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Kurzgeschichte: Tausend Türen

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Haustiere zu halten, ist für uns eine ganz normale Sache. Aber was wäre, wenn eine außerirdische Spezies das genauso hielte und einen Menschen in einen kleinen Käfig stecken würde? In der PAN-Kurzgeschichte im Januar greift Agga Kastell genau diesen Gedanken auf und spinnt einen phantastischen Gedankengang darum.

1

Brosko stampfte mit dem siebten Tentakel auf.

„Ich will kein Haustier! Nur weil alle anderen so dringend eines haben wollen, heißt das nicht, dass ich auch eins kriegen muss.“

„Brosko.“ Die Stimme des Vaters klang resigniert. „Du kannst dich nicht für immer in deinem Haupttank einschließen, auf deinen Scrivern herumdaddeln und Schnickschnack erfinden, den kein Olosko braucht. Du musst endlich lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ein Haustier ist dafür genau das Richtige.“

Brosko senkte den Kopf, Feuchtigkeit tropfte aus seinen acht Oculi.

„Was ist denn jetzt? Sei nicht so unbeherrscht, Brosko, deine Absonderungen sind besorgniserregend. Die Oculi eines Olosko nässen nicht einfach so. Ist dir die Atmosphäre zu trocken oder war die chemische Zusammensetzung in deinem Schlaftank falsch eingestellt?“

 „Was ist, wenn ich es kaputt mache?“ Broskos Stimme bebte. „Sogar meine Hagaariis sind eingegangen.“

„Weil die Luftbefeuchter ausgefallen sind, Brosko. Plantae können sich nun mal nicht so leicht an klimatische Veränderungen anpassen. Ein Haustier ist da viel flexibler.“

„Hilfst du mir bitte, damit es nicht sofort eingeht? Wenigstens in der ersten Zeit? Bitte!“

Der Vater seufzte.

„Na gut. Aber nur einmal am Standardtag und nur ein Solarzehnt lang.“

„Vater, können wir ein Portal zu der Tierhandlung öffnen? Bitte! Portale sind so toll!“

Die Radula des Vaters wurde zu einem dünnen Strich, Brosko hörte die Bezahnung knirschen.

„Du benimmst dich wie ein Kleinfisch, Brosko. Du weißt, dass uns ein Portal viel zu viel Energie kostet. Wir sind in der Nähe. Wir fliegen.“

Der Vater hatte alle Tentakel voll zu tun, das Raumschiff sicher am Hangar anzudocken. Er schaffte es mit nur einem kleinen Rumms.

2

Der Xylaver hinter dem Tresen war so jung, dass ihm sein Pony gerade über Stirn und Ohren reichte.

„Willkommen.“ Er wies auf die im Raum verteilten Kuben, Kästen und Käfige. „Sehen Sie sich um. Viel Auswahl gibt es leider nicht. Gestern hatten wir eine Schulklasse vom Ichtyon hier, die haben uns ausgeplündert.“

Brosko ging an den Behältnissen entlang, die meisten davon waren leer. Einhorn stand auf dem Schild am Käfig eines Tieres mit lediglich vier Tentakeln und einer Spirale auf dem Kopf. Und darunter: Magische Fähigkeit: Erfüllt Herzenswünsche. Der Pilosk hatte sechs Beine und fand verlorene Gegenstände. Der Moleskin konnte im Dunkeln sehen und lockerte Erdreich auf. Der Dalvar konnte fliegen, war aber so winzig, dass er auf die Spitze von Broskos Tentakel passte.

„Wächst der noch?“, fragte Brosko den Verkäufer.

Der Xylaver drosch unter der Theke wild auf einem Scriver herum. Das Spiel fesselte seine Aufmerksamkeit so, dass er, ohne aufzusehen, den Kopf schüttelte. Die verhornten Enden der vier Tentakel seines Ponys flogen ihm um die Stirn. Brosko beneidete ihn. Er durfte bei der Arbeit daddeln!

„Und was ist mit dem? Was kann das?“

Das Tier hatte vier winzige Tentakel, war ein Viertel so groß wie Brosko und sehr dünn. Aus dem Kopf wuchs ihm eine braune Masse von Fäden, die sich unansehnlich verknäulten. ,Humanoid‘ stand auf dem Schild, sonst nichts.

„Dazu kann ich wenig sagen. Wir haben die Gattung erst seit Kurzem im Angebot und wissen kaum was darüber.“

„Heißt das, Sie bieten ein Tier an, das möglicherweise gefährlich ist?“, fragte der Vater empört.

Das Pony auf dem Kopf des Xylavers wieherte. Endlich blickte der Xylaver auf.

„Bitte keine negativen Schwingungen“, sagte er. „Sonst geht mir der Gaul durch. Der Humanoid ist völlig harmlos. Er hat weder Klauen noch Stacheln, kann kein Feuer spucken oder bedrohlich werden. Er ist sehr reinlich, falls man ihm die entsprechenden Pflegemittel zur Verfügung stellt und erzeugt niedliche Töne, wenn er sich putzt.“

„Was frisst er?“

„Plantae aller Arten, gepresstes Trockenfutter und sogar Fleisch. Recht pflegeleicht, das gute Tier.“

„Ist es ein Männchen?“

Der Xylaver legte den Scriver auf den Tresen, ging zum Käfig, öffnete die Tür und fasste das Tier um die Mitte. Das Tier strampelte mit seinen vier Extremitäten und gab laute Geräusche von sich.

„Putzig, oder?“

Der Xylaver spreizte die Beine des Humanoiden, wuschelte das spärliche Fell beiseite und nickte: „Es ist das Trägertier, in eurer Kultur also männlich. Die Jungen reifen im Inneren des Körpers und werden durch eine dehnbare Öffnung herausgepresst. Irre, oder?“

„Igitt“, sagte Brosko.

„Die Männchen tragen Nährbeutel für ihre Nachkommen am Körper, an denen man sie erkennen kann. Die hier sind ziemlich klein.“

Der Xylaver drückte auf den kleinen Nährbeutel des Humanoids. Das Humanoid quiekte.

„Ist es normal, dass es so farblos ist?“

„Die gibt es in vielen Schattierungen von Weiß bis Schwarz. Die Bleichen sind die selteneren.“

Der Xylaver stellte das Humanoid zurück in den Käfig. Es hielt sich das Ende eines oberen Tentakels vor den Leib. Fasziniert beobachtete Brosko, wie helle Tropfen aus seinen beiden Oculi quollen.

„Ich will es haben“, sagte er.

„Aber es kann doch nichts“, sagte der Vater.

„Dann ist es auch nicht so schlimm, wenn es eingeht.“

3

Sobald Brosko seinen Haupttank betrat, flüchtete das Humanoid in sein Häuschen. Das Dach der Hütte konnte Brosko auf durchsichtig stellen, aber das mochte das Tier gar nicht. Es versteckte sich im Stroh und zitterte. Brosko brachte ihm morgens und abends Futter und fand heraus, dass es Früchte besonders gerne fraß. Es hob die Obststücke aus der Futterschüssel, wusch sie im Wassernapf und nagte dann an ihnen herum. Als sie mit dem Raumschiff durch einen Sonnensturm flogen, verhängte Brosko das Gitter des Käfigs mit einem alten Stofffetzen für die Maschinenreinigung, um das Tier vor dem intensiven Licht zu schützen. Das Tier zog den Lappen hinein und wickelte ihn um seinen Leib. Irgendwie schien es sich mit dieser zusätzlichen Hülle wohler zu fühlen. Schaltete Brosko seine Scriver an, stand das Tier auf den zwei unteren Tentakeln am Gitter, die oberen Extremitäten umklammerten mit den kurzen, fünfteiligen Auswüchsen die Käfigstäbe. Es verfolgte, was sich auf den Bildschirmen tat. Brosko vermutete, dass es die bewegten Bilder waren, die das Tier interessierten. Es verstand nichts von dem, was es sah. Es artikulierte sich mit rauen, bellenden Lauten und sonderte ziemlich oft Wasser aus seinen Sehorganen ab. Bei den Olosko galten nässende Oculi als Zeichen von Krankheit und somit Schwäche. Aber das Humanoid schien weder krank zu sein, noch sich dafür zu schämen.

„Du scheinst dich gut um dein Haustier zu kümmern“, sagte der Vater am Ende des Solarzehnts. „Es ist scheu, aber wenigstens frisst es. Glücklicherweise verträgt es unser Raumschiff und das Weltall. Achte ein wenig mehr auf Sauberkeit.“

Er griff nach der kleinen Bürste, mit der Brosko die Regler des Scrivers reinigte, fegte über die Stangen des Geheges und legte sie auf dem Dach des Käfigs ab.

„Gut gemacht, Brosko“, sagte er beim Hinausgehen.

„Danke, Vater.“

„Gut gemacht, Brosko“, wiederholte Brosko erfreut, als sich die Tür zischend geschlossen hatte. Seine Farbe wechselte vom üblichen Blau zu einem stolz pulsierenden Grün.

„Gutt gematt, Brrrosko“, sagte das Tier.

„Was?“

 Brosko drehte sich überrascht zum Käfig.

Das Humanoid, die Auswüchse um die Gitterstäbe geklammert, wiederholte: „Gutt gematt, Brrrosko.“

„Guuut gemachchchcht, Broooskooo“, sagte Brosko langsam und überdeutlich.

„Gut gemacht, Brosko“, sagte das Tier.

Das gab‘s doch nicht! Seit wann konnte das Tier sprechen? Oder war das nur ein Zufall?

„Scriver“, sagte Brosko.

„Schriver“, plapperte das Humanoid.

Es brauchte ein, zwei Wiederholungen, damit das Tier die richtige Betonung lernte. Dann sprach es die Worte fehlerfrei nach.

„Brosko“, sagte Brosko und wies mit der Spitze eines Tentakels auf sein Gesicht. Es dauerte, bis das Tier begriff, dass er damit nicht seine bezahnte Radula meinte. Als es endlich zu verstehen schien, zeigte Brosko durch die Käfigstäbe auf das Tier und sagte: „Humanoid.“

Das Tier legte das obere Drittel seines Gesichts in Falten und hielt den Kopf schief. Dann schüttelte es den Schädel, dass die wirren, braunen Fäden hin und her wogten.

„Azra“, sagte es und stieß sich mit einer Ausstülpung seines oberen Tentakels gegen die Brust. „Azra.“

4

Brosko und sein Vater trafen sich um einsachtpunktnullnull Sternzeit in der Mensa, um eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Sie saßen um das Aquarium und fischten nach Algen und Plankton. Als der erste Hunger gestillt war, sagte Brosko: „Vater, ich glaube, das Tier kann sprechen.“

„Du meinst, es kann Laute wiederholen, die du ihm vorgesagt hast? Das soll bei einfachen Lebensformen gar nicht so selten sein, besonders bei solchen mit Flügeln. Sie plappern nach, was sie hören.“

„Es hat mir seinen Namen gesagt. Es heißt Azra.“

„Sprichst oder singst du vor dich hin, wenn du auf deinem Scriver spielst? Da brauchst du doch nicht gelb zu werden, das macht jeder. Siehst du, es hat ein paar Laute aufgeschnappt und zu einem Wort geformt. Es ist eine niedere Lebensform mit einem winzigen Gehirn, zu keinem Gedanken fähig, der über die notwendigen Bedürfnisse wie fressen und schlafen hinaus geht. Aber wenn es dir zu gefallen versucht, hat es wohl Vertrauen gefasst. Gute Arbeit, Brosko.“

An diesem Abend verzichtete Brosko aufs Zocken. Er loggte sich in die Datenbank des Raumschiffs ein und suchte unter dem Stichwort ‚Humanoid‘. Es war so anstrengend, als würde er auf dem finstersten Meeresgrund nach Plankton fischen. Wäre er durch das Spielen nicht daran gewöhnt gewesen, endlos nach Auswegen und weiteren Möglichkeiten zu suchen, hätte er bald aufgegeben. Die Humanoiden hatten vier Tentakel und einen kugeligen Kopf. Die oberen Extremitäten hießen Arme, die Auswüchse daran Hände. Sie zeichneten sich durch den opponierbaren Daumen aus, der einen Pinzettengriff ermöglichte und ihnen zu großer Geschicklichkeit verhalf. Zum Überleben benötigten sie Sauerstoff, sauberes Wasser und bestimmte Temperaturen, waren also nur bedingt anpassungsfähig. Sie lebten in Galaxien, die Brosko nicht kannte. Keine Beschreibung der diversen humanoiden Spezies traf exakt auf sein Tier zu. Brosko gähnte und drehte sich zum Käfig. Das Humanoid, Azra, stand am Gitter und hatte vier Auswüchse um die eine Seite der Stange und einen andersherum gelegt. Dieses winzige Ding, kürzer und dicker als die anderen, war also der opponierbare Daumen.

„Warm brauchst du es, um dich wohlzufühlen“, sagte Brosko und musterte den alten Lappen, den das Tier trug.

Obwohl er todmüde war, brachte er aus der Mensa erhitztes Wasser in einem tieferen Napf und goss einen Schuss Pflegemittel hinein. Azra betrachtete mit großen Oculi die Dampfschwaden.

„Danke, Brosko,“ sagte er.

5

Als Brosko aus dem Schlaftank kroch, der über Nacht die Feuchtigkeit seiner Haut regulierte, roch es im Haupttank sehr angenehm. Azra stand am Gitter und kämmte mit der Bürste, die der Vater auf dem Käfig liegen gelassen hatte, seine Kopffäden, bis sie glatt herunterhingen und schimmerten. Der alte Lappen um seinen Körper wirkte sauberer.

„Guten Morgen, Azra.“

„Guten Morgen, Brosko.“

Brosko bastelte nach dem Frühstück an einem Geschirr. Als er fertig war, öffnete er aufgeregt den Käfig. Zögernd kletterte Azra aus dem Gehege. Er blieb vor der offenen Gittertür stehen und betrachtete die Schnüre, die Brosko um das Ende seines Tentakels gewickelt hatte.

Brosko warf die Leine über Azras Kopf und zog die Schlaufe zu. Azra schrie und versuchte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er zog und zerrte mit Händen und Armen und stieß keuchende Laute aus. Er fiel auf den Hintern und rutschte im Eifer des Gefechts über den Rand der Ablage, auf der sein Käfig stand. Bevor er unsanft auf den harten Boden knallte, riss Brosko die Leine hoch. Azra wurde in die Luft geschleudert, seine Beine strampelten in alle Richtungen, die Hände umklammerten das Seil unter dem Kopf, der sich dunkelrot färbte. Erschrocken ließ Brosko das Geschirr los. Azra klatschte auf den Boden und rührte sich nicht.

Brosko pulte mit Mühe die Schnur auf und zog sie über Azras Kopf. Sanft pochte er mit dem Tentakel auf seine Brust. Azra hustete und keuchte, wälzte sich auf alle viere und verschwand blitzschnell hinter der Wandverkleidung.

Fischdung.

Wie sollte Brosko seinem Vater erklären, dass das Tier aus dem Käfig entkommen war? Es war klein genug, um durch Rohre und Schächte zu klettern, und konnte, flink wie es war, mittlerweile überall sein. Er hatte Azra verloren! Seine blöden Oculi nässten. Er wickelte einen Tentakel um den Kopf, um sein Gesicht zu verbergen. Sein Vater hatte recht. Nichts bekam er richtig hin. Sogar wenn Brosko ernsthaft etwas wollte, brachte er nichts zustande. Er war ein verantwortungsloser Totalversager.

Ein Zupfen an seinem Tentakel veranlasste Brosko, diesen zu senken. Azra war an seinen Extremitäten hochgeklettert, hielt den Saum seines Wickellappens im Pinzettengriff, tupfte an Broskos feuchten Oculi herum und machte Geräusche.

„Azra!“

Brosko hätte am liebsten alle acht Tentakel um das Tier geschlungen, befürchtete aber, es damit zu ersticken. Stattdessen schoss die Nässe aus seinen Oculi, als wären sie übersprudelnde Quellen. Ruckzuck war Azras Lappen klatschnass. Als sich Brosko beruhigt hatte, rutschte Azra an ihm herunter, griff nach der Leine, schlang sie sich um die Leibesmitte und streckte ihm das lose Ende entgegen. Brosko sah, dass er sich mühelos aus der Schlinge befreien konnte, doch es war ihm egal. Er würde Azra nicht noch einmal zu etwas zwingen, was dieser nicht wollte, nur weil Brosko es gut mit ihm meinte. Er hielt den Riemen, ohne daran zu zerren, in einem Tentakelende und wartete an der Tür, bis Azra mit seinen kurzen Beinen zu ihm aufgeschlossen hatte.

Im Gang des Raumschiffs hatte Brosko die Abdeckungen für die herausstehenden Bolzen zurechtgelegt, mit denen die Wandverkleidung am Rahmen befestigt war. Wenn sein Vater im Inneren des Schiffs Reparaturen ausführte, war es Broskos Aufgabe, die Verkleidungen vorher abzunehmen und danach wieder anzubringen. Die Bolzen heraus- und hineinzudrehen, war für Broskos Tentakel eine Herausforderung. Doch nach getaner Arbeit die halbkugeligen Schutzabdeckungen darüber zu befestigen, entartete zu einer Geduldsprobe. Ständig rutschten sie ihm aus den Tentakelenden und kullerten den Flur entlang. Benutzte er seine Saugnäpfe, war es reines Glück, wenn er die Einrastnuten traf. Also machte er es sich einfach und ließ die Abdeckungen weg. Deshalb ratschten sich er und sein Vater immer mal wieder die Haut an den herausstehenden Bolzen auf, wenn sie bei unruhigem Flug im Gang herumgeschleudert wurden.

Azra begriff das Problem sofort. Er hielt die Schutzabdeckung, die fast so groß war wie sein Kopf, in beiden Händen mit den opponierbaren Daumen fest, drehte und wendete sie vor der Verkleidung, bis er die passenden Nuten gefunden hatte, und ließ sie hörbar einrasten. Bis zum Abend hatte Azra fünf Gänge gesichert und Brosko hatte nicht viel mehr zu tun gehabt, als hinter ihm herzulaufen und ihn zu beobachten. Er stellte Azra erneut eine tiefe Schale mit heißem Wasser und Pflegemittel in den Käfig.

„Gut gemacht, Azra.“

„Danke, Brosko.“

„Du hast endlich die Gänge mit den Abdeckungen gesichert?“, fragte Broskos Vater um einsachtpunktnullnull bei der Mahlzeit in der Mensa, während sein Tentakel eifrig im Trüben fischte.

„Azra hat mir dabei geholfen“, sagte Brosko.

„Wer ist Azra?“

„Mein Haustier. Ich habe dir erzählt, dass ich es Azra genannt habe.“

Der Vater lachte.

„Ich finde es toll, wie sehr du dich um deinen Vierbeiner kümmerst. Siehst du, ich hatte recht, es war genau das Richtige für dich. Aber du solltest ihn nicht veroloskosieren. Wie hat er dir geholfen? Hat er Männchen gemacht und deinen Tentakel geleckt?“

„Er hat die Abdeckungen befestigt. Humanoide haben opponierbare Daumen. Damit können sie Gegenstände viel besser festhalten als wir Olosko mit unseren rutschigen Tentakeln. “

„Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe. Zum Glück hält dich das Tier nicht vom Zocken ab. Sonst müsste ich mir glatt Gedanken darüber machen, ob die Tinte in die falsche Richtung gespritzt ist.“

Broskos eigentliche Arbeit fing nach dem Abendessen an. Sein Vater musste nicht wissen, dass er den Energielevel nicht zum Zocken brauchte. Brosko war fest entschlossen herauszufinden, woher Azra stammte und was es über seine Spezies zu lernen gab. In den anthropologischen Foren und Antik-Museen fand er nichts. Er schrieb mehrere völkerkundliche Wissenschaftler an, doch die ließen sich Zeit mit ihren Antworten.

6

Broskos Vater hatte sich mit seinen eigenen Oculi davon überzeugt, wie geschickt Azra im Umgang mit filigranem Werkzeug war. Er war bereits dazu übergegangen, Azra kleinere Aufträge zu übertragen, die er nach kurzer Zeit nicht einmal mehr überwachte. Er ließ ihn Gewinde reinigen, Schrauben sortieren und seine kostbaren Druckstifte mit Minen befüllen, die zwar recht dünn, aber lang genug waren, dass Azra beim Heben mehrmals das Gleichgewicht verlor. Zuerst störte es Brosko, wie sehr der Vater Azra mit Beschlag belegte. Azra war sein Haustier. Er hatte sich um ihn gekümmert, ihn versorgt und am Leben gehalten. Dann bemerkte er, wie gut es Azra damit ging, beschäftigt zu sein.

Am erstaunlichsten waren Azras Fortschritte mit der Olosko-Sprache. Er schnappte vieles von dem auf, worüber sich Vater und Sohn unterhielten und verwendete es dann in einem anderen Zusammenhang, sodass sogar der Vater eine gewisse rudimentäre Intelligenz nicht mehr ausschloss. Seine Vorbehalte brachten Brosko zur Weißglut.

„Was ist, wenn Azra ein selbstständig denkendes Lebewesen ist, das sich uns deshalb nicht mitteilen kann, weil er weder unsere noch wir seine Sprache sprechen?“, fragte Brosko. „Was ist, wenn er ein hochentwickelter Organismus ist, den wir nur nicht verstehen, weil wir seine Lebensbedingungen nicht kennen?“

„Du siehst zu viele von deinen Zukunftsfilmen“, antwortete der Vater. „Dass es Azra leichter fällt als dir oder mir, einen Stift mit einer Mine zu befüllen, heißt nicht, dass er Raketenwissenschaft versteht. Du übertreibst. Er hat einen kleinen, körperlichen Vorteil, mehr nicht.“

Brosko war anderer Ansicht. Er entsorgte die Leine und ließ die Käfigtür offen. Jetzt saß das Tier oft auf seinem angewinkelten Tentakel, wenn er nachts den Scriver nach Informationen über die Humanoiden durchscrollte, bis Azra sich mit weit aufgerissener Radula, aus der seltsame Geräusche kamen, in das Haus in seinem Käfig trollte. Brosko sorgte weiterhin so gut für ihn, wie er konnte, brachte tiefe Schalen mit heißem Wasser und beschaffte saubere Lappen und dünne Schnüre, mit denen Azra den Stoff um seine Mitte binden konnte.

 

Sieben seiner Augen waren Brosko bereits zugefallen und das achte stand nur noch auf Halbmast. Es war erstaunlich, dass er den Link nicht überblättert, sondern rein mechanisch daraufgeklickt hatte, wie auf die 12.281 Links davor.

„Azra! Azra!“ Brosko schlug gegen die Gitterstäbe der Behausung. Als das nichts half, quetschte er einen Tentakel in den Käfig und trommelte auf das Dach des Häuschens. „Ich habe etwas entdeckt.“

Azra kroch verschlafen aus seiner Hütte, klammerte sich an Broskos Tentakel fest und ließ sich herausheben. Als er das Bild auf dem Scriver sah, wurde er ganz starr. Dann zitterte er, sein Schlund öffnete sich und ein hoher, spitzer Schrei erfüllte den Raum.

Für Brosko sah das Wesen auf dem Scriver genauso aus wie Azra. Ein weißer Kopf mit langen, braunen Fäden daran, Beine, Arme und Körper umhüllt von einem unförmigen, silbernen Stoff, die eine Hand um eine silberne, kugelförmige Kopfbedeckung geklammert, die Finger der anderen in der Luft gespreizt. Die Radula war so breit auseinandergezogen, dass man die Bezahnung sah. Zwei weitere Humanoide flankierten die Seiten. Sie waren größer, dunkler und ihre Kopffäden viel kürzer. Es dauerte ewig, bis der Translator den Text in oloskisch transkribiert hatte. Einige Worte fehlten, andere kannte Brosko nicht.

„Bemannte Raumfahrt zur großen magellanischen Wolke ... Von der Erde aus ... Abenteuer für die Menschheit ... Frau und zwei Männer ... Raumschiff Galaxy ... 150.000 Lichtjahre ... Raum-Zeit-Krümmung ...“

Brosko scrollte weiter. Nach etlichen Berichten über den Flug der Galaxy brach im vierten Jahr – was war ein Jahr? – der Kontakt zu den Raumfahrern ab. Das Raumschiff galt als verschollen. Wo befand sich die magellanische Wolke? Was war die Erde? Und wer nannte sich Menschheit? Endlich hatte Brosko Begriffe, mit denen er arbeiten konnte.

7

„Vater, bitte, wir müssen Azra zurückbringen. Sein Volk heißt Menschen, sein Planet ist die Erde. Sein Raumschiff war die Galaxy und er ist so intelligent wie wir.“

„Niemand ist so intelligent wie wir, Brosko, beruhige dich. Du weißt ja nicht einmal, wohin wir ihn bringen können.“

Brosko reichte seinem Vater das Stück Metall, auf dem Azra eine rudimentäre Sternenkarte gezeichnet hatte.

„Hast du ihm dafür etwa meinen Druckstift gegeben? Darüber reden wir noch, Sohn. Und wer soll aus dem Gekritzel schlau werden?“

„Dein Bordcomputer schafft mehr Übertragungseinheiten als mein Scriver. Bitte, Vater, bitte.“

„Vielleicht war das mit dem Haustier doch keine so gute Idee“, murmelte der Vater, während er widerwillig Koordinaten eintippte. „Hätte nie gedacht, dass du dich dermaßen für irgendetwas einsetzen könntest.“

Eine halbe Standardzeit später zeigte der Viewer Sternenbilder mit Zahlen und Daten und einen kleinen blauen Punkt, von einem gelb blinkenden Kreis eingerahmt. Brosko ließ alle acht Tentakel hängen.

„Das tut mir leid“, sagte der Vater. „Eine andere Galaxie wäre kein Problem, wenn wir unterwegs in einer bekannten Zivilisation Vorräte tanken könnten. Aber unbekannte Gefilde in dieser Entfernung? Brosko, das schafft unser altes Raumseegurkenschiff nicht. Wenigstens hat dein Mönsch ein Herrchen, das sich gut um es kümmert.“

„Es heißt Mensch“, sagte Brosko niedergeschlagen. „Danke, Vater.“

Brosko war noch nie so lange orange gewesen. Er vernachlässigte seine täglichen Pflichten und zog sich mit Azra in seinen Haupttank zurück, wo sie nach Bildern und Berichten von der Erde suchten. Jedes Mal freute sich Azra über neue Dokumente, jedes Mal nässten danach seine Oculi. Brosko hätte ihm so gerne geholfen, doch über heißes Wasser und leckere Fruchtstücke hinaus wusste er nicht, wie. Es gab keine Möglichkeit, Azra zurück auf seinen Planeten und zu seinem Volk zu bringen. In dieser Nacht wälzte sich Brosko ruhelos in seinem Schlaftank. Er träumte von dem Xylaver aus der Tierhandlung. Die verhornten Tentakelenden seines Ponys wedelten in alle Himmelsrichtungen und es wieherte: „Da geht der Gaul durch.“

8

„Brosko, du siehst schrecklich aus. Orange ist nicht die Farbe, die sich ein Vater für sein Kind wünscht.“

„Ich habe schlecht geschlafen“, sagte Brosko. „Vater, ich weiß, es kostet uns lebenswichtige Energie, doch wir müssen ein Portal zur Tierhandlung öffnen. Die Tierhandlung kann von jedem Punkt des Universums aus betreten werden. Also gibt es dort auch einen Durchgang zu dem Planeten, von dem Azra stammt.“

Der Vater riss alle acht Oculi auf. Seine Hautschuppen wurden grün.

„Brosko! Das ist eine überaus kluge Idee! Ich wusste, irgendwann ist es soweit, und du benutzt deinen Hirntang zum Denken statt zum Daddeln. Die Sache hat nur einen Saugnapf.“

„Ich weiß“, sagte Brosko. „Wir können den Energielevel nicht lange genug halten, um ständig hin und her zu wechseln. Deshalb bleiben Azra und ich in der Tierhandlung, bis wir die richtige Pforte gefunden haben.“

„Dazu brauchst du die Genehmigung des Xylavers, falls er dort überhaupt noch arbeitet.“

Brosko hielt sechs Tentakel hoch. In jedem steckten drei seiner heißgeliebten Spiele.

„Die müssten für sein Einverständnis reichen.“

„Du opferst die Spiele für dein Haustier? Wenn du was machst, dann aber gründlich.“ Der Vater seufzte. „Was ist mit dem nächtlichen Feuchtigkeitsausgleich in deinem Schlaftank? Deine Haut wird leiden.“

„Ich werde mich mit Flüssigkeit begießen. Ich bin jung, meine Haut hält das aus.“

„An deinem Plan ist nichts auszusetzen, Brosko, du hast dir alles gut überlegt. Ich gebe dir zwölf Standardtage. Länger reichen weder unsere Energiereserven noch unsere Vorräte. Danach öffne ich erneut das Portal vom Schiff aus, damit du nicht zusätzlich nach unserer Tür suchen musst.“

„Danke, Vater.“

9

Brosko presste Azra mit vier Tentakeln an sich und schritt durch das Portal. Als Azra sah, wo sie gelandet waren, schrie er auf und klammerte sich an Brosko. Der ließ Azra gewähren, bis er sich beruhigt hatte.

Der Xylaver war noch da und strahlte bei Broskos Vorschlag über das ganze Gesicht.

„Was? Geneva Attack eins, zwei und drei?“ Sein Pony schlug vor Begeisterung die Hufe aneinander. „Ihr dürft bleiben, solange ihr wollt. Nehmt euch einen freien Käfig oder knäult euch in eine Ecke. Mek und H2O gibts umsonst. Die Pforten sind da hinten, ihr könnt sie nicht verfehlen. Ich muss dann mal woanders ...“

Je mehr Türen sie aufmachten, desto mehr Durchgänge flimmerten auf, als hätten sie auf Besucher geradezu gewartet. Jedes Mal, wenn Azra den Kopf schüttelte, schlug Brosko das Portal zu und öffnete das nächste. Manche Tore schloss er sofort wieder, die herauswabernde Atmosphäre war für ihr Atemsystem unerträglich. Andere Sternenkörper waren so interessant, dass Brosko sie gerne länger studiert hätte. Doch dafür fehlte die Zeit.

Am späten Abend schwirrte Brosko der Kopf von all den Welten, die sie gesehen hatten. Azra war so erschöpft, dass er sofort einschlief, die Arme um einen von Broskos Tentakeln geschlungen. Seine Nähe tröstete ihn über die fehlende Feuchtigkeit seines Schlaftanks hinweg.

Der zweite Tag brachte weitere Tore und hinter jedem einen Fehlschlag.

„Was machen wir falsch?“, fragte Brosko den Xylaver.

„Die richtige Tür kommt zu dem, der sie braucht“, antwortete der.

Also schob Brosko am dritten Tag Azra vor sich und hob mit dem Tentakel seine Arme an. Azra legte das obere Drittel seines Gesichts in Falten, doch als die Türen zuerst langsam, dann immer schneller auf ihn zu und an ihm vorbei glitten, begriff er.

Brosko beobachtete Azra und zählte die Tore. Die tausendste Tür schwebte heran. Sie blieb vor Azra stehen, als warte sie auf etwas. Azra berührte sie und sie öffnete sich. Die einströmende Luft war sauerstoffreich und die Helligkeit angenehm. Azra schritt durch die Pforte.

Brosko ließ die Tentakel hängen, alle acht so orange wie ein Daskalfisch. Als er seufzte, hörte er sich an wie sein Vater. Das Licht im Portal flimmerte.

Azra kam zu ihm zurück! Azras Oculi nässten ohne Unterlass, er rannte zu Brosko und klammerte seine Arme um dessen Tentakel. Brosko liefen alle acht Oculi über. Er schämte sich kein bisschen dafür. Manche Lebewesen waren eben gefühlsbetonter als andere. Als die Feuchtigkeit aufhörte zu fließen, schob er Azra bis zum Ende seines Tentakels. Er patschte ihm zweimal sanft auf den Kopf, dann hob er ihn durch die Pforte. Es dauerte lange, bis Azra von seinem Tentakel glitt. Brosko zog ihn zurück und schloss die Tür.

 

„Geneva Attack?“, fragte Brosko den Xylaver.

„Immer doch, Alter“, antwortete der und reichte ihm eine zweite Spielkonsole. „Hast du den Kleinen zurückgebracht?“

Brosko nickte.

„Gute Sache, Alter. Ich hasse Käfighaltung. Lebewesen einzusperren ist totaler Fischdung.“

„Warum arbeitest du dann hier?“

„Hab‘ nichts gelernt.“

„Wenn mich mein Vater zurückgeholt hat, fliegen wir nach Meerduneit, der Heimat der Olosko. Dort will ich interspeziäre Kommunikation und stellare Rassenkunde studieren. Es gibt da nämlich einen kleinen, unbekannten Planeten in einer unerschlossenen Galaxie, der die Grundlage für meine Forschungen werden könnte.“

„Dann hast du noch neun Standards, um dich von deinem alten Leben zu verabschieden.“

„Wenn du weiter so beknackt spielst, reicht die Zeit nicht bis Level 3“, sagte Brosko und ballerte geräuschvoll. „Du hast mehr drauf.“

 

Über die Autorin

Agga Kastell ist ein echtes "Rheingauer Mädsche", zwischen Reben, Rosen und Riesling schreibt sie ihre Fantasygeschichten. Ob mit Hilfe eines Totenkopfrings aus dem Kaugummiautomat ein unliebsamer Ehemann verschwindet, ein Schatten zum Mörder wird, ein Einhorn als Amor fungiert oder Amazonen die herrschenden Machtverhältnisse auf den Kopf stellen – ihre Geschichten stecken voller schräger Figuren, absurder Komik und überraschender Plots.

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