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Im Schweif des Kometen

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten

Diesen Monat präsentieren wir Euch die Kurzgeschichte aus dem Phantastik-Autoren-Netzwerk von Ralf Raabe aus der Anthologie "Hale-Bopp: Im Bann des Kometen". Viel Spaß beim Lesen!

Et numquam coelo spectatum impune cometen.
Und niemals ist am Himmel ungestraft ein Komet gesehen worden.
Claudian (370 bis 404 n. Chr.)

 

Ich hatte Giles seit dem Studium nicht mehr gesehen, und wir standen uns auch damals nicht besonders nahe. Einmal lud er mich auf das Gut seiner Eltern ein zu einer Fuchsjagd, an die ich mich aus verschiedenen Gründen lieber nicht erinnern möchte.

In Oxford jedenfalls sah man ihn häufiger in den Pubs als in der College-Bibliothek. Sein Vater überwies ihm allmonatlich ein hübsches Sümmchen, und so bildete Giles das Zentralgestirn einer Gruppe von Erstsemestern, die auf seine Kosten freitags bereits betrunken waren, noch ehe die Glocken von St. Mary neun Uhr geschlagen hatten.

Da ich selbst nicht mit einem reichen Elternhaus gesegnet war und dazu mit einem saftigen Studienkredit in der Kreide stand, mied ich jenen Kreis und steckte meine Nase in die Bücher, um mich auf die Examen vorzubereiten.

Seitdem waren rund zwanzig Jahre vergangen, und ich war nicht wenig überrascht, als mich eines Abends sein Anruf im Hotel erreichte. Zu jener Zeit hielt ich mich in London auf, um mit meinem Verleger über den neuen Roman zu sprechen. Giles hatte von Emma, einer gemeinsamen Bekannten, die mir die Flüge bucht, von meiner Anwesenheit erfahren. Er sei wegen einer Erbschaft in der Stadt und würde mich gern sehen, um mir eine – wie er sich ausdrückte – merkwürdige Geschichte zu erzählen.

Mir fiel keine glaubwürdige Ausrede ein, und so verabredeten wir uns in einem indischen Restaurant in der Nähe des Britischen Museums.

Bei meinem Eintreffen wartete Giles bereits auf mich. Er strahlte über das ganze Gesicht und schien sich aufrichtig zu freuen, mich zu sehen. Als er sich erhob, um mich zu begrüßen, konnte ich mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Er hatte einige Pfunde zugelegt, und die akkurat gescheitelten blonden Haare lichteten sich.

Ein pakistanischer Kellner brachte die Speisekarten, und wir sprachen kurz über meine Arbeit. Giles wusste von meiner Kündigung bei der Zeitung und dass ich einige Romane veröffentlicht hatte; doch in seiner entwaffnenden Art machte er keinen Hehl daraus, keines meiner Bücher gelesen zu haben.

Dann berichtete er mir von sich, wie es ihm nach dem Tod seines Vaters gelungen war, das Gestüt vor dem Ruin zu retten. Trotz seines launigen Tons hörte ich heraus, wie schwer diese Jahre für ihn, dem im Leben alles geschenkt worden war, gewesen sein mussten. Das Gespräch glitt hinüber zu Bekannten aus Studientagen, was aus ihnen geworden war, wer wen geheiratet hatte und wo sie nach der Scheidung lebten.

Ein Schweigen trat ein, nachdem der Kellner die Vorspeisenteller abgeräumt hatte, nur unterbrochen vom Geschirrgeklapper und Gemurmel der anderen Gäste. Allmählich begriff ich, dass er den wahren Grund unserer Verabredung zu vermeiden suchte.

Jetzt wurde ich neugierig. »Wir sind nicht hier«, wagte ich mich vor, »um Erinnerungen aufzufrischen, oder?«

Er trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem Tischtuch und sah mich prüfend an, bevor er zu sprechen begann. »Mein Vater hatte einen Bruder. Onkel Charles war unverheiratet und galt als – nun, sagen wir – ein wenig wunderlich. Die beiden hatten schon vor meiner Geburt miteinander gebrochen.« Er schwieg einen Moment.

»Eine Frau?«, vermutete ich und begann bereits wieder das Interesse zu verlieren. Eifersuchtsdramen unter Geschwistern gehören in die unterste literarische Schublade.

Ein spöttisches Lächeln überzog sein fülliges Gesicht. »Welche Art Romane schreibst du eigentlich?« Das Lächeln verflog. »In gewisser Weise spielt eine Frau in dieser Geschichte eine Rolle – vielleicht aber auch nicht. Das ist der springende Punkt, über den ich mir nicht im Klaren bin.«

»Und das zu verstehen, soll ich dir helfen?«

Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Onkel Charles lebte zurückgezogen im Haus meiner Großeltern. Zurückgezogen ist wohl ein wenig untertrieben: Er hockte eigentlich nur in seiner Bibliothek und verließ niemals das Haus. Vom Personal war lediglich noch eine Haushälterin da; sie versorgte ihn und war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Kurz vor seinem Tod schrieb er mir einen Brief, in dem er mich bat, ihn in Somerset zu besuchen. Er war über neunzig und ich der letzte männliche Verwandte. Er wollte wohl sehen, an wen sein Landhaus aus der Zeit von Queen Anne einmal fallen würde. Er selbst öffnete mir die Tür und führte mich durch die ungelüftete Eingangshalle in die Bibliothek, ein zweistöckiger Saal mit Galerie. Deckenhohe Bücherregale verloren sich im Halbdunkel. Es roch nach Leder, Staub und altem Papier. In der Mitte des Raums entdeckte ich die Umrisse einer Sesselgruppe und eines altmodischen Holzglobus, in dessen Innerem man unwillkürlich Hochprozentiges vermutete. Er ließ sich in einen der abgewetzten Ledersessel sinken und bedeutete mir mit einem Nicken, seinem Beispiel zu folgen. Ein bernsteinfarbener Strahl der Abendsonne, in dem Staubpartikel tanzten, fiel auf das Gesicht des Greises; seine eingeschrumpfte Gestalt schien von dem Ohrensessel verschlungen zu werden. Mein Blick wanderte hinauf zur Galerie, dem Ursprung dieser Lichtquelle. An der Westseite wurden die endlosen Reihen der Bücherregale durch Fenster unterbrochen. Das Licht drang durch das einzige nicht mit Samtvorhängen verdunkelte Fenster. Ein Teleskop reckte sich dort in den Himmel. Irgendwie fiel es in der spätviktorianisch eingerichteten Bibliothek aus dem Rahmen, weil es sich dabei nicht um ein messingblitzendes Relikt dieser Epoche handelte, sondern um ein modernes und vermutlich sehr leistungsstarkes Spiegelteleskop. Noch immer schwieg mein Gegenüber. Unter seinem prüfenden Blick rutschte ich unbehaglich in meinem Sessel hin und her, während ich die verschatteten Regalreihen betrachtete. Trotz des Zwielichts glaubte ich zu erkennen, dass keiner der zahllosen ledergebundenen Bände jünger als hundert Jahre alt sein mochte. Onkel Charles schien zu erraten, in welche Richtung meine Gedanken wanderten, denn nach einer Weile sagte er mit einer Stimme, die wie welkes Laub klang: ›Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe all diese Bücher nicht gelesen. Einige, gewiss. Aber ich habe vor langer Zeit damit aufgehört.‹ Er gab ein heiseres, wie Papier raschelndes Lachen von sich, dann beugte er sich vor und in seine leblos wirkenden Augen trat ein Funkeln. ›Willst du wissen, warum?‹ Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, auf meine Uhr zu sehen, und rang mir ein Lächeln ab. Man sagt ja, Blut ist dicker als Wasser, und schließlich war er mein Onkel, aber eben ein Onkel, der niemals Teil meines Lebens gewesen war. Daran änderte auch die in Aussicht gestellte Erbschaft nichts – so gelegen sie mir kommen mochte. Er lehnte sich wieder in den Sessel und legte die Fingerspitzen aneinander. ›Es war der 20. April, einen Monat nach meinem sechzehnten Geburtstag, doch noch immer hielt der Winter das Land in seinem frostigen Griff. Ich hatte die Gewohnheit, hier oft noch lange nach Mitternacht zu lesen. Anders als dein Vater, der in seinem Abschlussjahr in Oxford als Schlagmann das Ruderteam zum Sieg gegen Cambridge führte, zog es mich zu den Büchern. Ich muss dich nur ansehen, um zu wissen, dass du ihm in dieser Hinsicht nachschlägst. Während er mit seinen sportlichen Erfolgen Aufmerksamkeit und Anerkennung auf sich zog, durchstöberte ich diese Welt aus Papier.‹ Er machte eine Gebärde, die den ganzen Saal zu umfassen schien. In der Erwartung, er käme endlich zur Sache, beschloss ich seine Spitze gegen meinen Vater und mich zu überhören. ›Als Junge segelte ich mit Odysseus zwischen Charybdis und Skylla, reiste mit Sindbad zum Magnetberg, zog mit Marco Polo nach China, hörte Long John Silvers Holzbein über Deck stelzen, tauchte mit Kapitän Nemo auf den Grund des Ozeans, ging mit Ismael auf die Jagd nach dem Weißen Wal – kurz, ich verträumte meine Kindheit an einem Ort, der alle Orte zu bergen schien.‹ Mit diesen Worten versetzte er den Globus in Drehung. Das ratternde Geräusch der langsamer werdenden Kugel zerstörte meine Hoffnung, es könne sich um eine Hausbar handeln; die Aussichten auf einen Sherry standen schlecht. ›Eines Nachts arbeitete ich an einem der Schreibtische oben in der naturgeschichtlichen Abteilung. Ich erinnere mich genau, es war in dem Jahr, als der Halleysche Komet die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzte. Seit jeher haben die Menschen Kometen als astrologische Unglücksboten gedeutet, die Missernten, Seuchen, Hungersnöte und Kriege ankündigen; und auch im Jahr 1910 kursierten Weltuntergangsprophezeiungen: Astronomen hatten im Schweif des Kometen eine giftige Blausäureverbindung entdeckt, und man vermutete, dass sie in der Atmosphäre die gewaltigsten Explosionen beim Durchgang der Erde durch den Schweif hervorrufen würde, in deren Verlauf die Welt unweigerlich untergehen würde. Eine wahre Kometenhysterie war die Folge, angeheizt von den Zeitungen, die sogar von Selbstmorden verängstigter Menschen zu berichten wussten. Aber natürlich blieb der Weltuntergang aus.‹ Wieder ließ er sein papierenes Lachen ertönen, dann spannte sich sein Körper, und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. ›Diese Narren begriffen nicht, was man in der Antike schon wusste. Das Wirken der Kometen ist nicht mit den beschränkten Begriffen der Schulweisheit zu erfassen. Sie sind signa fatalia, astrologisch deutbare Zeichen des Makrokosmos, die den Mikrokosmos unmittelbar beeinflussen, Werkzeuge der göttlichen Vorsehung, die unser Leben …‹ Onkel Charles hielt unvermittelt inne. Er hatte sich in Rage geredet, Speicheltropfen sprühten ihm bei jedem Wort aus dem Mund, sein runzliges Gesicht glänzte vor fiebriger Erregung. In mir regte sich erstmals der Verdacht, dass der alte Knabe in seiner Einsamkeit den Verstand verloren hatte, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Drink – weit fort von hier. Mein Gesicht musste meine Sorge um seine geistige Gesundheit gespiegelt haben, denn er lehnte sich zurück, holte tief Luft und schlug einen ruhigeren Ton an. ›Wo war ich? Ach ja, es war kurz nach Mitternacht und der Wind peitschte den Schneeregen gegen die Fenster der Bibliothek. Als ich meinen Schreibtisch verließ, um eine Passage bei Plinius nachzuschlagen, in der er einen Zusammenhang zwischen der Erscheinung eines Kometen und dem Auftreten der Pest in Sparta herstellt, fiel mir ein Buch ins Auge, das halb aus dem Regal herausragte. Zuerst dachte ich, jemand hätte diesen Band nach Gebrauch nachlässig zurückgestellt. Erst später begriff ich, dass dieses verfluchte Buch von mir – und nur von mir – gefunden werden wollte. Stell dir meine Überraschung vor, als ich den Titel auf dem Rücken des Quartbandes las: Leben und Abenteuer des Charles Robert Melmoth, Esq. Mein Name, mein eigener Name in goldgeprägten Lettern auf dem Rücken eines kalbsledernen Einbandes! Mein erster Gedanke war, dass dies die Lebensbeschreibung eines mir unbekannten Vorfahren gleichen Namens sein müsse. Doch als ich das Buch aus dem Regal zog und die knisternden Seiten aus Dünndruckpapier umblätterte, stellte ich zu meiner Bestürzung fest, dass es mein Leben war, mein eigenes Leben, das ein nicht genannter Autor hier beschrieb. Das erste Kapitel schilderte in geraffter Form meine ersten Lebensjahre mit all jenen Begebenheiten, derer ich mich noch gut entsann, wie den kleinen Gemeinheiten deines Vaters. Andere Erinnerungen stellten sich erst beim Lesen ein und wieder andere waren mir gänzlich entfallen. Je weiter ich las, desto detailreicher wurden die Beschreibungen der Gefühle und Gedanken meines erwachenden Bewusstseins, geschrieben aus der Sicht einer Romanfigur in der dritten Person. Schließlich kam ich zu dem Abschnitt, in dem ich mich entschloss, jenem Hinweis bei Plinius nachzugehen, und stattdessen das Buch fand, das ich jetzt in Händen hielt. Ich las, wie mir in diesem Moment mit ganzer Wucht die Bedeutung dieses Funds aufging: Dieses teuflische Buch beschrieb nicht nur mein vergangenes Leben, sondern auch meine Zukunft – eine Zukunft, die ich noch ungeschrieben glaubte. Entsetzt schlug ich das Buch zu. Nachdem ich meine erste Verwirrung gemeistert hatte, wurde ich von Zweifeln und Fragen bestürmt: Sollte der Verlauf meines Lebens, sollten alle Ereignisse, die mir einst widerfahren, alle Entscheidungen, die ich treffen würde, sollte all das bereits von einer höheren Macht, einem allwissenden Autor bestimmt worden sein? Sollte die göttliche Gabe der Willensfreiheit, mit der ich mich ausgestattet glaubte, nichts anderes sein als eine Illusion, ein metaphysischer Scherz? In meine Bestürzung mischte sich Zorn auf den unbekannten Autor, der mich der Freiheit der Wahl beraubt und mir mein künftiges Leben gestohlen hatte. Ich zögerte weiterzulesen. Denn ist Unwissenheit im Hinblick auf das eigene Schicksal nicht ein Segen? Wie sollte ich weiterleben, wenn ich schon jetzt, am Anfang meines Weges, sichere Kenntnis darüber hätte, welche meiner Träume und Hoffnungen sich als eitel erweisen würden? Ebenso wüsste ich um jeden unerwarteten Glücksfall, wie ein Kind, das vor der Zeit seine Weihnachtsgeschenke entdeckt und sich so der Vorfreude beraubt sieht. Auch wäre ich dazu verdammt, jedes vom Schicksal bestimmte Unglück ohnmächtig zu erwarten. Das Leben wäre mir vergällt, ein fatalistisches Warten auf den Tod, um selbst dessen Stunde und Umstände ich wüsste. So zu leben hieße, wie ein Komet auf eine unabänderliche Bahn gezwungen zu sein. Und doch triumphierte die Neugier über Furcht und Zweifel. Ich beschloss, nur wenige Seiten weiterzublättern, um zu sehen, was mir in naher Zukunft widerfahren würde. Träfen diese Ereignisse ein, so würde ich später – mit klarem Kopf – entscheiden, was mit diesem Buch anzufangen sei. Mit zitternden Händen fand ich jene Textstelle, an der ich die Lektüre unterbrochen hatte, und las dort, wie ich eben dies tat. Dann fasste ich einige Seiten und blätterte beherzt um. Dabei spürte ich, wie diese Seiten am Goldschnitt klebten. Sie waren noch nie aufgeschlagen worden. Der Abschnitt beschrieb die Rede meines künftigen Schwiegervaters bei der Verlobungsfeier mit Cynthia Blackwell, einer Cousine zweiten Grades – ein Mädchen, dessen Bekanntschaft ich noch nicht einmal gemacht hatte. Ich erfuhr, wann und wie ich Cynthia kennengelernt hatte: Es würde in diesem Sommer bei einer Teegesellschaft in Brighton geschehen. Als ich so meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt fand, ließ ich den Band fallen und entfloh der Bibliothek, rannte hinaus in die Kälte der Nacht, rannte immer weiter, nur fort von diesem entsetzlichen Buch. An das, was dann geschah, erinnere ich mich nicht mehr; später hieß es, ich hätte in der Dunkelheit die Orientierung verloren und wäre erschöpft in eine Schneewehe gesunken. Die Diener fanden mich, bevor ich an Unterkühlung starb. So trug ich nur leichte Erfrierungen und eine Lungenentzündung davon. Aber in Fieberträumen verfolgte mich wieder und wieder der Gedanke an das Buch. In den klaren Momenten klammerte ich mich an die Hoffnung, das alles könnte nur ein Albtraum gewesen sein. Nach einigen Wochen war ich wiederhergestellt und wagte mich in die Bibliothek zu jener Stelle, an der ich es hatte fallen gelassen.‹ Er deutete dorthin, wo sich das Teleskop auf seinem Stativ erhob. ›Aber das Buch war fort. Ich befragte das Hauspersonal – damals hatten wir noch welches –, doch niemand konnte sich erinnern. Vergeblich durchforschte ich die Regalreihen. Schließlich verfiel ich auf den Gedanken, es könne in die zweite Reihe geschoben worden sein, als jemand ein anderes Buch zurückgestellt hatte, und zog Band für Band aus dem Regal – ohne das Buch zu finden. Ich begann jedes einzelne Regal zu durchsuchen. Es gibt keinen Katalog, aber diese Bibliothek umfasst einige zehntausend Bücher, und so schleppten sich die Wochen dahin. Der Schnee war längst dem zarten Grün des Frühlings gewichen, und in mir war die Überzeugung gereift, dass dieses Buch nicht aus unserer Welt stammen konnte, dass es mit der Annäherung des Kometen erschienen und mit ihm wieder verschwunden war. Eines Tages erreichte uns ein schwarz umrandeter Brief der Familie Blackwell: Cynthia war bei einem Theaterbrand im Londoner Westend ums Leben gekommen. Diese Nachricht stürzte mich in heftigste Verwirrung. Ich zweifelte aber keinen Augenblick daran, dass ihr grausiger Tod auf unerklärliche Weise mit meinem verbotenen Blick in die Zukunft verbunden war. Schwer lastete auf meinem Gewissen die Schuld, die ich auf mich geladen hatte. Und doch mischte sich in die Trauer um das arme Mädchen die Erleichterung darüber, mit dieser frevelhaften Tat den Lauf meines Lebens auf eine andere Bahn gezwungen zu haben, wieder Herr über mein Tun und Lassen zu sein. Meinen Eltern blieb mein Zustand nicht verborgen, sie verordneten mir Luftveränderung. So kam es, dass ich die Sommerfrische tatsächlich in Brighton verbrachte. Ich versuchte ihrem Tod einen Sinn abzuringen, während ich einsam auf der Strandpromenade flanierte oder mich im Gewirr der Gassen zu verlieren hoffte, ohne das Mädchen, dem hier zu begegnen mir das Schicksal bestimmt hatte. Ich hatte den Fluss der Zeit in ein anderes Bett geleitet; der künftige Lauf meines Lebens konnte nun nicht mehr jenem Leben entsprechen, welches das Buch beschrieben haben musste. Und doch ergriff sein verheißungsvoller Titel Besitz von meiner Fantasie; ich verlor mich in Spekulationen darüber, was das für Abenteuer gewesen sein mochten, die jener andere Charles erlebt haben würde. Gewiss, als Kind hatte ich Abenteuerromane verschlungen und mir nicht selten die kolossalsten Gefahren ausgedacht, die ich als Seefahrer, Entdecker oder Eroberer glanzvoll überstehen würde. Ein abenteuerliches Leben, wie es der Buchtitel ankündigte, in Wirklichkeit zu führen, hatte ich weder erstrebt noch erwartet. Nun sah ich mich bestätigt, denn ich hatte begriffen, dass jede Entscheidung nicht nur Folgen für unser eigenes Schicksal hat, sondern auch für das der anderen. Ich hatte den unglücklichen Tod meiner Cousine zu verantworten. Und wer vermag zu sagen, an welchem weiteren, vielleicht noch größeren Unglück ich schuldig geworden bin – oder noch sein würde? Geboten nicht Vernunft und Moral, sich eines Wirkens in der Welt zu enthalten? Um nicht weiter in den Strudel von Verstrickung, Irrtum und Schuld gerissen zu werden, verzichtete ich darauf, mir eine Anstellung zu suchen, eine Familie zu gründen und überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Von deinem Vater und dem Rest der Welt als weltfremder Bücherwurm verlacht, zog ich mich an diesen Ort zurück, bestrebt meinen Mitmenschen Beschwernis weder zu geben noch solche von ihnen zu empfangen. Der Komet würde nach sechsundsiebzig Jahren wiederkehren, und ich hoffte, dieses Ereignis noch zu erleben. Ein ganzes Leben hatte ich Zeit, um auf die Rückkehr von Komet und Buch zu warten.‹ Er machte eine Pause und ließ seinen erloschen wirkenden Blick durch die Bibliothek wandern. ›In meiner Jugend erschienen mir die Bücher wie Schätze auf dem Grund des Meeres, die nur darauf warteten, von mir gehoben zu werden. Inzwischen langweilen sie mich. Was suchen wir in Büchern anderes als uns selbst? Und was hatte mir diese Bibliothek schon zu bieten, wenn ich wusste, dass dieses eine Buch existierte, in dem ich mein anderes, nicht gelebtes Leben finden würde? Nach all den Jahren ist es endlich so weit: In wenigen Tagen wird Halleys Komet sein Perihel, den sonnennächsten Punkt, durchlaufen. Die Bedingungen für die Beobachtung …‹ Dabei deutete er mit dem Kinn in Richtung Teleskop. ›… sind in der südlichen Hemisphäre weitaus günstiger, aber das ist ohne Belang. Mein Interesse gilt nicht dem Kometen, sondern dem, was er im Gefolge hat. Das Buch wird zurückkehren, das weiß ich einfach. Und diesmal werde ich es lesen, werde erfahren, welches Leben mein Alter Ego geführt hatte – jenes Leben, das nicht das meine war.‹ ch hatte die ganze Zeit über, in der er mir diese verschrobene Geschichte erzählt hatte, geschwiegen und hegte nun keinen Zweifel mehr daran, dass der alte Zausel in seiner Einsiedelei ein paar Sparren im Dachstübchen verloren haben musste. Nach dieser Offenbarung wahnhafter Ideen wusste ich nicht, was ich hätte sagen sollen – und so schwieg ich. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und ich erahnte mehr, als dass ich es sah, wie er sich aus seinem Sessel stemmte. Dankbar nahm ich das als Zeichen zum Abgang. Er begleitete mich in die dämmrige Eingangshalle. Wir hatten schon fast die Haustür erreicht, als ich plötzlich seinen Griff an meinem Arm spürte; wortlos wies er auf eines der Ölporträts in schwerem Goldrahmen. Ein Mädchen, fast schon eine junge Frau, mit hochgestecktem, rehbraunem Haar und intelligenten Augen lächelte uns aus der Vergangenheit an; ein spöttischer Zug lag um ihre Mundwinkel. Sie trug ein weißes Kleid, wie man es wohl nach der Jahrhundertwende getragen haben mochte. Mir fiel besonders die italienische Kamee auf, die sie an einem fliederfarbenen Seidenband um den Hals trug. Ich ahnte, dass dies Cynthia Blackwell gewesen sein musste. Im letzten Zug nach Dorset dachte ich nach über die fixe Idee des Alten von einem Buch, das es nicht geben konnte, und seinen Entschluss, sein Leben wegen einer absurden Buße auf die kleinsten nur denkbaren Bahnen zu begrenzen. Ich empfand Mitleid mit dem alten Kauz, der seine Erdentage auf so kleinmütige Weise verschwendet hatte. Keine zwei Wochen später erhielt ich die Nachricht von seinem Tod.«

Giles hielt in seinem Bericht inne und winkte dem Kellner wegen der Rechnung; doch meine Vermutung, dass dies noch nicht das Ende der Geschichte war, wurde nicht enttäuscht.

»Ich habe mit dem Arzt gesprochen, der den Totenschein ausgestellt hat. Plötzlicher Herzstillstand. Bei einem Zweiundneunzigjährigen alles andere als überraschend. Die Haushälterin fand ihn neben seinem Teleskop, dort, wo er das Buch gefunden haben wollte.«

»Und du glaubst jetzt«, hakte ich ungläubig nach, »dass ihm dieses Buch, sozusagen im Schweif des Kometen, wirklich erschienen ist? Dass er gestorben ist, weil ihn das, was er darin gelesen hat, so sehr aufgeregt hat? Giles, ich bitte dich. Das klingt wie eine viktorianische Schauergeschichte. So was kann man heute nicht mehr ernst nehmen, geschweige denn schreiben. Vielleicht als eine Parabel auf das postmoderne Unbehagen des Individuums angesichts einer verwirrenden Vielfalt konkurrierender Lebensentwürfe oder auf die philosophische Frage nach Freiheit oder Determination des menschlichen Willens …«

»Du verstehst nicht«, unterbrach er mich und schüttelte energisch den Kopf. »Laut Totenschein trat der Tod genau in dem Moment ein, als der Halleysche Komet seinen sonnennächsten Punkt überschritten hatte.«

»Zufall«, hielt ich dagegen. »Und auf die Minute genau lässt sich das ohnehin nicht feststellen.«

Giles zuckte mit den Schultern und quirlte den Stiel seines leeren Weinglases zwischen den Fingern. »Vielleicht war es ja gar nicht dieses Buch, das wiederaufgetaucht war«, sagte er zögerlich und blickte in das Glas, als suche er auf dessen Grund die Wahrheit. »Vielleicht ist mit dem Kometen etwas anderes erschienen. Und das ist der Grund, warum ich dir das alles überhaupt erzählt habe. Erinnerst du dich? Das ist der Punkt der Geschichte, über den ich mir nicht im Klaren bin. Der Arzt sagte, die Bibliothek sei erfüllt gewesen von einem unerklärlichen Geruch nach verbrannter menschlicher Haut … Und die Hand meines Onkels hielt etwas umklammert. Es kostete einige Mühe, ihm das zu entwinden, was er im Todeskampf jemandem entrissen haben musste.«

Giles kramte einen kleinen Gegenstand aus der Innentasche seines Tweed-Jacketts hervor und legte ihn in die Mitte des weißen Tischtuchs.

An einem angesengten, fliederfarbenen Seidenband hing eine altmodische Kamee.

 

 

Über den Autor

Dr. Ralf Raabe (Jahrgang 1970) wuchs in Norddeutschland auf und war schon als Kind ein begeisterter Leser. Zunächst studierte er Wirtschaft, um nach der Promotion freiberuflich als Personalentwickler für Banken und Industrieunternehmen zu arbeiten. Mitte dreißig erfüllte er sich schließlich den lang gehegten Lebenstraum: Er studierte Germanistik.

Mit den Fächern Deutsch und Wirtschaft ging er ins Lehramt. Zu den neuen Aufgaben als Lehrer gehörte die Pressearbeit für seine Schule. Dabei entdeckte er seine Begeisterung fürs Schreiben und entschied sich für ein nebenberufliches Journalismusstudium.

Heute lebt er seinen Traum als freiberuflicher Autor, Textcoach, Lektor und Universitätsdozent. Die Inspiration für seine Geschichten findet er in alten Mythen und auf Reisen. Die Idee zu „Adrian Blackwell - Im Reich der Schatten“ entstand bei einem seiner zahlreichen Familienurlaube in Großbritannien.

„Mit der einfachen Frage „Was wäre, wenn …?“ öffnet sich eine Welt voller Möglichkeiten, die nur durch die Vorstellungskraft begrenzt wird. Die so entstehenden Wirklichkeiten schreibend zu erkunden und die Leser auf dieser Reise mitzunehmen, ist für mich das größte Abenteuer.“

 Foto: Dirk Auschra

   

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