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Kurzgeschichte: Das immergleiche Spiel

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Eine Profisportlerin lässt sich zunächst die Beine entfernen, um mehr Leistung zu bringen, und ist dann dem Druck von außen nicht gewachsen. Die PAN-Kurzgeschichte von Veronika Carver schneidet diesen Monat ein ernstes Thema an. Menschen, die sensibel auf das Thema Selbstmord reagieren, bitten wir, die Geschichte mit Bedacht zu lesen (TW: Selbsttötung).

„Noch so eine Scheißaktion und der Ethikrat hat uns bei den Eiern! Wer von euch übernimmt die Verantwortung dafür?“

Nun ja, dass auf eine solche Frage niemand freiwillig den Finger hebt, dürfte offensichtlich sein. Und das war es für die nicht-körperlich Anwesenden dieser heiklen Konferenz auch. Schließlich stand der Ruf der renommierten IFAS – der International Federation of Augmented Sports – auf dem Spiel. Und damit im schlimmsten Fall ihrer aller Jobs. Im besten Fall gäbe es bloß einige ausufernde Protestaktionen, möglicherweise musste auch einer von ihnen den Kopf für sie alle hinhalten. Wie auch immer, der bläulich schimmernde Hologrammschädel des Vorsitzenden des Dringlichkeitskomitees ploppte ironischerweise mit zweiminütiger Verspätung in der Konferenz am kreisrunden Tisch voller Holo-Köpfe auf und stellte fröhlich die Frage, auf die Sie bestimmt gewartet haben.

„'n Abend, liebe Gesellschaft, worum geht’s denn heute?“

Eine wunderbare Frage, nicht wahr? Impliziert sie doch, dass solche Notfalltreffen der wichtigsten Vorstandsmitglieder der IFAS häufiger vonnöten waren.

Also, worum ging es heute?

Narendra Nath, zweite Vorsitzende, bemüht sich offensichtlich, nicht mit den Augen zu rollen.

„Hast du den Artikel der Times nicht gelesen, Boris?“

Boris‘ Haupt drehte sich auf seinem Projektionsteller, bis er Narendra drei Köpfe weiter ansehen konnte. Er lächelte weiterhin, als seien gehobene Mundwinkel Teil seines Wesens.

„Wer liest denn heutzutage noch? Ehrlich, Leute, wer von euch hat noch keinen Brodmann-Link?“

„Schnauze, Boris, es geht um das Selbstmordvideo von Vera Ilić. Bist du darüber informiert, oder nicht?“, blaffte ein schnauzbärtiges Breitkinn – seines Zeichens Präsident der IFAS und auf heißen Kohlen sitzender – äh – in luftleerem Raum schwebender Frontmann des Verbandes. Wenn ein Kopf rollen würde, dann seiner, falls dieses Wortspiel gestattet sei.

„Also ... nein. Kann mich mal einer aufklären? Bitte?“

Sechzehn blaugraue Augenpaare waren auf Boris gerichtet.

„Unser Vorsitzender des Dringlichkeitskomitees hat also nicht mitbekommen, dass Ilić‘ Familie die IFAS verklagt?“, fragte Schnauzbart mit bedrohlichem Unterton.

Man stelle sich einen schulterzuckenden Boris vor. Der Arme konnte sein Unwohlsein aktuell ja nur mit gehobenen Augenbrauen verdeutlichen.

„Warum denn gleich verklagen?“, gab er kleinlaut zurück. Er hatte wohl kapiert, dass er einen miserablen Job machte.

„Weil ... Verfickt nochmal, hat hier jemand eine Zusammenfassung für unser nutzlosestes Mitglied?“

„He, das geht doch auch freundlicher“, gab Boris beleidigt zurück. Sein Lächeln geriet dabei stark in Schieflage.

„Ich geb‘ dir gleich freundlicher, du ...“

„Nigel, wir haben zwei Gesprächsanfragen“, unterbrach Narendra den Präsidenten, dessen virtuelle Blitze sprühender Blick nun zu ihr wirbelte.

„Das ist eine interne Konferenz! Bin ich denn komplett von Schwachmaten umgeben?“

„Es handelt sich um Tyra Loyd von der Ethikkommission und Alexis Sanchéz von HumanAugmentation-Tech.“

Um es kurz zu machen: Da klopften Menschenrechtler und die Lobby an. Zu beiden konnte der Präsident nicht nein sagen, ohne entweder fette Einbußen im Sponsoring oder eine Menschenrechtsklage zu riskieren.

Als sein Gesicht erstarrte, wussten die Nicht-Anwesenden, dass ihr Präsident aus Fleisch und Blut gerade auf etwas einschlug. Er biss dabei immer die Zähne zusammen und hielt die Luft an, aber es war dennoch allen klar.

Im nächsten Moment lächelte er süffisant und auch seine Stimme nahm einen deutlich klareren Ton an.

„Lass sie rein, Narendra.“

Wallendes holografisches Haar einer dunklen Nuance – Tyra Loyd – und ein haarloser Eierkopf – Alexis Sanchéz – nahmen die letzten beiden Projektionsflächen in Beschlag. Die beiden beäugten sich zunächst kritisch, ehe sie in die Runde blickten.

Der Präsident rang sich eine formale Begrüßung ab und konnte wahrscheinlich froh darüber sein, dass man seine wahre Gesichtsfarbe über das Hologramm nicht erkannte.

„Wir waren gerade dabei, alle auf den neusten Stand zu setzen“, fügte die Vizepräsidentin hinzu.

Tyra Loyd verzog den Mund. „Das übernehme gern ich.“ Und das tat sie, ohne eine Antwort abzuwarten. „Vor fünf Tagen nahm sich die AR-Sportlerin Vera Ilić das Leben. Der Fall stellt sich laut ihrem Abschiedsbrief wie folgt dar: Ilić‘ Trainerin habe ihr vor vierzehn Monaten nahegelegt, den Traum von der Profiliga im AR-Sport aufzugeben. Als unversehrte, nicht modifizierte Spielerin im Goal or Conquer würde sie nicht über die Bundesebene hinauskommen. Dort könne sie allerdings nicht genug Geld verdienen, um die Pflege ihrer dementen Eltern zu bezahlen.“

Bestimmt dachte sich in diesem Moment der ein oder andere Nicht-Anwesende, dass das Problem doch eindeutig im serbischen AR-Sport-System lag und nicht bei der Sportart an sich. Schließlich wurde in anderen Ländern auch bei den Halbprofis und den Unversehrten-Ligen genug gezahlt, um über die Runden zu kommen.

Aber selbst das entsprach nicht des Pudels Kern, wie wir gleich sehen werden.

„Sich eine andere Arbeit zu suchen stand für Vera Ilić nicht zur Debatte. Sie ließ sich bei einem medizinischen Eingriff beide Beine bis zu den Unterschenkeln amputieren, sodass sie fortan auf Lauffedern zurückgreifen konnte.“

Tyra Loyd nahm sich die Zeit, in einige Gesichter zu blicken.

„Wie Ihnen bekannt sein dürfte, wurde Vera Ilić‘ Gesuch, in einem Profiteam der IFAS aufgenommen zu werden, vor neun Monaten abgelehnt.“

„Weil es Verbandsethik ist“, warf der Präsident ein.

Die Ethikkommissionsvertreterin – was für ein Wort! – nickte. „Die IFAS lehnt, und muss auch weiterhin, alle Arten der Selbstverstümmelung ab, die allein daraus resultieren, eine bestimmte Liga erreichen zu wollen. Das wirft natürlich die Frage auf, ob die Verbandspolitik nicht grundsätzlich auf unethischen Pfeilern beruht. Schließlich existiert nur eine Profiliga und in dieser werden ausschließlich paralympische Spieler*innen zugelassen.“

„Aus nachvollziehbaren Gründen“, mischte sich nun auch Herr von und zu Lobbyist Alexis Sanchéz ein. Sogar als Hologramm glänzte sein Schädel im nicht vorhandenen Licht. „Schließlich erreichen modifizierte Spieler Leistungen, von denen jeder andere nur träumen kann. Die Zuschauer würden einen Furz dafür bezahlen, Normalos in den Arenen zu sehen. Sie wollen Cyborgs, Androiden, keine auf ihre fleischlichen Körper limitierte Schwächlinge.“

Und damit, liebe Leser XXXXXXXXXXXXX, wären wir bei des Pudels Kern angekommen. Der Einzige, der noch nicht so auf der Höhe war, hieß Boris.

„Moment mal, warum verklagt uns Ilić' Familie denn überhaupt? Wofür gibt sie der IFAS die Schuld? Sie hat sich die Beine doch aus freien Stücken abnehmen lassen.“

Ein kollektives Seufzen und einige „Mensch, Boris“-Rufe hallten durch den Raum.

„Ist doch ganz klar eine Versicherungssache. Nicht Vera Ilić selbst, sondern ihre Familie hat Anklage erhoben, weil die Schmarotzer Kohle wollen“, stellte Alexis Sanchéz klar.

„Ich muss hier doch mal einhaken“, kam es aus dem Hintergrund. Endlich schaltete sich mal eine Juristin ein, auch wenn Marlena Santoso eher den Eindruck einer schlechtgelaunten Sphynx-Katze erweckte, so faltig wie sie war. „Die Familie der Verstorbenen will kein Geld, sie verlangt die Überarbeitung des aktuellen Verbandscodes, indem sie die Einführung einer finanziell ebenbürtigen und allen Modifikationen entbehrenden Parallelliga fordert. Sie hat auch eine Petition zur besseren Transparenz innerhalb der Bevölkerung gestartet. Sie bemängelt vordergründig die erschwerten Bedingungen bei der Informationsbeschaffung, im Speziellen in der serbischen Verbandsarbeit, was in Vera Ilić' Falle zu jener Verzweiflungstat, sich die Beine amputieren zu lassen, geführt habe.“

So viele Gesichter wollten in diesem Moment etwas sagen, doch man hörte wieder nur den Präsidenten heraus.

„Das nennen Sie Verzweiflungstat, Santoso? Und wie bezeichnet die Familie den Selbstmord von Vera Ilić?“ Er wollte etwas hinzufügen, etwas Abwertendes und Widerwärtiges, das sah man ihm an. Es erstaunte die Nicht-Anwesenden und offenbar auch Nigel selbst, dass er die Klappe hielt.

„Also geht der Selbstmord überhaupt nicht auf IFAS‘ Kappe?“ Sanchéz lachte kehlig auf. „Prima, dann können wir die Sache ja zu den Akten legen. Diese ganze Petitionsgeschichte und so weiter dürfte die Herrschaften nicht weiter jucken, dagegen sind Sie schließlich ausreichend versichert. Ehrlich gesagt wird das unsere Einnahmen während der Weltmeisterschaft nur ankurbeln und die schlechte Presse ist immer noch Presse, also hurra!“

Lachend verschwand der Eierkopf mit einem unhörbaren ‚Plopp‘. Ganz genau, das Geräusch dazu muss man sich schon selbst vorstellen.

Für exakt einskommasiebenacht Sekunden herrschte Totenstille. Nicht einmal die defekte Projektionsfläche, die sonst immer vor sich hin knisterte, wagte einen Mucks.

Dann erklang wieder Boris‘ verwirrt klingende Stimme: „Warum hat sich die Frau denn jetzt überhaupt umgebracht?“

Man stelle sich bitte vielfaches Gegen-die-Stirn-Klatschen vor. Und noch mehr „Mensch, Boris“-Rufe. Und diesmal eindeutige und beeindruckend bildhafte Beschimpfungen vom Präsidenten, ehe sich die Juristin einschaltete.

„Unabhängig davon, dass dies hier nichts zur Sache tut, nennt Ilić in ihrem Abschiedsbrief Depressionen, Phantomschmerzen, Perspektivlosigkeit, Scham und Zukunftsangst als Gründe. Die Klage wurde von der Schwester und deren Ehemann erhoben.“

„Das reicht“, funkte Präsident Nigel dazwischen. „Ich hab keine Zeit, jedes Detail durchzukauen. Wir brauchen Lösungsvorschläge, wie wir mit der ganzen Sache umgehen!“

„Ich hätte eine Idee“, brachte sich ein vollbärtiger Bursche mit Brille ins Gespräch. Die Schweißperlen auf seiner Stirn waren sogar in Graublau flimmernd zu erkennen.

„Schieß los ... ehm ... Wer bist du?“, fragte der Präsident irritiert.

„Paul, von der PR.“

„Na dann, Paul von der PR, mach mich glücklich.“

„Naja, wenn ich das richtig verstehe, würde die Klage gegen die IFAS vor keinem Gericht durchgehen, nicht wahr?“

„Das stimmt, das Verfahren könnte sich allerdings über Monate hinziehen“, klärte Santoso die Nicht-Anwesenden auf.

Paul von der PR nickte eifrig. „Wir haben es hier also mit einem rein öffentlichkeitswirksamen Fall zu tun, der viele Leute auf die Straße, ehm, ich meine natürlich auf die Kanäle der Social-Media-Plattformen treiben wird. Wir müssen mit einem Shitstorm rechnen.“

„Kommst du auch mal zum Punkt, Paul von der PR?“, fragte Nigel mit verengten Augen. Er konnte wirklich einschüchternd dreinschauen. Deshalb war es auch kein Wunder, dass sich Paul von der PR verhaspelte und verschluckte und damit die Geduld des Präsidenten noch weiter strapazierte.

„Ich, ehm ... Verzeihung ... Wir könnten direkt zum Gegenangriff starten. Also, ich meine, auf friedfertige Weise natürlich, indem wir das Pflegeheim für Ilić' demente Eltern zahlen.“

„Wie bitte?“

„Weil“, beeilte sich Paul zu sagen, „das im Großen und Ganzen nur Peanuts wären. Jede Marketingkampagne wäre teurer. Somit respektieren wir Ilić' aufopferungsvolles Vermächtnis ...“

„Und zeigen der ganzen Welt, dass man von uns bekommen kann, was man will, wenn man nur bereit ist, dafür draufzugehen? Wie bescheuert ist das denn?“, funkte Boris dazwischen. Diesmal traf er sogar auf einige Zustimmung. Bravo Boris!

„Ich halte das für eine wunderbare Idee!“, gab Ethikkommissionsvertreterin – schon wieder dieses Wort! – Tyra Loyd ihre Meinung kund. „Zusammen mit dem Versprechen, dass sich die Vorstandsvorsitzenden des Verbandes an einen Tisch setzen und das Konzept der Profiliga noch einmal überdenken, sollte das die Massen besänftigen. Solange wir damit warten und nur dann reagieren, wenn man uns bereits das Messer an die Kehle hält, wird jedes Zugeständnis als Schwäche ausgelegt und der Druck der Öffentlichkeit steigt bloß weiter und weiter.“

„Das tun wir aber natürlich mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern“, beeilte sich Vizepräsidentin Narendra zu sagen. Sie kannte ihren Nigel gut genug, um zu wissen, dass er sonst platzen würde.

„Nein, nein“, sagte er zur Überraschung aller Nicht-Anwesenden. „Das ist gut. Gut gemacht, Tyra und ... ehm ... Paul von der PR. Möchte sonst noch jemand etwas dazu sagen?“ Er wartete nicht lang genug, damit wirklich jemand Zeit hatte, darauf zu antworten. Typisch Nigel. „Gut, dann erkläre ich diese Konferenz hiermit für beendet. Gute Arbeit, macht noch mehr davon und wir können alle unseren Job behalten.“

Er nickte den einzelnen Nicht-Anwesenden zu, bis alle Köpfe weggeploppt – bitte das Geräusch wieder vorstellen, in etwa so, wie wenn ein Dutzend Seifenblasen platzen – und nur noch er und Narendra übriggeblieben waren.

„Also, wo ist der Haken?“, fragte sie.

Nigel grinste breit. „Wie kommst du denn darauf, dass es einen gibt? Wir setzen die Forderung von Familie Ilić auf die Agenda der nächsten Mitgliedsversammlung und besprechen sie natürlich ausführlich. Was dabei herauskommt, ist eine andere Sache.“

Narendra hätte fast geseufzt, aber sie beschränkte sich auf einen verführerischen Augenaufschlag. „Du Schlitzohr, komm sofort wieder ins Bett“, raunte sie und ploppte davon.

Und was lernen wir aus dieser Geschichte?

Absolut nichts Neues.

 

 

 

Über die Autorin

Veronika Carver ist 28 Jahre alt, gelernte medizinisch-technische Analytikerin der Funktionsdiagnostik und studierte Drehbuchautorin. Sie wohnt mit ihrer Frau und zwei Hunden in einem kleinen Dorf bei Tübingen, wo sie teils als MTAF, teils als Autorin, Lektorin und Hörbuchsprecherin arbeitet. Im Oktober 2019 erschien ihr zehnter Roman, die melancholische Vorgeschichte zur Wyvern-Trilogie „Wyvern – Die Sehnsucht einer Träumenden“, im Eisermann Verlag.

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