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Kurzgeschichte: Scheiß-Geschichte

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Wir wohnen einer Vorlesung über die sogenannte "humane" Kultur bei und lernen einiges über ein Thema, das in unseren Augen (und Badezimmern) kaum als gesellschaftsfähig angesehen werden kann. Aber lest selbst - in der PAN-Kurzgeschichte des Monats aus der Feder von Regina Schleheck.

»In der sogenannten humanen Kultur«, dozierte der Professor, »galten Regeln, die wir unter dem Begriff Botschaften subsumieren. Es gab die sogenannten Ge- und die Verbote, die definierten, was mensch zu tun beziehungsweise zu lassen hatte.«

»Frage!«, rief einer der Studenten.

Der Alte äugte in seine Richtung. »Ja?«

»Wie lange hat diese Epoche gedauert?«

Die Antwort kam nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern. »Ganz exakt können wir es natürlich nicht datieren, weil es keine Überlebenden gibt, die den Prozess von Anfang an hätten beobachten können. Und ich bin der Einzige, der die letzten Exemplare noch erlebt hat. Aber natürlich sind die entsprechenden Erkenntnisse gut verbürgt. Es war kein langer Zeitraum. Wenn ich es für Sie anschaulich machen soll, würde ich sagen: ein paar Fliegenschisse.«

»Danke!« Der Frager rieb sich befriedigt die Hände.

»Der Aspekt ist nicht ganz unwichtig«, hob der Professor wieder an. »Denn auch wenn wir davon ausgehen, dieses Erdzeitalter sei längst überwunden, zeigt die Erfahrung, dass Phänomene wiederkehren, in ähnlicher Gestalt mit abweichendem Verhalten oder in anderer Erscheinung, aber mit identischem Habitus. Zumal alles in der Natur im Fluss ist.«

»Wie kann das sein?«, rief ein anderer Student dazwischen. »Der Fluss ist ein spezielles Biotop, in dem nur bestimmte Lebewesen und Pflanzen beheimatet sind. Wieso sagen Sie: alles?«

»Heilige Scheiße!« Der Professor schien dicht davor, die Fassung zu verlieren. »Es handelt sich um ein Bild! Der Fluss steht dafür, dass alles sich immer verändert, es fließt gewissermaßen von einem Zustand in den nächsten, alles ist immer in Bewegung.«

»Aber wieso steht er für etwas, wenn er fließt? Und es gibt doch auch Phasen der Ruhe, der Starre!«, meldete sich ein weiterer zu Wort.

Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Sie haben es noch nicht erfasst, wie mir scheint. Sie müssen abstrahieren lernen. Es geht um eine Vorstellung. Das ist es, was ich von Ihnen verlange, wenn Sie bei mir etwas lernen wollen.«

Der Angesprochene machte einen Kratzfuß. »Justin Time«, sagte er.

Der Professor starrte ihn an. Dann hob er abwehrend die Hände: »Verehrte Anwesende, stellen Sie sich bitte jede Einzelheit vor, aber nicht sich alle einzeln! Wir wollen nicht bis Ultimo konferieren!«

Zustimmendes Geraune. Große Augen richteten sich erwartungsvoll auf den Vortragenden.

Der räusperte sich. »Die menschlichen Botschaften«, hob er von Neuem an, »wurden oft Abmachungen genannt. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie mit dem Begriff etwas anfangen können?«

Das Kopfschütteln hielt sich mit dem Nicken in etwa die Waage.

Das innere Augenverdrehen des Alten war unüberhörbar, als er sagte: »Nun, dann erkläre ich es lieber gleich, bevor wir aneinander vorbeireden. Wer hier genickt hat, wird möglicherweise dennoch etwas anderes darunter verstehen. Gemeint ist nicht Abmachung in dem Sinne, dass etwas abgemacht wird, etwa ein angetrockneter Speiserest von der Wand. Es ist in dem Sinne zu verstehen, dass zwei Humanoide sich auf ein Ge- oder Verbot einigen –«

»Ei – was?«, rief es von hinten, aber der Gelehrte fuhr dazwischen, ehe der Einwurf ganz ausgesprochen war. »Einigen dürfen Sie bitte nicht verwechseln! Es hat mit dem klassischen Ei nichts zu tun, sondern mit dem Sich-Verständigen. Was wiederum mit Verstand zu tun hat.« Er seufzte.

»Ich versuche, das einmal an einem ganz alltäglichen Beispiel aus dem Spektrum menschlicher Handlungsweisen zu erläutern, anhand dessen ich Ihnen auch gleich darlegen möchte, warum diese Botschafterei vulgo Abmacherei nicht funktionieren konnte, weil sie der menschlichen Natur zuwiderlief. Sie kennen alle die Toilette?«

»Wollen Sie uns verscheißern?«, gab Justin Time zurück.

Der Professor beschloss, alle weiteren Zwischenrufe zu ignorieren.

»Das Prinzip der Toilette ist Ihnen klar, denke ich, auch wenn Sie den Vorgang nicht mehr aus eigener Anschauung kennen«, sagte er. »Die Menschen hatten eine unnatürliche Angst vor den eigenen Ausscheidungen. Daher ließen sie ihre Exkremente in Behältnisse, Toiletten genannt, fallen, die mit unterirdischen Röhren verbunden waren, in die sie die Fäkalien mittels Wasser hinabspülten. Ein Verhalten, das wir von keiner anderen Spezies kennen und das die Koexistenz mit dem selbsternannten Homo sapiens – sagen wir mal: komplizierte.« Er zögerte, vergewisserte sich, dass aller Augenmerk ihm galt, und fuhr dann fort: »Erschwerend kam eine weitere menschliche Macke hinzu: Das geradezu zwanghafte Bedürfnis, sich einzuwickeln, das zu verbergen, was die Menschen nackt nannten: die natürliche Gestalt. Man fertigte aus diversen Materialien spezielle Schutzhüllen, die große Teile des Körpers bedeckten, insbesondere aber die attraktivsten. Was das Gebaren umso unverständlicher machte. Um nun auf die Toilette, vielmehr in das Badezimmer, zurückzukommen, eine Bezeichnung, die oft synonym gebraucht wird, dabei aber das eigentliche Klo als pars pro toto nutzt, was wiederum die hohe Bedeutung der Fäkalienentsorgung für die humanoide Lebensweise belegt: Dies war der Ort, an dem die Hüllen mit schöner Regelmäßigkeit an- und abgelegt oder auch nur herunter- und wieder hochgezogen wurden, oft in schneller Folge, unterbrochen von Ganz- oder Teilkörpernässungen mittels Wasser und von dem sogenannten Wasserlassen – gemeint war das Absondern eigener Körperflüssigkeit, auch Urin genannt, ein Rudiment der Urinstinkte – und dem Stuhlgang.«

»Stuhlgang?«, kicherte ein junges Ding in der ersten Reihe. »Gab es auch Tisch- oder Bettgänge?«

»Bitte!«, rief der Professor. »Bitte versuchen Sie doch, einfach erst einmal die Dinge anzunehmen, die ich Ihnen hier vermitteln möchte! Ich erkläre schon noch eins nach dem anderen! Lassen Sie uns einen Blick zurück in die Toilette werfen. Sie kennen das Papier, was seitlich neben dem eigentlichen Klobecken angebracht ist?«

»Das aufgerollte Holzfasergewebe?«, vergewisserte sich ein junger Mann, der dem Professor schon öfter aufgefallen war. Ein aufgeweckter Bursche, wie es schien. Die wissenschaftliche Elite der Zukunft.

»Genau!« Der Alte lächelte. »Ein weiterer wichtiger Indikator für die Kotphobie der Menschen! Sie bemühten sich mittels dieser speziellen Textur, die Ausscheidungsreste von ihrem Körper rückstandsfrei zu entfernen.«

»Kot?«

Wieder dieser Justin Time! Höchste Zeit, den vorlauten Krakeeler in die Schranken zu weisen!

»Lieber Herr Time«, sagte der Experte süffisant. »Findet sich das Synonym Kacke in der Schnittmenge aus Ihrem und meinem Wortschatz?«

»Alles klar, vielen Dank, Herr Professor.« Justin Time strahlte.

»Gut. Die neben der Toilette angebrachte Vorrichtung, an der Toilettenpapier zur Entnahme angeboten wurde, war gewissermaßen das Gebotene. Man konnte die Textur dort bequem abrollen, passend dosiert abreißen und zum Gebrauch entnehmen. Dazu hatten die Menschen diese Apparatur dort angebracht. Es wird Ihnen aber auch aufgefallen sein, dass eine weitere Klopapierrolle in der Toilette deponiert worden war. Diese Rolle nennt die Verhaltensforschung die Notfallration. Für den Fall, dass das Papier in der Halterung einmal aufgebraucht wäre. Für diese Ersatzrolle gab es keinen besonderen Ort. Eine wichtige Regel lautete aber, dass sie in Sicht- und Reichweite des Toilettenbenutzers platziert sein musste.«

Der Professor nickte dem aufgeweckten Studenten auffordernd zu. Der sekundierte prompt: »Klar, er musste ja im Notfall drankommen können, also sobald die erste Papierrolle aufgebraucht war.«

»Nun, meine Damen und Herren, folgt , was ich in unzähligen Studien in gründlicher Feldforschung herausgefunden habe.«

Der unangefochtene Experte in der Causa Mensch legte eine wirkungsvolle Pause ein, bevor er fortfuhr: »Von diesen zwei Rollen, die in Sicht- und Reichweite des Scheißers platziert waren, wurde immer diejenige schneller aufgebraucht, die nicht in der Vorrichtung hing. Stattdessen griff der Mensch zur Notlösung. Er verhielt sich entgegen der vorgesehenen Lösung. Ohne jede Not! Ein solches Verhaltensmuster nennt die Wissenschaft Anarchie. Klarer Beleg für die subversive Natur der Menschen.«

Die kommende Elite der Humanwissenschaft meldete sich. Wartete ab, bis ihr mit einem freundlichen Nicken das Wort erteilt wurde. Fragte: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, verstießen die Menschen offensichtlich regelmäßig gegen Gebote. Haben sie damit auch automatisch ein Verbot überschritten?«

»Nun, es war nicht direkt verboten, von dem anderen Papier zu nehmen«, räumte der Alte ein. »Aber es entsprach eben nicht dem Gebot. Es handelt sich nun mal um die am besten fundierte Beobachtung. Aber es gab eine Unzahl an weiteren Ge- und Verboten bei den Menschen, die sie genauso schlecht beachteten, beziehungsweise wo die Regelbefolgung eher die Ausnahme darstellte. Drastisches Beispiel, aber leider eben ein Fall, der nicht täglich zu beobachten war: Die Menschen waren von Natur aus polygam wie fast alle Existenzformen auf der Erde. Hatten aber die Abmachung getroffen, dass sie monogam leben wollten. Was schlicht wider ihre Natur war. Unser gemeinsames Biotop hier nannten sie Ferienhaus. Was bedeutete, dass sie in wechselnden Konstellationen einkehrten. Natürlich auch mit wechselnden Sexualpartnern. Ich habe allein ein Männchen mit drei verschiedenen Weibchen beim Koitus erleben dürfen. Wissenschaftlich gesehen ist eine solche Probandengruppe natürlich vollkommen indiskutabel. Zu Beginn meiner Lehrtätigkeit habe ich meinen Studenten immer gesagt: Hier tun sich neue Jagdgründe auf, meine Herren.« Er besann sich, deutete eine kleine Verbeugung in Richtung der Zuhörerin in der ersten Reihe an, ergänzte: »Und Damen natürlich!«, und spürte nicht zum ersten Mal die Bürde des Alters. »Da die Menschen mit der Eiszeit leider ausgestorben sind –«

Vor dem Haus rumorte etwas. Ein Auto bremste scharf, Türen wurden geöffnet, Kinder jauchzten, Erwachsene mahnten. Füßegetrappel. Ein Schlüssel quietschte im Schloss, dann Stimmen: »Boah!« »Cool!« »Ich muss aufs Klo!« und: »Wo ist denn hier der Lichtschalter?« Kurz darauf wurden Rollläden knarzend hochgezogen, Licht flutete den Raum. Eine helle Stimme kreischte: »Wo ist die Fliegenklatsche?«

Der Professor war unter den Anwesenden derjenige mit der größten Lebenserfahrung. Die er der Gemeinschaft immer zur Verfügung gestellt hatte. Natürlich bedauerte er selbst am allermeisten, dass die Vermittlung des Lernstoffs bisweilen sehr zäh vonstattenging. Bestimmte Signalwörter hatte er seinen Studenten einfach noch nicht nahebringen können. Was nützte es, dass er nun aus Leibeskräften schrie: »Verlassen Sie bitte sofort den –«

Ein pfeifendes Geräusch schnitt ihm das Wort ab. Dann breitete sich Dunkelheit aus. Keiner der Versammelten konnte mehr die Stimmen vernehmen, die nach dem finalen Platsch durch den Raum gellten:

»Super! Sieben auf einen Streich!«

„Kevin! Du sollst nicht töten!“

 

 

 

Über die Autorin

Regina Schleheck wurden mit dem Friedrich-Glauser-Preis für einen Kurzkrimi und dem Deutschen Phantastik Preis für ein SciFi-Hörspiel die begehrtesten Auszeichnungen beider Genres zugesprochen – neben vielen anderen. 2021 wurde sie erneut für den Glauser nominiert. Mit Scheiß-Geschichte machte sie im Dezember 2017 den zweiten Platz im „Corona“-Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema "Super" – eine von elf Platzierungen in dem traditionsreichen Online-Magazin für ScienceFiction und Phantastik. Die hauptberufliche Lehrerin, nebenberufliche Autorin, Herausgeberin, Lektorin und fünffache Mutter lebt und lehrt in Leverkusen und veröffentlicht seit 2002. 

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