denken, ich würde dich
nie wieder haben, und dann …«
Er hatte es geschafft, und zwar tatsächlich mit knapper Not.
»Ich habe gedacht – ich würde es tun, und wenn es das Letzte wäre, was ich
jemals tat …«
»Das wäre es ja auch fast gewesen«, erwiderte ich flüsternd und legte die
Hände um sein Gesäß, fest und rund. »Einen Moment habe ich tatsächlich gedacht, du wärst gestorben, bis du angefangen hast, dich zu bewegen.«

»Dachte auch, ich würde sterben«, sagte er mit dem Hauch eines Lachens.
»O Gott, Claire …« Er hielt einen Moment inne, senkte sich auf mich und
presste die Stirn gegen die meine. So hatte er es auch in jener Nacht gemacht,
eiskalt, mit verzweifelter Leidenschaft, und ich hatte mich gefühlt, als hauchte
ich ihm mein eigenes Leben ein. Sein Mund war sanft und offen und roch ganz
schwach nach dem mit Ei vermischten Ale, das Einzige, was er bei sich behalten
konnte.
»Ich wollte …«, flüsterte er, »ich wollte dich. Musste dich haben. Aber als ich
erst in dir war, wollte ich …«
Er seufzte tief und bewegte sich tiefer hinein.
»Ich habe gedacht, ich würde auf der Stelle daran sterben. Und das wollte ich
auch. Wollte gehen, während ich in dir war.« Seine Stimme hatte sich verändert, immer noch leise, aber irgendwie fern, abwesend – und ich wusste, dass er
sich von der Gegenwart gelöst hatte und in die kalte steinerne Dunkelheit zurückgekehrt war, zurück zu Panik, Angst und überwältigendem Verlangen.
»Ich wollte mich in dich ergießen, und das sollte das Letzte sein, was ich erlebe, doch dann habe ich angefangen, und ich wusste, dass es nicht so sein
sollte – dass ich leben würde, aber ich für immer in dir bleiben würde. Dass ich
dir ein Kind schenkte.«
Während er das sagte, war er zurückgekehrt, zurück ins Hier und Jetzt und
zurück in mich hinein. Ich hielt ihn fest, groß und gegenwärtig und stark in
meinen Armen, und hilflos zitternd gab er sich auf. Ich spürte warme Tränen
aufquellen und kalt in mein Haar gleiten.
Nach einer Weile regte er sich und rollte sich von mir hinunter auf die Seite.
Eine große Hand lag immer noch leicht auf meinem Bauch.
»Ich habe es geschafft, aye?«, sagte er und lächelte ein wenig. Der Schein des
Feuers fiel sanft auf sein Gesicht.
»Das hast du«, flüsterte ich. Ich zog das Plaid wieder über uns und lag erfüllt
mit ihm im Licht der sterbenden Flamme und der ewigen Sterne.

Ein Tag wie blauer Wein

Vor lauter Erschöpfung schlief Roger wie ein Stein, obwohl das Bett der MacKenzies aus zwei zerschlissenen Quilts bestand, die Amy Higgins
hastig aus einem Sack mit Nähzeug gezogen und über die schmutzige Wäsche
der letzten beiden Wochen gebreitet hatte, während die Kleider der MacKenzies als Bettdecken dienten. Immerhin war es ein warmes Bett mit der Hitze de
abgedeckten Feuers auf der einen Seite und der Körperwärme zweier Kinder
und einer anhänglichen Ehefrau auf der anderen, und er war eingeschlafen wie
ein Mann, der in einen Brunnen fällt und nur noch Zeit für ein ganz kurzes –
aber herzliches – Dankgebet hat.
Wir haben es geschafft. Danke.
Er erwachte im Dunklen, roch verbranntes Holz und einen frisch benutzten
Nachttopf und spürte plötzliche Kühle hinter sich. Er hatte sich mit dem Rü-
cken zum Feuer hingelegt, sich im Lauf der Nacht aber umgedreht, und jetzt
sah er das dumpfe Leuchten der letzten Glut einen knappen Meter von seinem
Gesicht entfernt, schwache rote Adern in einem Häufchen aus grauer Asche
und verkohltem Holz. Er tastete hinter sich; Brianna war fort. Am anderen
Ende der Decke war ein vager Haufen; das mussten Jem und Mandy sein. Der
Rest der Hütte schlief noch fest, erfüllt von schwerem Atem.
»Brianna?«, flüsterte er und stützte sich auf einen Ellbogen auf. Sie war in der
Nähe – ein deutlicher Schatten, den Hintern neben dem Kamin an die Wand
gelehnt, um sich einen Strumpf anzuziehen. Sie stellte den Fuß ab, hockte sich
neben ihn, und ihre Finger streiften sein Gesicht.
»Ich gehe mit Pa auf die Jagd«, flüsterte sie dicht über ihn gebeugt. »Mama
passt auf die Kinder auf, falls du heute zu tun hast.«
»Aye. Woher hast du …« Er ließ seine Hand über ihre Hüfte gleiten; sie trug
ein dickes Jagdhemd und eine lose Kniehose mit vielen Flicken; er konnte die
groben Nähte unter seiner Handfläche spüren.
»Von Pa«, sagte sie und küsste ihn, und das Licht des Feuers schimmerte
flüchtig in ihrem Haar auf. »Schlaf weiter. Es dämmert erst in einer Stunde.«
Er sah zu, wie sie leichtfüßig zwischen den Schlafenden auf dem Boden hindurchging, die Schuhe in der Hand. Ein kalter Luftzug schlängelte sich durch
den Raum, als sich die Tür lautlos öffnete und hinter ihr schloss. Bobby Higgins
sagte etwas mit verschlafener Stimme, und einer der kleinen Jungen setzte sich
auf, sagte mit klarer, aufgeschreckter Stimme »Was?«, ließ sich wieder auf seine
Decke plumpsen und schlummerte weiter.
Die frische Luft verschwand im heimeligen Mief, und die Hütte schlief wieder. Roger nicht. Er lag auf dem Rücken und empfand Frieden, Erleichterung,
Aufregung und Beklommenheit – in etwa zu gleichen Teilen.
Sie hatten es tatsächlich geschafft.
Und zwar alle. Immer wieder zählte er seine Familie zwanghaft durch. Alle
vier. Hier und in Sicherheit.
Erinnerungen und Empfindungen taumelten in Bruchstücken durch seinen
Kopf; er ließ ihnen freien Lauf und versuchte nicht, ihnen Einhalt zu gebieten
oder mehr als hier und dort ein Bild aufzuschnappen: das Gewicht eines kleinen Goldbarrens in seiner verschwitzten Hand, der Krampf in seinem Magen,
als er ihn fallen gelassen und zugesehen hatte, wie er über das schwankende Deck davongerutscht war. Der warme Dampf von Porridge mit Whisky, Stärkung gegen einen frostigen schottischen Morgen. Brianna, die vorsichtig auf
einem Bein eine Treppe hinunterhüpfte und den verbundenen Fuß hochhielt,
was ihn unwiderstehlich an Kinderlieder über Störche erinnerte. Der beißende
Geruch von Bucks ungewaschenen Haaren, als sie sich an einem Kai zum endgültigen Abschied umarmten. Kalte, endlose, ewig gleiche Tage und Nächte im
wankenden Frachtraum der Constance auf der Reise nach Charles Town, zu
viert hinter stinkenden Fässern mit Pökelfisch und billigem Rum aneinandergeschmiegt, taub vom Lärm des Wassers, das gegen die Bordwand krachte, zu
seekrank, um hungrig zu sein, zu müde, um noch Angst zu haben, stattdessen
hypnotisiert vom zentimeterweise steigenden Wasser im Frachtraum, das sie
bei jedem Übelkeit erregenden Schlingern nass spritzte, während sie versuchten, sich ihren kläglichen Vorrat an Körperwärme zu teilen, um die Kinder am
Leben zu halten …
Er stieß den Atem aus, den er gar nicht bewusst angehalten hatte, legte die
Hände rechts und links auf den festen Holzboden, schloss die Augen und ließ
es alles davonsickern.
Er würde nicht zurückblicken. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen, und
sie hatten es bis hierher geschafft – die Zuflucht erreicht.
Und was nun?
Er hatte einmal in dieser Hütte gelebt, lange sogar. Jetzt würde er vermutlich
eine neue bauen; Jamie hatte ihm gestern Abend erzählt, dass das Land, das
Gouverneur Tryon ihm übertragen hatte, nach wie vor ihm gehörte und auf
seinen Namen eingetragen war.
Ein kleiner Schauer der Erregung stieg in seinem Herzen auf. Der Tag lag vor
ihm; der Beginn eines neuen Lebens. Was sollte er als Erstes tun?
»Papi!«, flüsterte eine spuckefeuchte Stimme laut in sein Ohr. »Papi, ich muss
mal!«
Lächelnd setzte er sich auf und schob Umhänge und Hemden aus dem Weg.
Mandy hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen, ein kleiner schwarzer
Vogel, real inmitten der Schatten.
»Aye, Schätzchen«, flüsterte er seinerseits und nahm ihre warme, klebrige
Hand. »Ich bringe dich zum Abort. Pass auf, dass du niemanden trittst.«
MANDY WAR SCHON auf vielen Aborten gewesen, und auch dieser
schreckte sie nicht ab. Doch als Roger die Tür öffnete, ließ sich plötzlich eine
große Spinne vom Türsturz fallen und schwang wenige Zentimeter vor seinem
Gesicht wie ein Senkblei hin und her. Er und Mandy schrien beide auf – nun,
sie schrie auf; sein eigener Versuch war nicht mehr als ein Krächzen, jedoch
immerhin ein männliches Krächzen.
Es war noch nicht richtig hell; die Spinne war ein schwarzer Fleck mit angedeuteten Beinen, doch das machte sie nur alarmierender. Ihrerseits durch die
Schreie alarmiert, hastete die Spinne wieder an ihrem Faden hinauf in die unsichtbare Ritze, die wohl ihre Behausung war.
»Geh ich nicht rein!«, sagte Mandy und hielt ihn an den Beinen fest.
Das konnte Roger zwar nachvollziehen, doch mit ihr abseits des Weges in
die Büsche zu gehen, brachte nicht nur die Bedrohung durch weitere (und
möglicherweise größere) Spinnen oder Schlangen und Fledermäuse mit sich,
sondern auch durch Wesen, die im Zwielicht jagten. Berglöwen zum Beispiel … Aidan McCallum hatte sie vorhin mit einer Geschichte unterhalten,
wie er auf dem Weg zum Abort einem Berglöwen begegnet war … zu diesem
Abort.
»Ist ja gut, Schätzchen.« Er bückte sich und hob sie auf. »Sie ist fort. Sie hat
Angst vor uns, sie kommt nicht zurück.«
»Fürchte mich!«
»Ich weiß, Süße. Keine Sorge; ich glaube nicht, dass sie zurückkommt, aber
wenn sie es tut, töte ich sie.«
»Mit Gewehr?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja«, sagte er entschlossen. Er klammerte sie an seine Brust und duckte sich
unter dem Türsturz hindurch. Zu spät fiel ihm Claires Geschichte ein, von der
riesigen Klapperschlange, die auf dem Sitz ihres Aborts gekauert hatte …
Diesmal jedoch gab es keine Zwischenfälle, abgesehen davon, dass ihm Mandy um ein Haar in das Loch gefallen wäre, als sie ihn losließ, um zu versuchen,
sich den Po mit einem getrockneten Maiskolben abzuwischen.
Trotz der Kühle des Morgens leicht verschwitzt, kehrte er zur Hütte zurück,
um dort festzustellen, dass sich die Higginses – und Jem – in seiner Abwesenheit en masse erhoben hatten.
Amy Higgins blinzelte zwar, als sie hörte, dass Brianna auf die Jagd gegangen
war, doch als Roger hinzufügte, dass sie mit ihrem Vater gegangen war, ging die
überraschte Miene in ein einwilligendes Nicken über, und Roger musste innerlich lächeln. Er war froh zu sehen, dass Ehrwürdens Persönlichkeit Fraser’s
Ridge nach wie vor beherrschte, obwohl er so lange fort gewesen war; Claire
hatte ihm gestern Abend erzählt, dass sie selbst erst vor einem Monat aus dem
Exil zurückgekehrt waren.
»Haben sich hier viele neue Siedler niedergelassen, seit wir zuletzt da waren?«, fragte er Bobby, als er sich neben seinem Gastgeber auf die Bank setzte,
die Porridge-Schüssel in der Hand.
»Reichlich«, versicherte ihm Bobby. »Zwanzig Familien mindestens. Etwas
Milch und Honig, Prediger?« Er schob den Honigtopf kameradschaftlich in
Rogers Richtung – als Engländer waren ihm solche Frivolitäten zum Frühstück
gestattet, nicht nur die gestrenge schottische Prise Salz. »Oh, bedaure – ich hätte fragen sollen, bist du noch Prediger?«

Es war nicht so, dass Roger diese Frage nicht erwartet hätte, doch er hatte sie
nicht ganz so schnell erwartet.
»Das bin ich, aye«, sagte er und griff nach dem Milchkrug. Tatsächlich ließen
sowohl die Frage als auch die Antwort sein Herz schneller schlagen.
Er war Priester. Er war sich nur nicht sicher, wie offiziell er es war. Natürlich
hatte er ein Jahr oder länger die Menschen von Fraser’s Ridge getauft, verheiratet, beerdigt, ihnen gepredigt und auch die weniger bedeutenden Aufgaben eines Priesters versehen, und sie hatten ihn alle als solchen betrachtet; taten das
zweifellos nach wie vor. Andererseits war er nicht offiziell zum Presbyterianer-Priester ordiniert. Nicht ganz.
»Vielleicht statte ich den Neuankömmlingen einen Besuch ab«, sagte er beiläufig. »Wisst ihr, ob einige von ihnen katholisch sind oder was sonst?« Das war
eine rhetorische Frage; jeder in Fraser’s Ridge kannte die Religion aller anderen – und hatte keine Scheu, diese zu kommentieren, wenn auch vielleicht nicht
in Hörweite.
Amy stellte ihm einen Zinnbecher mit Zichorienkaffee neben die Schüssel
und setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung vor ihren eigenen gesalzenen Porridge.
»Zehn katholische Familien«, sagte sie. »Vier sind Presbyterianer und eine
Blaues Licht – Methodisten, aye? Auf die solltest du achtgeben, Prediger. Orrie!« Sie sprang gerade noch rechtzeitig auf, um den kleinen Orrie abzufangen,
der sich heimlich, wenn auch etwas wankend, den vollen Nachttopf über den
Kopf gehoben hatte, mit der klaren Absicht, ihn über Jem auszuschütten, der
im Schneidersitz vor dem Feuer saß und verschlafen den Schuh in seiner Hand
anblinzelte.
Durch den Ausruf seiner Mutter aufgeschreckt, ließ Orrie den Nachttopf
fallen – sodass er Jem zwar mehr oder weniger verfehlte, seinen stinkenden
Inhalt aber in das frisch geschürte Feuer ergoss – und rannte zur Tür. Seine
Mutter verfolgte ihn, hielt aber kurz inne, um sich einen Besen zu schnappen.
Aufgebrachte gälische Rufe und schrilles Schreckensgeschrei verhallten in der
Ferne.
Jem, dem der frühe Morgen ein Gräuel war, richtete den Blick auf die
blubbernde Masse im Kamin, verzog die Nase und stand auf. Er schwankte
einen Moment, dann schlurfte er zum Tisch und setzte sich gähnend neben
Roger.
Es herrschte Stille. Ein verkohltes Holzscheit zerbrach plötzlich im Kamin,
und Funken stoben aus der Masse wie ein abschließender Kommentar zum
Stand der Dinge.
Roger räusperte sich.
»Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe wie
die Funken, die zum Himmel fliegen«, merkte er an.

Bobby, der den Blick meditativ auf den Kamin gerichtet hatte, wandte Roger
langsam den Kopf zu. Seine Augen waren vom Qualm gerötet, und die alte
»M«-Brandmarke auf seiner Wange erschien weiß im gedämpften Licht der
Hütte.
»Gut gesagt, Prediger«, sagte er. »Willkommen daheim.«
ES WAR DAS, was ihre Mutter einen »Tag so blau wie Wein« nannte. Ein
Tag, an dem Luft und Himmel eins waren und jeder Atemzug berauschte. Kastanien- und Eichenblätter knisterten bei jedem Schritt, scharf duftend wie die
Kiefernnadeln weiter oben. Sie stiegen den Berg empor, die Gewehre in der
Hand, und Brianna Fraser MacKenzie war eins mit dem Tag.
Ihr Vater hielt den Zweig einer Hemlocktanne für sie beiseite, und sie duckte
sich daran vorbei und trat zu ihm.
»Feur-milis«, sagte er und zeigte auf die Wiese, die sich jetzt vor ihnen ausbreitete. »Kannst du noch ein wenig Gàidhlig, Kleine?«
»Du hast etwas über das Gras gesagt«, sagte sie und durchwühlte hastig die
Schränkchen in ihrem Kopf. »Aber was ’milis’ bedeutet, weiß ich nicht.«
»Süßgras. So nennen wir diese kleine Wiese. Eine gute Weide, aber die meisten unserer Tiere können nicht so weit klettern, und man lässt sie besser nicht
tagelang unbeaufsichtigt hier, wegen der Berglöwen und Bären.«
Die ganze Wiese kräuselte sich, und die Morgensonne fing sich in den silbergrünen Spitzen unzähliger bewegter Grashalme. Hier und dort flatterten gelbe
und weiße Schmetterlinge umher, und auf der anderen Seite der Grasfläche
krachte es plötzlich, als ein großer Wiederkäuer im Gebüsch verschwand und
wankende Äste hinterließ.
»Die Wiese scheint allgemein begehrt zu sein«, sagte sie und wies kopfnickend auf die Stelle, an der das Tier verschwunden war. Sie zog eine Augenbraue hoch und hätte gern gefragt, ob sie ihm nicht nachsetzen sollten, doch sie
ging davon aus, dass ihr Vater einen guten Grund hatte, es nicht zu tun, da er
keine Anstalten dazu machte.
»Aye, das stimmt«, sagte er und wandte sich nach rechts, um sich an den
Bäumen entlangzubewegen, die die Wiese säumten. »Aber Rotwild frisst
andere Dinge als Rinder oder Schafe, zumindest, wenn es reichlich Nahrung gibt. Das war ein alter Bock«, fügte er beiläufig hinzu. »Die brauchen
wir im Sommer nicht zu erlegen; es gibt besseres Fleisch – und davon reichlich.«
Sie zog beide Augenbrauen hoch, folgte ihm aber wortlos. Er wandte den
Kopf und lächelte sie an.
»Wo es eins gibt, gibt es um diese Jahreszeit vermutlich auch mehr. Die Ricken und die neuen Kitze fangen an, sich zu kleinen Herden zu sammeln. Es
dauert zwar noch bis zur Brunst, aber die Böcke denken trotzdem immer daran. Er weiß genau, wo sie sind.« Er wies kopfnickend in die Richtung des verschwundenen Rehbocks.
Sie verkniff sich ein Lächeln, weil sie an die ungeschminkte Meinung ihrer
Mutter über Männer und die Wirkung des Testosterons denken musste. Er sah
es dennoch und warf ihr einen halb reumütigen, halb belustigten Blick zu. Er
wusste, was sie dachte, und diese Tatsache versetzte ihrem Herzen einen kleinen, liebevollen Stich.
»Aye, nun ja, deine Mutter hat recht, was Männer betrifft«, sagte er achselzuckend. »Vergiss das nicht, a nighean«, fügte er hinzu, ernster jetzt. Dann drehte
er sich um und hob sein Gesicht in den Wind. »Sie sind in der Nähe der Wiese,
aber der Wind kommt aus unserer Richtung; sie werden uns nicht in ihre Nähe
lassen, es sei denn, wir klettern ein Stück und nähern uns von der anderen Seite
des Hangs.« Doch er wies mit dem Kopf nach Westen, über die Wiese hinweg.
»Aber ich dachte, wir schauen zuerst bei Ian vorbei, wenn es dir nichts ausmacht?«
»Ausmacht? Nein!« Bei der Erwähnung ihres Vetters stieg Freude in ihr auf.
»Gestern Abend am Feuer hat jemand gesagt, dass er jetzt verheiratet ist – wen
hat er denn geheiratet?« Sie war mehr als neugierig auf Ians Frau; vor etwa zehn
Jahren hatte er sie um ihre Hand gebeten. Diese Frage war zwar aus der Not
geboren gewesen – und außerdem vollkommen lächerlich –, doch ihr war bewusst, dass ihm der Gedanke, mit ihr ins Bett zu gehen, nicht unwillkommen
gewesen war. Später, als sie beide erwachsen waren – sie verheiratet und er von
seiner indianischen Frau geschieden –, waren sie sich beide stillschweigend einer körperlichen Anziehung zwischen ihnen bewusst gewesen … und hatten
diese genauso stillschweigend abgetan.
Dennoch gab es zwischen ihnen ein Echo der Zuneigung, und sie hoffte, dass
sie Ians unbekannte Frau mögen würde.
Ihr Vater lachte.
»Du wirst sie mögen, Kleine. Rachel Hunter ist ihr Name; sie ist Quäkerin.«
Sie sah eine glanzlose kleine Frau mit gesenktem Blick vor sich, doch ihr
Vater sah den Zweifel in ihrem Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Sie ist nicht so, wie du denkst. Sie spricht freiheraus. Und Ian liebt sie wie
von Sinnen – und sie ihn.«
»Oh. Das ist gut.« Sie meinte es ernst, aber ihr Vater zog die Augenbraue
hoch und warf ihr einen amüsierten Blick zu. Doch er sagte nichts mehr und
wandte sich ab, um durch die Wogen aus duftendem Gras voranzugehen.
IANS HÜTTE WAR zauberhaft. Nicht, dass sie sich großartig von den anderen Hütten in den Bergen unterschied, die Brianna in ihrem Leben gesehen
hatte, doch sie stand mitten in einem Espenhain, und im Flirren der Blätter brach sich das Sonnenlicht zu einem nervösen Wechselspiel aus Licht und
Schatten, das der Hütte etwas Magisches verlieh – als könnte sie ganz in den
Bäumen verschwinden, wenn man den Blick abwendete.
Vier Ziegen und zwei Zicklein streckten die Köpfe über den Zaun ihres Pferches und ließen freundlichen Begrüßungslärm ertönen, doch es kam niemand
heraus, um zu sehen, wer die Besucher waren.
»Sie sind nicht da«, stellte Jamie fest und blickte mit zusammengekniffenen
Augen zum Haus. »Ist das ein Zettel an der Tür?«
So war es; ein Stück Papier, das mit einem langen Dorn an die Tür geheftet
war und auf dem eine unverständliche Zeile stand, die Brianna schließlich als
Gälisch erkannte.
»Ist Ians Frau Schottin?«, fragte sie und betrachtete die Worte mit gerunzelter Stirn. Die einzigen, die sie erkennen konnte, waren – so glaubte sie – »MacCree« und »Ziege«.
»Nein, er ist von Jenny«, sagte ihr Vater. Er zog seine Brille hervor und überflog den Zettel. »Sie schreibt, sie und Rachel sind quilten gegangen, und ob Ian
die Ziegen melken und die Hälfte der Milch für Käse beiseitestellen kann, falls
er vor ihnen zu Hause ist.«
Als hätte man ihre Namen gerufen, erscholl ein Chor lauter Mäh-Rufe aus
dem Ziegengehege.
»Offenbar ist Ian noch nicht zu Hause«, stellte Brianna fest. »Meinst du, sie
müssten jetzt gemolken werden? Ich weiß vielleicht noch, wie es geht.«
Ihr Vater lächelte bei diesem Gedanken, schüttelte aber den Kopf. »Nein,
Jenny hat sie bestimmt vor ein paar Stunden gemolken – das reicht ihnen bis
zum Abend.«
Bis zu diesem Augenblick war sie einfach davon ausgegangen, dass »Jenny«
der Name einer Magd war – doch als sie Jamies Ton hörte, blinzelte sie.
»Jenny. Deine Schwester Jenny?«, sagte sie ungläubig. »Sie ist hier?«
Er sah ein wenig verblüfft aus.
»Aye, das ist sie. Entschuldige, Kleine, mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass du das nicht weißt. Sie … warte.« Er hob eine Hand und sah sie
aufmerksam an. »Die Briefe. Wir haben … nun ja, den größten Teil hat Claire
geschrieben … Aber …«
»Wir haben sie bekommen.« Ihr stockte der Atem, so wie damals, als Roger
die Holzkiste mitgebracht hatte, in deren Deckel Jemmys vollständiger Name
eingebrannt war, und sie sie geöffnet und die Briefe gefunden hatten. Und die
überwältigende Mischung aus Erleichterung, Glück und Trauer, als sie den ersten Brief geöffnet und die Worte gelesen hatte: »Wir leben noch …«
Dasselbe Gefühl durchströmte sie jetzt, und unwillkürlich kamen ihr die
Tränen, sodass alles ringsum flimmernd verschwamm, als wären die Hütte, ihr
Vater und auch sie selbst im Begriff zu verschwinden, aufgelöst im schimmern den Licht der Espen. Sie stieß ein ersticktes Geräusch aus, und der Arm ihres
Vaters legte sich um sie und hielt sie fest.
»Wir haben nie gedacht, dass wir dich wiedersehen würden«, flüsterte er ihr
in das Haar, und auch seine Stimme klang erstickt. »Niemals, a leannan. Ich
hatte Angst … solche Angst, dass ihr euch nicht in Sicherheit bringen konntet,
dass ihr … gestorben wart, alle … euch dort verloren hattet. Und wir es nie
erfahren würden.«
»Wir konnten es euch ja nicht sagen.« Sie hob den Kopf von seiner Schulter
und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Aber ihr konntet es uns
sagen. Diese Briefe … zu wissen, dass ihr lebt. Ich meine …« Sie hielt plötzlich
inne und blinzelte die letzten Tränen fort, sah Jamie den Blick abwenden und
ebenfalls blinzeln.
»Aber wir haben gar nicht gelebt«, sagte er leise. »Wir waren tot, als ihr diese
Briefe gelesen habt.«
»Nein, das wart ihr nicht«, sagte sie heftig und packte seine Hand. »Ich wollte die Briefe nicht auf einmal lesen. Ich habe sie eingeteilt – denn solange es
noch ungeöffnete Briefe gab … so lange wart ihr noch am Leben.«
»Das spielt alles keine Rolle, Kleine«, sagte er schließlich ganz leise. Er hob
ihre Hand und küsste ihre Fingerknöchel, sein Atem warm und leicht auf ihrer
Haut. »Du bist hier. Und wir auch. Alles andere spielt keine Rolle.«
BRIANNA HATTE DIE Vogelflinte der Familie dabei, ihr Vater sein gutes
Gewehr. Doch auf Vögel oder Kleinwild schoss sie nicht, solange es möglich
war, dass sie damit das Rotwild in der Nähe aufscheuchte. Der Aufstieg war
steil, und sie ertappte sich dabei, dass sie keuchte und ihr der Schweiß hinter
den Ohren aufperlte, obwohl es kühl war. Ihr Vater kletterte wie eh und je – wie
eine Bergziege, ohne das geringste Zeichen von Anstrengung, doch er merkte –
zu ihrer Bestürzung –, dass sie Schwierigkeiten hatte, und winkte zur Seite, auf
einen kleinen Felsabsatz.
»Wir haben es nicht eilig, a nighean«, sagte er und lächelte sie an. »Hier gibt
es Wasser.« Es war nicht zu übersehen, wie er zögerte, als er die Hand ausstreckte, ihre errötete Wange berührte und sie rasch wieder zurückzog.
»Entschuldige, Kleine«, sagte er und lächelte. »Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, dass du wirklich da bist.«
»Ich weiß, was du meinst«, flüsterte sie. Sie schluckte, streckte ihrerseits die
Hand aus und berührte sein Gesicht, warm und glatt rasiert, die schrägen Augen tiefblau wie die ihren.
»Och«, hauchte er und zog sie sanft in seine Arme. Sie drückte ihn fest, und
dann standen sie wortlos da und lauschten den Rufen der Raben, die über ihnen kreisten, und dem Wasser, das über die Felsen rann.
»Trobhad agus òl, a nighean«, sagte er. So sanft, wie er sie umarmt hatte, ließ er sie wieder los und drehte sie zu einem winzigen Rinnsal, das durch eine Spalte zwischen zwei Felsen lief. Komm, trink etwas.
Das Wasser war eisig. Es schmeckte nach Granit und einem Hauch von Kiefernnadelterpentin.
Sie hatte ihren Durst gestillt und spritzte sich gerade Wasser auf die heißen
Wangen, als sie spürte, wie sich ihr Vater plötzlich bewegte. Sofort erstarrte sie
und blickte zu ihm hinüber. Auch er stand erstarrt da, hob aber Augen und
Kinn ein wenig und wies auf den Hang über ihnen.
Jetzt sah – und hörte – sie es, das leise Rieseln von Erde, die sich löste und
mit leisem Kiesel-Klickern zu ihren Füßen auf dem Felsen landete. Dann folgte
Stille, bis auf die Rufe der Raben. Diese waren lauter, dachte sie, als wären die
Vögel näher gekommen. Sie sehen etwas, dachte sie.
Die Vögel waren näher gekommen. Ein Rabe schoss plötzlich in die Tiefe
und sauste erschreckend nah an ihrem Kopf vorbei, ein anderer schrie am
Himmel.
Ein plötzliches Krachen auf dem Fels über ihnen ließ sie den Halt verlieren,
und sie griff automatisch nach einer Handvoll junger Triebe, die aus den Felsen
ragten. Gerade noch rechtzeitig, denn über ihr ertönten ein dumpfer Schlag
und Rutschgeräusche, und quasi im selben Moment stürzte etwas Großes in
einer Wolke aus Erde und Kies an ihr vorüber, prallte mit einer Explosion aus
Atem, Blut und schierer Wucht neben ihr vom Felsen ab und landete krachend
unten im Gebüsch.
»Seliger Michael, steh uns bei«, sagte ihr Vater auf Gälisch und bekreuzigte
sich. Er richtete den Blick auf das Getöse unten im Gebüsch – Himmel, was
immer es war, es lebte noch –, dann nach oben.
»Weh!«, sagte eine aufgebrachte Männerstimme über ihr. Sie verstand
zwar das Wort nicht, doch sie erkannte die Stimme, und Freude brach in ihr
aus.
»Ian!«, rief sie. Oben herrschte absolute Stille, bis auf die Raben, die immer
aufgeregter wurden.
»Seliger Michael, steh uns bei«, sagte eine verdatterte Stimme auf Gälisch,
und im nächsten Moment landete ihr Vetter Ian auf dem schmalen Felsensims,
wo er ohne erkennbare Schwierigkeiten das Gleichgewicht wiederfand.
»Du bist es wirklich!«, sagte sie. »Oh, Ian!«
»A charaid!« Ungläubig lachend packte er sie und drückte sie fest. »Himmel,
du bist es!« Er wich einen Moment zurück, um sich mit einem genauen Blick zu
überzeugen, lachte noch einmal glücklich, küsste sie herzhaft und drückte sie
erneut. Er roch nach Hirschleder, Porridge und Schießpulver, und sie konnte
sein Herz an ihrer Brust schlagen spüren.
Mit halbem Ohr hörte sie es rascheln, und als sie einander losließen, begriff
sie, dass ihr Vater von dem Felsen gesprungen war und sich halb rutschend über das Geröll auf das Gebüsch zubewegte, in das der Hirsch – es musste ein
Hirsch gewesen sein – gestürzt war.
Am Rand der Büsche hielt er kurz an – die Äste bewegten sich immer noch,
doch die Bewegungen des verletzten Tiers wurden jetzt weniger heftig –, dann
zog er seinen Dolch, murmelte eine gälische Bemerkung und watete vorsichtig
in das Gestrüpp hinein.
»Das sind alles Rosenbüsche da unten«, sagte Ian, der einen Blick über ihre
Schulter warf. »Aber ich glaube, er kommt noch rechtzeitig, um ihm die Kehle
durchzuschneiden. A Dhia, das war ein schlechter Schuss, und ich hatte schon
Angst, ich hätte … aber was zum Teuf–, äh, ich meine, wie kommt es, dass du
hier bist?« Er trat einen Schritt zurück und ließ den Blick über sie hinwegwandern. Seine Mundwinkel kräuselten sich ein wenig, als er ihre Kniehose und die
ledernen Wanderschuhe sah, dann verschwand das Lächeln, und sein Blick
kehrte zu ihrem Gesicht zurück, diesmal besorgt. »Ist dein Mann nicht bei dir?
Und die Kinder?«
»Doch, das sind sie«, beruhigte sie ihn. »Roger hämmert wahrscheinlich irgendetwas zusammen, Jem hilft ihm, und Mandy steht wie üblich im Weg. Warum wir hier sind …« Der Tag und die Freude über das Wiedersehen hatten sie
die jüngste Vergangenheit vergessen lassen, doch die unvermittelte Notwendigkeit einer Erklärung ließ plötzlich die ganze Wucht der Situation über sie hereinbrechen.
»Keine Sorge, Cousinchen«, sagte Ian hastig, als er ihr Gesicht sah. »Es kann
warten. Meinst du, du weißt noch, wie man einen Truthahn schießt? Keine
Viertelmeile von hier trippelt ein ganzer Schwarm herum wie Tänzer bei einem
Ceilidh.«
»Oh, das kann schon sein.« Sie hatte die Vogelflinte an den Felsen gelehnt,
um zu trinken; der stürzende Hirsch hatte das Gewehr umgeworfen, und sie
hob es auf; der Fall hatte den Feuerstein verschoben, und sie rückte ihn gerade.
Das peitschende Rascheln im Gebüsch war verstummt, und sie konnte die
Stimme ihres Vaters hören, die den Wind in Wortfetzen übertönte und das
Grallochgebet sprach.
»Aber sollten wir Pa nicht mit dem Hirsch helfen?«
»Ach, es ist nur ein Jährling; er wird schneller damit fertig sein, als du blinzeln kannst.« Ian beugte sich auf der Felsenkante vor und rief in die Tiefe: »Ich
gehe mit Brianna Truthähne schießen, bràthair mo mhàthair!«
Totenstille von unten, dann lautes Geraschel, und Jamies zerzauster Kopf
tauchte plötzlich über den Rosenbüschen auf. Sein Haar war lose und durcheinander, sein Gesicht war tiefrot angelaufen und blutete an mehreren Stellen,
genau wie seine Arme und Hände, und seine Miene war missmutig.
»Ian«, sagte er in gemessenem Ton, aber so laut, dass er trotz der Waldgeräusche gut zu hören war. »Mac Ian … mac Ian!«

»Wir kommen zurück und helfen dir, das Fleisch zu tragen!«, rief Ian zurück.
Er winkte fröhlich, packte die Vogelflinte, fing Briannas Blick auf und wies mit
einem Ruck seines Kinns bergauf. Sie blickte in die Tiefe, doch ihr Vater war
verschwunden, nur die Büsche wedelten aufgebracht hin und her.
Sie stellte fest, dass sie viel von ihrem Blick für die Wildnis verloren hatte; für
sie sahen die Klippen unpassierbar aus, doch Ian kletterte mit der Leichtigkeit
eines Pavians hinauf, und nach kurzem Zögern folgte sie ihm, wenn auch viel
langsamer. Hin und wieder rutschte sie ab und ließ es Erde regnen, während sie
nach den Haltepunkten tastete, die ihr Vetter benutzt hatte.
»Ian mac Ian mac Ian?«, fragte sie, als sie oben ankam und anhielt, um sich
die Erde aus den Schuhen zu schütteln. Ihr Herz schlug unangenehm heftig.
»Ist das so ähnlich, wenn ich Jem Jeremiah Alexander Ian MacKenzie nenne,
weil ich böse auf ihn bin?«
»So ähnlich«, sagte Ian schulterzuckend. »Ian, Sohn des Ian, Sohn des Ian …
es soll dich darauf hinweisen, dass du eine Schande für deine Vorfahren bist,
aye?« Er trug ein zerschlissenes, schmutziges Kalikohemd, dem jedoch die Ärmel fehlten, und sie sah eine große weiße Narbe in der Form eines vierzackigen
Sterns auf seiner nackten braunen Schulter.
»Was war das?«, fragte sie und zeigte darauf. Er warf einen Blick darauf und
winkte ab, dann drehte er sich, um sie über den kleinen Felsenkamm zu führen.
»Ach, nichts Großes«, sagte er. »Ein verdammter Abenaki hat mich in Monmouth mit einem Pfeil getroffen. Denny hat ihn mir ein paar Tage später herausgeschnitten – Denzell Hunter«, fügte er hinzu, als er ihren verständnislosen Blick sah. »Rachels Bruder. Er ist Arzt, wie deine Mam.«
»Rachel!«, rief sie aus. »Pa sagt, du hast geheiratet – Rachel ist deine Frau?«
Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht.
»Ja«, sagte er schlicht. »Taing do Dhia.« Dann wandte er hastig den Kopf, um
zu sehen, ob sie ihn verstanden hatte.
»Was ’Gott sei Dank’ heißt, weiß ich noch«, beruhigte sie ihn. »Und noch
einiges mehr. Roger hat den Großteil unserer Reise von Schottland hierher damit verbracht, unser Gàidhlig aufzufrischen. Hat mir Pa nicht auch erzählt, dass
sie Quäkerin ist?«, fragte sie und überquerte mit großen Schritten die Steine in
einem kleinen Bach.
»Aye, das ist sie.« Ians Blick war auf die Steine geheftet, aber sie hatte den
Eindruck, dass er weniger glücklich und stolz klang als noch einen Moment
zuvor. Doch sie ließ es auf sich beruhen; wenn es einen Konflikt gab – und nach
allem, was sie über ihren Vetter wusste und über Quäker zu wissen glaubte,
konnte sie sich nicht vorstellen, dass es keinen gab –, war dies nicht der richtige
Zeitpunkt für Fragen.
Nicht, dass sich Ian von solchen Überlegungen aufhalten ließ.
»Aus Schottland?«, fragte er und sah sich nach ihr um. »Wann?« Dann änderte sich seine Miene plötzlich, als er die Zweideutigkeit dieses »Wann« begriff,
und er ließ die Frage mit einer entschuldigenden Geste auf sich beruhen.
»Wir sind im März in Edinburgh aufgebrochen«, wählte sie erst einmal die
einfachste Antwort. »Den Rest erzähle ich dir später.«
Er nickte, und eine Weile gingen sie weiter, manchmal zusammen, manchmal ging Ian vor. Er spürte Wildwechsel auf oder schlug bergauf Bögen um
dichte Büsche. Sie war es ganz zufrieden, ihm zu folgen, denn so konnte sie ihn
ansehen, ohne ihn mit ihrer Neugier in Verlegenheit zu bringen.
Ian hatte sich verändert – kein Wunder –, immer noch hochgewachsen und
hager, aber ausgehärtet, ein Mann, der jetzt ganz zu sich selbst herangewachsen
war, die langen Muskeln seiner Arme unter der Haut deutlich definiert. Sein
braunes Haar war dunkler geworden, geflochten und mit einem Lederriemchen zusammengebunden, verziert mit etwas, das aussah wie ganz frische Truthahnfedern. Als Glücksbringer?, fragte sie sich. Er hatte oben auf der Klippe
seinen Bogen und den Köcher wieder an sich genommen, und der Köcher
schwang jetzt sacht auf seinem Rücken.
Doch das Wesen eines wohlgestalten Mannes erscheint nicht nur in seinem Gesicht, dachte sie amüsiert. Es liegt auch in seinen Gliedmaßen und Gelenken, sonderbarerweise, in seinen Hüften und den Handgelenken. Es liegt in seinem Gang,
der Art, wie er den Hals trägt, dem Schwung seiner Hüften und Knie – Kleider
verhüllen ihn nicht. Das Gedicht hatte sie immer an Roger erinnert, doch nun galt
es auch für Ian und ihren Vater, so unterschiedlich die drei Männer auch waren.
Als sie an Höhe gewannen und sich die Bäume lichteten, frischte der Wind
auf. Ian blieb stehen und winkte ihr mit einer kleinen Bewegung seiner Finger.
»Hörst du sie?«, hauchte er ihr ins Ohr.
Das tat sie, und ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken. Kurze, abgehackte Kläfflaute, fast wie Hundegebell. Und etwas weiter entfernt eine Art wiederkehrendes Schnurren, irgendwo zwischen einer großen Katze und einem
kleinen Motor.
»Am besten ziehst du dir die Strümpfe aus und reibst dir die Beine mit Erde
ein«, flüsterte Ian und zeigte auf ihre Wollstrümpfe. »Die Hände und das Gesicht auch.«
Sie nickte, lehnte die Flinte an einen Baum und scharrte etwas trockenes
Laub von einer Stelle am Boden zusammen, die feucht genug war, um sich damit einzureiben. Ian, dessen Haut beinahe die Farbe seiner Lederhose hatte,
brauchte diese Art von Tarnung nicht. Er entfernte sich lautlos, während sie
sich Hände und Gesicht einrieb, und als sie den Kopf hob, konnte sie ihn zunächst nicht sehen.
Dann hörte sie eine Abfolge von Geräuschen wie eine rostige Türangel, die
hin- und herschwang, und plötzlich sah sie ihn. Er stand keine zwanzig Meter
entfernt reglos hinter einem Amberbaum.

Im ersten Moment schien der Wald zu erstarren, und das leise Scharren und
Rascheln verstummte. Dann erscholl ein wütendes Kollern, und als sie den
Kopf wandte, so langsam sie konnte, sah sie den hellblauen Kopf eines Truthahns aus dem Gras auftauchen und scharf von rechts nach links spähen. Seine
knallroten Kehllappen schwangen hin und her, während er nach dem Herausforderer suchte.
Sie richtete den Blick auf Ian, der die Hände als Trichter an seinen Mund
gelegt hatte, doch er bewegte sich nicht und gab kein Geräusch von sich. Sie
hielt die Luft an und sah wieder den Truthahn an, der erneut laut kollerte –
diesmal antwortete ein anderer Hahn in einiger Entfernung. Der Truthahn vor
ihren Augen blickte in Richtung dieses Geräuschs, hob den Kopf und kläffte,
lauschte einen Moment, dann duckte er sich wieder ins Gras. Sie sah Ian an; er
bemerkte ihre Bewegung und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Sie warteten sechzehn Atemzüge lang – sie zählte mit –, dann kollerte Ian
erneut. Der Truthahn tauchte aus dem Gras auf und stapfte über ein Stück offenes, mit Laub bedecktes Gelände, die Augen blutunterlaufen, die Brustfedern
aufgeplustert und den Schwanz aufgefächert, soweit es ging. Er hielt einen Moment inne, damit ihn der Wald in all seiner Pracht bewundern konnte, dann
stolzierte er unter schrillen, aggressiven Rufen weiter auf und ab.
Sie bewegte nur die Augäpfel, um den Blick von dem stolzierenden Hahn zu
Ian schweifen zu lassen, der sich im Einklang mit den Bewegungen des Hahns
den Bogen von der Schulter gleiten ließ, einen Pfeil herauszog, stillhielt und
schließlich den Pfeil anlegte, als der Vogel zum letzten Mal wendete.
Zumindest hätte es das letzte Mal sein sollen. Ian spannte den Bogen, ließ
dann im selben Moment den Pfeil fliegen und stieß einen erschrockenen, allzu
menschlichen Aufschrei aus, weil über ihm ein großer, dunkler Gegenstand
vom Baum fiel. Er fuhr zurück, und der landende Vogel verfehlte knapp seinen
Kopf. Sie konnte das Tier jetzt sehen, eine Henne, die, aufgeplustert vor
Schreck, mit ausgestrecktem Hals über das offene Gelände auf den nicht minder erschrockenen Hahn zurannte, der erschüttert in sich zusammengesunken
war.
Sie hob automatisch die Flinte, zielte und feuerte. Sie traf daneben; beide
Truthähne verschwanden im Farn, und ihr Gackern klang wie ein kleiner
Hammer, der einen Holzklotz trifft.
Die Echos verstummten, und das Laub der Bäume nahm sein Gemurmel
wieder auf. Sie sah ihren Vetter an, der den Blick auf seinen Bogen richtete,
dann auf die Lichtung, wo sein Pfeil absurd zwischen zwei Felsen steckte. Er sah
sie an, und sie brachen beide in Gelächter aus.
»Aye, nun ja«, sagte er resigniert. »Das haben wir davon, dass wir Onkel
Jamie alleine Rosen pflücken lassen.«

BRIANNA REINIGTE DEN Lauf und lud ihn nach.
»Tut mir leid, dass ich nicht getroffen habe«, sagte sie.
»Warum denn?« Ian sah sie überrascht an. »Du kannst doch auf der Jagd von
Glück sagen, wenn von zehn Schüssen einer trifft. Das weißt du auch. Außerdem habe ich ebenfalls nicht getroffen.«
»Nur, weil dir ein Truthahn auf den Kopf gefallen ist«, sagte sie, aber sie lachte. »Ist dein Pfeil hinüber?«
»Aye«, sagte er und zeigte ihr den durchgebrochenen Schaft, den er zwischen
den Felsen hervorgeholt hatte. »Aber die Spitze ist noch gut.« Er zog die scharfe Eisenspitze ab, steckte sie in seinen Sporran und warf den Schaft beiseite.
Dann stand er auf. »Hier brauchen wir es nicht mehr zu versuchen, aber … was
ist denn los?«
Sie versuchte, ihren Ladestock in den Köcher zu schieben, verfehlte diesen
jedoch, und er flog zu Boden.
»Wie nennt man es, wenn man zu aufgeregt ist, um ein Stück Rotwild zu
treffen – Hirschfieber?«, sagte sie und machte gute Miene zum bösen Spiel,
während sie den Ladestock holen ging. »Oder wohl eher Truthahnfieber.«
»Oh, aye«, sagte er und lächelte, doch sein Blick wich nicht von ihren Händen. »Wann hast du zuletzt mit einem Gewehr geschossen, Cousinchen?«
»Das ist gar nicht so lange her«, sagte sie knapp. Sie hatte nicht damit
gerechnet, dass es sie so überkommen würde. »Vielleicht sechs, sieben Monate.«
»Was hast du denn gejagt?«, fragte er und legte den Kopf schief.
Sie sah ihn an, fällte ihre Entscheidung, verstaute den Ladestock mit Sorgfalt
und wandte sich ihm zu.
»Eine Bande von Männern, die in meinem Haus auf der Lauer lagen, um
mich umzubringen und meine Kinder zu entführen«, sagte sie. Obwohl es
nackte Worte waren, klangen sie lächerlich und melodramatisch.
Seine feinen Augenbrauen hoben sich.
»Hast du sie erwischt?« Sein Ton war so voller Interesse, dass sie trotz der
Erinnerungen lachte. Er hätte genauso fragen können, ob sie einen großen
Fisch gefangen hatte.
»Nein, leider nicht. Ich habe ihnen ein Rad zerschossen und ein Fenster meines eigenen Hauses. Ich habe sie nicht erwischt. Andererseits«, fügte sie mit
gespielter Beiläufigkeit hinzu, »haben sie aber auch weder mich noch die Kinder erwischt.«
Er nickte und nahm ihre Worte mit einer Selbstverständlichkeit zur Kenntnis, die sie erstaunt hätte – wäre es irgendein anderer Mann gewesen.
»Dann ist das der Grund, warum ihr hier seid?« Er blickte sich um, völlig
unbewusst, als suchte er den Wald nach möglichen Feinden ab, und sie fragte
sich plötzlich, wie es wohl sein würde, mit Ian zusammenzuleben, wenn man doch nie wusste, ob man mit dem Schotten oder dem Mohawk sprach – und
jetzt war sie wirklich neugierig auf Rachel.
»Hauptsächlich, ja«, antwortete sie. Er hörte ihren Ton und sah sie scharf an,
nickte aber erneut.
»Und werdet ihr zurückgehen, um sie umzubringen?« Diesmal war die Frage
ernst, und es gelang ihr nur mit Mühe, die Wut im Zaum zu halten, die sie
durchsengte, als sie an Rob Cameron und seine verdammten Kumpane dachte.
Nicht Angst war es oder Panik, was ihre Hände jetzt zittern ließ; es war die
Erinnerung an den überwältigenden Drang zu töten, der von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie den Abzug berührt hatte.
»Schön wär’s«, sagte sie. »Wir können es nicht. Körperlich, meine ich.« Sie
schob alles mit einer Handbewegung beiseite. »Ich erzähle es dir später; wir
haben noch nicht einmal mit Pa und Mama darüber gesprochen. Wir sind ja
erst seit gestern Abend hier.« Als ob sie das an den langen, anstrengenden Weg
auf den Berg erinnerte, gähnte sie plötzlich herzhaft.
Ian lachte, und sie schüttelte blinzelnd den Kopf.
»Habe ich das richtig behalten, dass Pa gesagt hat, du hast ein Baby?«, fragte
sie und wechselte entschlossen das Thema.
Das breite Grinsen kam zurück.
»Ja«, sagte er, und sein Gesicht leuchtete vor Glück so sehr, dass sie ebenfalls lächelte. »Ich habe einen kleinen Sohn. Er hat noch keinen richtigen
Namen, aber wir nennen ihn Oggy. Kurz für Oglethorpe«, sagte er, als er
sah, wie ihr Lächeln bei dem Namen breiter wurde. »Wir waren in Savannah, als er anfing, sich zu zeigen. Ich kann es gar nicht abwarten, dass du ihn
siehst!«
»Ich auch nicht«, sagte sie, wenn sie auch keine Verbindung zwischen Savannah und dem Namen Oglethorpe sah. »Sollen wir –«
Ein Geräusch in der Ferne schnitt ihr das Wort ab, und Ian war augenblicklich auf den Beinen und sah sich um.
»War das Pa?«, fragte sie.
»Ich glaube schon.« Ian gab ihr die Hand und zog sie hoch, während er beinahe gleichzeitig seinen Bogen ergriff. »Komm mit!«
Sie packte das frisch geladene Gewehr und rannte los, ohne auf Büsche, Steine, Äste, Bäche oder sonst etwas zu achten. Ian glitt durch den Wald wie eine
Schlange, die sich schnell bewegt; sie bahnte sich hinter ihm gewaltsam den
Weg, zerbrach Äste und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um sehen
zu können.
Zweimal blieb Ian plötzlich stehen und packte ihren Arm, als sie auf ihn zupolterte. Sie standen zusammen mit gespitzten Ohren da und versuchten, ihre
hämmernden Herzen und ihr Keuchen lange genug zur Ruhe zu bringen, um
im Rauschen des Waldes etwas zu hören.

Beim ersten Mal fingen sie nach einer Weile, die ihr wie qualvolle Minuten
erschien, eine Art Quieken im Wind auf, das zu einem Grunzen verhallte.
»Schwein?«, fragte sie keuchend. Wilde Schweine konnten sehr groß sein
und gefährlich.
Ian schüttelte den Kopf und schluckte.
»Bär«, sagte er. Er holte tief Luft, nahm ihre Hand und zog sie im Laufen mit
sich.
Als sie zum zweiten Mal anhielten, um sich zu orientieren, hörten sie nichts.
»Onkel Jamie!«, brüllte Ian, sobald er wieder genug bei Atem war. Nichts,
und Brianna schrie »Pa!«, so laut sie konnte – ein erbärmliches, kleines, vergebliches Geräusch auf dem immensen Berg. Sie warteten, riefen, warteten wieder – und nach dem letzten Rufen und Schweigen liefen sie weiter. Ian führte
sie zurück zu dem Rosengehölz und dem toten Hirsch.
Oberhalb der Mulde kamen sie stolpernd zum Stehen und rangen nach Luft.
Brianna packte Ians Arm.
»Da unten ist etwas!« Die Büsche bewegten sich. Nicht so, wie sie es beim
Todeskampf des Tiers getan hatten, aber sie wackelten eindeutig, aufgestört
durch die unterbrochenen Bewegungen von etwas, das sichtlich größer war als
Jamie Fraser. Sie konnte deutlich Grunzlaute hören, das Glitschen reißender
Sehnen, zerbrechende Knochen … und Kaugeräusche.
»Oh Himmel«, sagte Ian leise, aber nicht leise genug, und der Schreck durchfuhr ihre Brust wie schwarzer Schwindel. Trotzdem schluckte sie Luft, soviel sie
konnte, und schrie noch einmal »Paaaa!«.
»Och, jetzt kommt ihr also«, sagte eine tiefe, verärgerte schottische Stimme
irgendwo unter ihren Füßen. »Ich hoffe, du hast einen Truthahn für den Kochtopf dabei, Kleine, denn Hirsch bekommen wir heute Abend nicht.«
Sie warf sich flach auf den Boden und ließ den Kopf über die Felskante hängen, benommen vor Erleichterung, als sie ihren Vater drei Meter unter sich
stehen sah. Er stand auf dem schmalen Felsabsatz, zu dem er sie vorhin geführt
hatte. Sein Stirnrunzeln entspannte sich, als er sie über sich sah.
»Alles gut, Kleine?«, fragte er.
»Ja«, sagte sie, »aber keine Truthähne. Was in aller Welt ist denn mit dir passiert?« Er war zerzaust und zerkratzt, getrocknete Blutspuren zogen sich über
seine Arme und sein Gesicht, und sein Ärmel hatte einen großen Riss. Sein
rechter Fuß war nackt, und sein Schienbein war voller Blut. Er blickte von dem
Felsabsatz nach unten, und seine finstere Miene kehrte zurück.
»Dia gam chuideachadh«, sagte er und wies mit einem Ruck seines Kinns auf
das Gewühl weiter unten. »Ich hatte Ians Hirsch gerade abgehäutet, als dieser
fette Pelzteufel aus dem Gebüsch kam und ihn mir weggenommen hat.«
»Cachd«, sagte Ian ebenso knapp wie angewidert. Er war neben Brianna in die
Hocke gegangen und betrachtete das Rosengebüsch. Sie wendete ihr Augen merk kurz von ihrem Vater ab, ihr Blick fiel flüchtig auf etwas sehr Großes,
Schwarzes im Gebüsch, das konzentriert zugange war; die Büsche zitterten und
klatschten, wenn es an dem Hirsch zerrte, und sie sah ein steifes, bebendes,
behuftes Bein im Laub auftauchen.
Beim Anblick des Bären – so flüchtig er war – fuhr ihr das Adrenalin derart
durch Mark und Bein, dass sich ihr ganzer Körper anspannte und ihr schwindelig wurde. Sie atmete, so tief sie konnte, und spürte, wie ihr der Schweiß über
den Rücken rann. Ihre Hände lagen feucht auf dem Metall des Gewehrs.
Als sie sich wieder fing, hörte sie gerade noch, wie Ian Jamie fragte, was mit
seinem Bein passiert war.
»Ich habe ihn ins Gesicht getreten«, erwiderte Jamie knapp und warf einen
hasserfüllten Blick in Richtung der Büsche. »Das hat ihm nicht gepasst, und er
hat versucht, mir den Fuß abzubeißen, aber er hat nur meinen Schuh erwischt.«
Ian erbebte sacht an ihrer Seite, war aber so klug, nicht zu lachen.
»Aye. Soll ich dir hochhelfen, Onkel Jamie?«
»Nein danke«, erwiderte Jamie gereizt. »Ich warte darauf, dass sich der mac
na galladh verzieht. Er hat mein Gewehr.«
»Ah«, sagte Ian, der die Bedeutung dieser Tatsache einzuschätzen wusste. Ihr
Vater hatte ihr erzählt, dass er ein sehr gutes Gewehr aus Pennsylvania mit einer großen Reichweite hatte. Er war eindeutig bereit zu warten, solange es nötig
war – und war vermutlich um einiges sturer als der Bär, dachte sie mit einem
kleinen innerlichen Glucksen.
»Ihr könnt gerne schon gehen«, sagte Jamie und blickte zu ihnen auf. »Das
kann noch etwas dauern.«
»Ich könnte ihn vermutlich von hier aus treffen«, bot Brianna mit einem
abschätzenden Blick auf die Entfernung an. »Ich kann ihn zwar nicht erlegen,
aber eine Ladung Schrot vertreibt ihn vielleicht.«
Ihr Vater antwortete mit einem schottischen Geräusch und einer heftigen
Geste der Ablehnung.
»Versuch es gar nicht erst«, sagte er. »Am Ende machst du ihn damit nur
wütend – und wenn ich diesen Hang hinunterklettern kann, kann ihn der Bär
mit Sicherheit auch hinaufklettern. Also ab mit euch; ich bekomme Nackenschmerzen, wenn ich so zu euch nach oben spreche.«
Brianna warf Ian einen Seitenblick zu, den er mit dem Hauch eines Nickens
erwiderte – er verstand, dass es ihr widerstrebte, ihren Vater barfuß ein paar
Meter neben einem hungrigen Bären allein zu lassen.
»Wir leisten dir noch ein bisschen Gesellschaft«, verkündete er – und ehe
Jamie widersprechen konnte, hatte Ian einen stabilen Kiefernschössling gepackt und sich auf den Felsvorsprung hinuntergeschwungen, wo seine Füße in
ihren Mokassins sofort Halt fanden.
Brianna folgte seinem Beispiel, beugte sich allerdings vor und ließ ihrem Vater die Vogelflinte in die Hände fallen, ehe sie sich langsamer ebenfalls den
Weg in die Tiefe suchte.
»Ich bin überrascht, dass du nicht mit dem Dolch auf ihn losgegangen bist,
Onkel Jamie«, sagte Ian. »Bärentöter nennen dich doch die Tuscarora, oder?«
Brianna stellte erfreut fest, dass Jamie seinen Gleichmut wiedergefunden
hatte und Ian nur einen mitleidigen Blick zuwarf.
»Ist dir vielleicht das Sprichwort vertraut, dass man im Alter klug wird?«,
erkundigte er sich.
»Aye«, erwiderte Ian mit verdutzter Miene.
»Nun, wer nicht klug wird, der wird vermutlich auch nicht alt«, sagte Jamie
und lehnte die Vogelflinte an die Felswand. »Und ich bin alt genug, um nicht so
dumm zu sein, wegen eines toten Hirschs mit dem Dolch auf einen Bären loszugehen. Hast du etwas zu essen dabei, Kleine?«
Sie hatte den kleinen Beutel ganz vergessen, den sie auf der Schulter trug,
doch jetzt zog sie ihn ab und fasste hinein. Sie holte ein kleines Päckchen mit
Fladenbrot und Käse hervor, das Amy Higgins ihr mitgegeben hatte.
»Setz dich hin«, sagte sie zu ihrem Vater. »Ich möchte mir dein Bein ansehen.«
»Es ist nicht schlimm«, sagte er, doch entweder war er zu hungrig, um mit
ihr zu diskutieren, oder ihre Mutter hatte ihn so konditioniert, dass er jede
ungewollte medizinische Behandlung über sich ergehen ließ, denn er setzte
sich trotzdem und streckte das verletzte Bein aus.
Wie er gesagt hatte, war es nicht schlimm, obwohl er eine tiefe Bisswunde am
Bein hatte und daneben ein paar lange Kratzer – die vermutlich entstanden
waren, als er den Fuß aus dem Bärenmaul gezogen hatte, dachte sie, und ihr
wurde ein wenig mulmig, als sie es sich vorstellte. Sie hatte nichts dabei, was sie
benutzen konnte, außer einem großen Taschentuch. Das tauchte sie in das eisige Wasser des Rinnsals, das über den Felsen lief, und säuberte die Wunde, so
gut sie konnte.
Konnte man von einem Bärenbiss Tetanus bekommen?, fragte sie sich, während sie die Wunde betupfte und das Tuch auswusch. Vor ihrem Aufbruch hatte sie Sorge getragen, dass die Kinder frisch geimpft waren – auch gegen Tetanus –, aber eine Tetanusimpfung hielt nur wie lange? Zehn Jahre? So ähnlich
jedenfalls.
Die Bisswunde blutete noch ein wenig, aber nicht dramatisch. Sie wrang das
Tuch aus und band es fest, aber nicht zu eng um seinen Unterschenkel.
»Tapadh leat, a gràidh«, sagte er und lächelte sie an. »Deine Mutter hätte es
auch nicht besser gekonnt. Hier.« Er hatte ihr zwei Stücke Brot und etwas Käse
übrig gelassen, und sie lehnte sich zwischen ihm und Ian mit dem Rücken an
die Felswand und stellte überrascht fest, dass sie großen Hunger hatte – und
noch überraschter, dass ihr die Tatsache, dass sie munter neben einem großen Raubtier vor sich hin plauderten, das sie zweifellos alle umbringen konnte,
überhaupt keine Sorgen machte.
»Bären sind faul«, sagte Ian zu ihr, als er ihrer Blickrichtung folgte. »Wenn
er – ist es ein ’er’, Onkel Jamie? – da unten einen leckeren Hirsch hat, wird er
sich nicht die Mühe machen, nach hier oben zu klettern, nur um sich eine kleine Zwischenmahlzeit zu holen. Apropos«, sagte er und beugte sich vor, um
Jamie anzusprechen, »hat er deinen Schuh gefressen?«
»Ich bin nicht stehen geblieben, um es mir anzusehen«, sagte Jamie, dessen
Laune sich durch das Essen gebessert zu haben schien. »Ich hoffe aber, dass er
es nicht getan hat. Warum sollte er sich schließlich mit einem Stück altem Leder abgeben, wenn er doch einen schönen Haufen dampfender Hirschgedärme
vor sich hat? Bären sind keine Dummköpfe.«
Ian nickte und lehnte sich ebenfalls an den Felsen, um sich sacht die Schultern an dem sonnengewärmten Stein zu reiben.
»Also, a charaid«, sagte er zu Brianna. »Du hast gesagt, du würdest mir erzählen, wie es gekommen ist, dass ihr wieder da seid. Da wir vermutlich ein
bisschen Zeit haben …« Er wies kopfnickend auf die jetzt rhythmischen Reiß-
und Kaugeräusche unter ihnen.
Ihr Magen rutschte abrupt in die Tiefe, und ihr Vater sah ihr Gesicht und
tätschelte ihr das Knie.
»Mach dir keine Gedanken, a leannan. Zeit genug. Vielleicht möchtest du es
aber lieber allen erzählen, also, wenn Roger Mac dabei ist?«
Sie zögerte einen Moment; sie hatte sich schon oft vorgestellt, wie sie ihren
Eltern alles erzählte, und dabei vor ihrem inneren Auge gehabt, wie sie und
Roger sich gemeinsam dabei abwechselten. Doch angesichts der gespannten
Miene ihres Vaters wurde ihr etwas verspätet klar, dass sie ihm nicht alles wahrheitsgemäß erzählen konnte, wenn Roger dabei war – selbst ihm hatte sie nicht
alles erzählt, als sie ihn wiedergefunden und dann gesehen hatte, wie wütend
ihn die Einzelheiten machten, die sie preisgegeben hatte.
»Nein«, sagte sie langsam. »Ich kann es euch jetzt erzählen. Zumindest meine Hälfte.« Sie spülte die letzten Brotkrümel mit einer Handvoll kaltem Wasser
hinunter und begann.
Ja, ihre Mutter hatte wirklich Ahnung von Männern, dachte sie, als sie sah,
wie sich Ians Faust auf seinem Knie ballte, und sie das leise, unwillkürliche
Grollen hörte, das ihr Vater ausstieß, als er hörte, wie Rob Cameron sie im Studierzimmer von Lallybroch bedrängt hatte. Sie erzählte ihnen nicht, was er gesagt hatte, die kruden Drohungen, die Befehle – oder was sie getan hatte, wie sie
auf sein Kommando ihre Jeans auszog und ihm dann den schweren Denim ins
Gesicht schlug, ehe sie auf ihn losging und ihn zu Boden schlug. Sie erwähnte,
wie sie ihm die Holzkiste mit den Briefen auf den Schädel geschlagen hatte, und
beide stießen kleine Hmpfs der Genugtuung aus.

»Woher kam diese Kiste eigentlich?«, unterbrach sie sich mit einer Frage an
ihren Vater. »Roger hat sie in der Garage seines Adoptivvaters gefunden – das
ist ein Raum, in dem man ein Auto parkt, meine ich …« Sie brach ab, als sie
einen Hauch von Verwirrung in Jamies Miene sah. »Egal, es war eine Art Lagerraum. Aber wir haben uns immer gefragt, wo ihr sie hier untergebracht
hattet?«
»Och, das?« Jamies Miene entspannte sich wieder. »Roger Mac hatte mir erzählt, dass sein Vater Priester war und viele Jahre in seinem Pfarrhaus in Inverness gewohnt hat. Wir haben drei Kisten angelegt – es war viel Arbeit, alle Briefe zu kopieren –, und ich habe sie versiegeln und an drei verschiedene Banken
in Edinburgh senden lassen, mit der Anweisung, dass man sie zu bestimmten
Zeitpunkten zu Reverend Wakefield im Pfarrhaus in Inverness schicken sollte.
Wir haben gehofft, dass wenigstens eine auftaucht; ich habe sie alle mit Jemmys
vollständigem Namen beschriftet, weil ich dachte, dass euch das etwas sagen
würde, sonst aber niemandem. Aber erzähl weiter – du hast diesen Cameron
mit der Kiste niedergeschlagen, und dann …?«
»Er war nicht ganz ohnmächtig, aber ich konnte an ihm vorbei und bin
durch den Flur zur Garderobe gerannt – es ist nicht dieselbe, die deine Eltern
haben«, sagte sie zu Ian, und dann fiel ihr ein, was in einem der Briefe gestanden hatte. »O Gott! Dein Vater, Ian … es tut mir so leid!«
»Oh, aye«, sagte er mit gesenktem Blick. Sie hatte seinen Unterarm genommen, und er legte seine große Hand auf die ihre und drückte sacht zu. »Keine
Sorge, a nighean. Ich spüre ihn hin und wieder in meiner Nähe. Und Onkel
Jamie hat meine Mama aus Schottland mitgebracht – oh, Himmel.« Er hielt
inne und sah sie mit großen Augen an. »Sie weiß ja gar nicht, dass du hier
bist!«
»Sie wird es bald herausfinden«, sagte Jamie ungeduldig. »Erzählst du mir
jetzt, was zum Teufel mit diesem verdammten Cameron passiert ist?«
»Nicht genug«, sagte sie grimmig und erzählte ihre Geschichte zu Ende, bis
hin zum Auftauchen von Camerons Mitverschwörern und der Schießerei am
OK Corral.
»Also bin ich mit Jem und Mandy nach Kalifornien geflogen – das ist auf der
anderen Seite von Amerika –, um mir zu überlegen, was ich tun soll, und
schließlich war klar, dass ich keine Wahl hatte; wir mussten versuchen, Roger
zu finden. Und das haben wir getan, und dann …« Sie wies mit einer ausladenden Geste auf die Wildnis ringsum. »Da sind wir.«
Jamie atmete durch die Nase ein, sagte aber nichts. Ian schwieg ebenfalls,
obwohl er kurz nickte wie zu sich selbst. Brianna fühlte sich durch die Nähe
ihrer Verwandten seltsam beruhigt, und es erleichterte sie, ihnen die Geschichte erzählt und ihre Ängste anvertraut zu haben. Sie fühlte sich auf eine Weise
beschützt, wie sie es schon lange nicht mehr empfunden hatte.

»Da geht er«, sagte Ian plötzlich, und sie folgte seiner Blickrichtung und sah
den plötzlichen Aufruhr im Gebüsch, als die Rosensträucher den mächtigen
Bären preisgaben, der langsam davonwatschelte. Ian stand auf und bot Brianna
die Hand an.
Sie richtete sich zu voller Größe auf und reckte wankend ihre Glieder. Sie
fühlte sich so beruhigt, dass sie kaum hörte, was ihr Vater sagte, während er
sich hinter ihr erhob.
»Was sagst du?«, sagte sie und drehte sich zu ihm um.
»Ich sage, eines fehlt noch, nicht wahr?«
»Fehlt?«, sagte sie mit einem halben Lächeln. »Reicht das etwa nicht?«
Jamie stieß einen schottischen Kehllaut aus, halb Entschuldigung, halb Warnung.
»Dieser Robert Cameron«, sagte er. »Er hat wahrscheinlich unsere Briefe gelesen, sagst du.«
Ein Rinnsal aus Eiswasser begann ihr langsam an der Wirbelsäule entlangzukriechen.
»Ja.« Das Gefühl der friedvollen Geborgenheit war plötzlich dahin.
»Dann weiß er von dem Gold, und er weiß auch, wo wir sind. Wenn er es
weiß, wissen es seine Freunde ebenfalls. Und es mag ja sein, dass er nicht durch
die Steine reisen kann, aber vielleicht gibt es jemanden, der es kann.« Jamie
warf ihr einen sehr direkten blauen Blick zu. »Früher oder später wird jemand
kommen und danach suchen.«

Rustikale Landromantik

Die Sonne war kaum aufgegangen, doch Jamie war schon lange fort. Ich war kurz aufgewacht, als er mich auf die Stirn geküsst und geflüstert hatte,
dass er mit Brianna auf die Jagd gehen würde. Dann hatte er meine Lippen geküsst und war in der kühlen Dunkelheit verschwunden. Zwei Stunden später
erwachte ich in dem warmen Nest aus Quilts – eine Spende der Crombies und
der Lindsays –, das uns als Bett diente. Ich setzte mich im Hemd in den Schneidersitz, kämmte mir mit den Fingern Laub und Grasähren aus dem Haar und
genoss den seltenen Luxus, langsam aufzuwachen statt wie so oft mit dem Gefühl, als hätte man mich aus einer Kanone abgeschossen.
Sobald das Haus bewohnbar sein würde und sich die MacKenzies und auch
Fanny und Germain darin einquartiert hatten, würde hier wieder ein morgendliches Treiben herrschen wie beim Auszug der Fledermäuse aus den Carlsbad Caverns, den ich einmal in einer Disney-Dokumentation gesehen hatte. Vorerst jedoch war die Welt hell und von Frieden erfüllt.
Ein leuchtend roter Marienkäfer fiel mir aus dem Haar auf die Vorderseite
meines Hemds und setzte meinen Grübeleien ein abruptes Ende. Ich sprang
auf und schüttelte den Käfer neben dem großen umgestürzten Baum ins hohe
Gras, begab mich für einen privaten Moment ins Gebüsch und kam mit einem
Büschel frischer Bergminze wieder hervor. Es war gerade noch genug Wasser
im Eimer, um mir eine Tasse Tee zu kochen. Also legte ich die Minze auf die
flache Oberfläche, die Jamie mit dem Beil als Arbeitsplatte in das eine Ende
einer riesigen umgestürzten Pappel geschlagen hatte, und ging Feuer machen,
um dann den Wasserkessel in den Ring aus geschwärzten Steinen zu stellen.
Am anderen Ende der Lichtung unter mir stieg eine dünne Rauchspirale aus
dem Schornstein wie eine Schlange aus dem Korb eines Magiers; auch dort
hatte jemand die Glut der Nacht wieder angefacht.
Wer würde heute Morgen mein erster Besucher sein? Germain vielleicht; er
hatte letzte Nacht bei den Higgins’ geschlafen – aber er war genauso wenig zum
Frühaufsteher geboren wie ich. Fanny war ein gutes Stück entfernt bei der Witwe Donaldson und ihrer zahlreichen Brut; sie würde später kommen.
Es würde Roger sein, dachte ich und spürte, wie mir leicht ums Herz wurde.
Roger und die Kinder.
Das Feuer leckte an dem Blechkessel; ich hob den Deckel und warf eine gute
Handvoll Minzblätter ins Wasser – nachdem ich die Stiele geschüttelt hatte, um
etwaige Mitreisende abzulösen. Den Rest band ich mit einem Faden zusammen
und hängte ihn zu den anderen Kräutern, die von den Deckenbalken meines
improvisierten Behandlungszimmers baumelten – welches aus vier Pfählen bestand, über die ein Gitter gebreitet war, das mit Hemlockzweigen bedeckt war,
um Schatten und Schutz zu spenden. Ich hatte zwei Hocker – einen für mich
und einen für den jeweiligen Patienten – und einen kleinen, schlicht gezimmerten Tisch für die Instrumente, die ich in Reichweite haben musste.
Jamie hatte an diesem Unterschlupf einen kleinen Anbau aus Segeltuch befestigt, um nötigenfalls Zurückgezogenheit zu ermöglichen und auch als Vorratsraum für Lebensmittel und Arzneien, die ich in waschbärensicheren Fässern, Krügen oder Kisten lagerte.
Es war ländlich, rustikal und sehr romantisch – jene Art von Romantik, bei
der es von Ungeziefer wimmelte, man ständig schmutzige Knöchel hatte und
den Elementen ausgesetzt war und man gelegentlich ein Kribbeln im Nacken
spürte, das darauf hindeutete, dass man von etwas Hungrigem beobachtet wurde … aber dennoch.
Ich warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das neue Fundament.
Das Haus würde zwei schöne Kamine aus Feldsteinen bekommen; der eine
war bereits zur Hälfte gebaut und stand unverrückbar wie ein Monolith zwischen dem Rahmenwerk, das in Kürze – so hoffte ich – unsere Küche und unser
Essbereich sein würde. Jamie hatte mir versichert, dass er die Wände des gro-
ßen Zimmers im Lauf der nächsten Wochen schließen und vorübergehend mit
einem Dach aus Segeltuch versehen würde, damit wir wieder innen schlafen
und kochen konnten. Der Rest des Hauses …
Das konnte davon abhängen, welche grandiosen Ideen er und Brianna gestern Abend im Lauf ihrer Unterhaltung entwickelt hatten. Ich glaubte, mich an
wilde Bemerkungen über Zement und fließendes Wasser zu erinnern, von denen ich sehr hoffte, dass sie keine Wurzeln schlagen würden, zumindest nicht,
bis wir ein Dach über den Köpfen und festen Boden unter den Füßen hatten.
Andererseits …
Stimmen auf dem Weg unter mir deuteten darauf hin, dass mein Besuch wie
erwartet angekommen war, und ich lächelte. Andererseits würden uns zwei
Paar erfahrene, fähige Hände beim Bau helfen können.
Jems zerzauster roter Kopf kam in Sicht, und bei meinem Anblick brach er in
ein breites Grinsen aus.
»Omi!«, rief er und schwang einen etwas mitgenommenen Maisfladen. »Wir
haben dir Frühstück mitgebracht!«
SIE HATTEN MIR Frühstück mitgebracht, und für meine gegenwärtigen
Verhältnisse war es fürstlich: zwei frische Maisfladen, gebratene Wurstpastetchen, die sie in Blätter gewickelt hatten, ein gekochtes Ei, noch warm, und ein
Glas mit einem knappen Zentimeter der Heidelbeermarmelade, die Amy letztes Jahr gekocht hatte.
»Mrs Higgins sagt, du sollst ihr das leere Glas zurückschicken«, teilte mir
Jemmy mit, als er es mir reichte. Er hatte nur ein Auge auf das Glas gerichtet,
das andere auf den großen Baumstamm, der gestern Abend in der Dunkelheit
verborgen gewesen war. »Wow! Was ist das für ein Baum?«
»Pappel«, sagte ich und schloss ekstatisch die Augen, als ich in das Würstchen biss. Der Stamm war knapp zwanzig Meter lang. Er war noch um einiges
länger gewesen, ehe Jamie Holz vom oberen Ende als Bau- und Brennholz benutzt hatte. »Dein Großvater sagt, der Baum war vermutlich über dreißig Meter hoch, als er umgestürzt ist.«
Mandy versuchte, auf den Stamm zu klettern; Jem half ihr lässig nach, dann
beugte er sich vor, um der Länge nach über den Stamm zu blicken, der zum
Großteil glatt und hell war, hier und dort aber Rindenreste und seltsame Wäldchen aus Pilzen und Moos wie Schuppen trug.
»Ist er in einem Sturm umgeweht worden?«
»Ja«, sagte ich. »Ein Blitz war in den Wipfel eingeschlagen, aber ich weiß
nicht, ob ihn dasselbe Unwetter auch zu Fall gebracht hat. Möglich, dass er
durch den Blitz abgestorben ist und der nächste große Sturm ihn umgeweht hat. Wir haben ihn so gefunden, als wir zurückgekommen sind. Mandy, pass
auf!«
Sie hatte sich hingestellt und lief über den Stamm, die Arme ausgebreitet wie
eine Kunstturnerin, einen Fuß vor den anderen. Der Stamm hatte an dieser
Stelle einen Durchmesser von gut anderthalb Metern; es war reichlich Platz
darauf, aber es würde einen ordentlichen Plumps geben, falls sie hinunterfiel.
»Hier, Schätzchen.« Roger, der sich neugierig die Baustelle angesehen hatte,
kam herüber und pflückte sie vom Stamm. »Warum gehst du nicht mit Jemmy
Holz für Omi sammeln? Wisst ihr noch, wie gutes Brennholz aussieht?«
»Aye, na klar«, sagte Jem mit überlegener Miene. »Ich zeige es ihr.«
»Ich weiß allein!«, sagte Mandy und funkelte ihn an.
»Du musst auf Schlangen aufpassen«, sagte er zu ihr.
Augenblicklich vergaß sie ihre schlechte Laune und war hellwach.
»Will eine Schlange sehen!«
»Jem …«, begann Roger, doch Jemmy verdrehte die Augen.
»Ich weiß, Pa«, sagte er. »Wenn ich eine kleine finde, darf sie sie anfassen,
aber nicht, wenn sie Rasseln hat oder Watte im Maul.«
»Oh, Jesus«, murmelte Roger und sah ihnen nach, als sie Hand in Hand davongingen.
Ich schluckte den letzten Fladenrest, leckte mir süße Marmelade aus dem
Mundwinkel und sah ihn mitfühlend an.
»Als ihr das letzte Mal hier wart, ist auch niemand gestorben«, rief ich ihm
ins Gedächtnis. Er öffnete den Mund, um zu antworten, schloss ihn aber wieder, und ich erinnerte mich. Mandy war letztes Mal beinahe gestorben. Was
auch immer sie also jetzt zur Rückkehr bewegt hatte, es musste …
»Schon gut«, sagte er entschlossen, als er meine Miene sah, die ausgesprochen besorgt sein musste. Er lächelte ein wenig und nahm mich beim Ellbogen,
um mich in den Schatten meines Behandlungszimmerchens zu ziehen.
»Es ist okay«, sagte er und räusperte sich. »Uns geht’s gut«, fügte er hinzu,
diesmal lauter. »Wir sind alle hier und gesund. Im Moment ist das alles, was
zählt.«
»Also gut«, sagte ich nicht besonders beruhigt. »Ich werde nicht fragen.«
Darüber lachte er, und das Spiel von Licht und Schatten ließ sein angestrengtes Gesicht wieder jung aussehen. »Wir werden es euch erzählen«, versicherte
er mir. »Aber das meiste ist eigentlich Briannas Geschichte. Ich frage mich, was
sie wohl jagen, sie und Jamie?«
»Vermutlich jagen sie sich gegenseitig«, sagte ich lächelnd. »Setz dich.« Ich
berührte seinen Arm und drehte ihn dem hohen Hocker zu.
»Gegenseitig?« Er machte es sich auf dem Hocker bequem und zog die Füße
unter den Sitz.
»Manchmal weiß man nicht, was man sagen soll, wie man miteinander reden soll, wenn man einen Menschen lange nicht gesehen hat – vor allem, wenn
es ein Mensch ist, der einem viel bedeutet. Es dauert eine Weile, bis man wieder
unbefangen miteinander umgeht; leichter, wenn man eine Aufgabe hat. Lass
mich einen Blick auf deinen Hals werfen, ja?«
»Du fühlst dich also noch nicht unbefangen, wenn du mit mir redest?«, fragte er scherzhaft.
»Oh, doch«, versicherte ich ihm. »Ärzte haben nie ein Problem damit, mit
Menschen zu sprechen. Erst einmal sagt man ihnen, dass sie sich ausziehen
sollen, damit ist das Eis gebrochen. Bis man damit fertig ist, an ihnen herumzustochern und ihnen in die Körperöffnungen zu schauen, ist das Gespräch normalerweise recht lebhaft, wenn auch nicht unbedingt entspannt.«
Er lachte, doch seine Hand packte unbewusst nach dem Halsband seines
Hemdes und zog den Stoff zusammen.
»Ehrlich gesagt«, sagte er um eine ernste Miene bemüht, »sind wir nur wegen der kostenlosen Kinderbetreuung hier. Wir sind in den letzten vier Monaten nie mehr als zwei Meter von den Kindern entfernt gewesen.« Er lachte,
verschluckte sich aber ein bisschen, und es endete in einem kleinen Hustenanfall.
Ich legte meine Hand auf die seine und lächelte. Er erwiderte das Lächeln –
jedoch weniger entschlossen als vorhin. Dann zog er die Hand fort, knöpfte
sich schnell das Hemd auf und zog den Stoff von seinem Hals fort. Er räusperte
sich krampfhaft.
»Keine Sorge«, sagte ich. »Du hörst dich viel besser an als beim letzten Mal.«
Das war tatsächlich der Fall, und es überraschte mich sehr. Seine Stimme
klang nach wie vor gebrochen, krächzend und heiser – doch er sprach viel weniger angestrengt und sah nicht mehr so aus, als ob ihn diese Anstrengung
unablässig schmerzte.
Roger hob das Kinn, und ich streckte vorsichtig die Hand aus und legte ihm
die Finger just unterhalb des Kiefers um den Hals. Er hatte sich gerade rasiert;
seine Haut war kühl und etwas feucht, und ich fing einen Hauch der Rasierseife
auf, die ich für Jamie zubereitete und die nach Wacholderbeeren duftete; Jamie
musste sie ihm heute Morgen gebracht haben. Ich war gerührt von der Förmlichkeit, die in dieser kleinen Geste lag – und noch mehr rührte mich die Hoffnung in Rogers Augen. Hoffnung, die er zu verbergen versuchte.
»Ich bin einem Arzt begegnet«, sagte er schroff. »In Schottland. Hector MacEwen war sein Name. Er war … einer von uns.«
Meine Finger erstarrten, genau wie mein Herz.
»Ein Reisender, meinst du?«
Er nickte. »Ich muss dir von ihm erzählen. Was er getan hat. Aber das kann
ein wenig warten.«
»Was er getan hat«, wiederholte ich. »Mit dir, meinst du?«

 

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