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Glückssache

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten

Die Kurzgeschichte des Monats aus dem Phantastik-Autorennetzwerk e. V. stammt aus der Feder von Melanie Vogltanz. Wir wünschen Euch viel Freude beim Lesen.

CARNA

»Macht zweihundert Credits. Mit Lotterieaufschlag?«

»Natürlich.« Renée Carna hielt die Hand mit ihrem ID-Chip unter den Scanner, der in Sekundenschnelle den fälligen Betrag abbuchte. Zweihundert, plus zwanzig Prozent Aufschlag für die staatliche Leistungslotterie, also zweihundertvierzig Credits. Im Kopf überschlug Carna, wie viel dadurch auf ihrem Konto für den Rest des Tages blieb. Sie kam zu dem ernüchternden Ergebnis von kaum mehr hundert Creditpunkten, die gerade einmal für die Heimfahrt reichen würden, aber nicht mehr für den Zug zur Arbeit am Morgen. Offenbar würde sie vor dem Feierabend noch einen Marktbesuch einschieben müssen.

»Frohes Schaffen noch«, verabschiedete sie sich von dem Mann mit dem mobilen Essensstand, nachdem dieser ihr die Bowl mit Dal und Tikka Masala überreicht hatte.

Im Gehen löffelte Carna die nach Kokosmilch und mildem Curry schmeckenden Linsen und das Hähnchen, das zart auf ihrer Zunge zerfiel. Als sie fertig gegessen hatte, bewertete sie den Essensstand pflichtbewusst mit großzügigen neun Sternen, bevor sie die Verpackungen einem aufdringlichen Müllsammler in die Hände drückte, der ihr bereits seit fünf Straßen folgte wie eine Ratte, die ein Stück Pizza gewittert hatte. Sie rang sich ein aufgesetztes Lächeln ab, hoffte jedoch insgeheim, niemals so tief sinken müssen, um so für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu müssen. Sie konnte sich wahrlich Besseres vorstellen, als ein paar kümmerliche Credits durch das Recyceln von Abfällen fremder Menschen zusammenzukratzen. In ihrer Jugendzeit hatte es noch an jeder Straßenecke Mülleimer gegeben, doch die hatten zentralen Sammelstellen Platz gemacht, die von den Recycle-Freelancern aus der ganzen Gegend wie Wallfahrtsorte aufgesucht wurden. Keine leere Flasche, keine weggeworfene Verpackung lag lange auf der Straße, ehe sie von einer verzweifelten Hand aufgeklaubt wurde.

Mit einem Kopfschütteln blickte Carna dem Mann mit der abgetragenen, flickendurchsetzten Kleidung und den abgesäbelten, ampelroten Haaren nach. »Frohes Schaffen noch«, rief sie auch ihm hinterher, doch er drehte sich nicht mehr nach ihr um. Allmählich ging diese Stadt vor die Hunde.

 

DREW

Endlich hat die dumme Businessschlampe ihren überteuerten Mist gegessen, ich hab‘ schon gedacht, die will damit nach Hause gehen. Wie sie mich angeglotzt hat, als ich das Plastik genommen hab‘ – als hätte ich eine ansteckende Krankheit oder sowas. Hochnäsige Fotze, hält sich für was Besseres, weil sie wahrscheinlich in irgendeinem Glaskasten Zahlen in eine Maschine tippt, und das nennt sie dann Arbeit und ist auch noch verdammt stolz auf sich. Stupid Businessbitch.

Ich stopfe die Verpackung in die große, abgewetzte Tasche zu dem anderen Müll anderer Idioten, den ich heute schon gesammelt habe. Noch ist die Tasche nicht mal halbvoll. In den letzten Wochen haben viele Neuarme mein Revier geplündert, wohlstandsverwahrloste Wichser, die von ihren eigenen Studienkollegen das Messer in den Rücken gerammt bekommen haben, weil sie von denen unterboten worden sind und auf einmal nicht mehr wissen, wie sie ihre Credits für den Tag zusammenbekommen sollen. Hat mir so ein halbes Hemd brühwarm erzählt, bevor ich ihm die Fresse poliert und ihm klargemacht hab‘, dass er seine verdammten manikürten Finger von meinem Zeug lassen soll. Danach hat er nicht mehr viel erzählt.

An der Baustelle in der Achtzehnten gibt´s viel zu holen, aber da treiben sich die großen Tiere rum – organisierte Banden, die mir die Knochen neu sortieren, wenn ich nicht aufpasse. Nein, den Stress brauch‘ ich heute nicht, und wenn die Tasche noch so leicht ist.

Stattdessen fällt mein Blick auf eine Mutter mit Kinderwagen, deren Balg Kekse aus der Packung frisst. Kinder lassen ständig was fallen, da könnte schon was rausspringen.

In sicherem Abstand hefte ich mich den beiden an die Fersen und folge ihnen Richtung Marktplatz.

 

CARNA

»Leistungslotterie … Pah. Das ist doch alles ausgemachter Schwindel!«

»Sie müssen das Angebot ja nicht nutzen.«

»Sie nennen das Angebot, ich nenne das dreisten Betrug!«

Carna unterdrückte ein Augenrollen. Ausgerechnet heute musste sie an eine von denen geraten. Wenn das in diesem Tempo weiterging, würde sie heute gar nicht mehr nach Hause kommen.

»Sie müssen das nicht mit mir ausdiskutieren«, sagte sie mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte. »Lehnen Sie einfach den Zuschlag ab und bezahlen Sie den fälligen Betrag.«

Die alte Dame schüttelte energisch den Kopf. »Nein, verstehen Sie denn nicht, genau so kriegen sie uns doch! Indem sie uns vorgaukeln, wir würden das freiwillig tun! Wissen Sie, zu meiner Zeit …«

Nun konnte Carna es nicht mehr verhindern: Ihre Augen verdrehten sich Richtung Standmarkise.

»Zu meiner Zeit«, fuhr die Frau mit großem Speicheleinsatz fort, die sich von Carnas Reaktion nur noch in ihrer Empörung bestärkt zu fühlen schien, »gab es noch ganz selbstverständlich Leistung vom Staat, da war nichts mit Lotterie und dieser Pseudofreiwilligkeit, die sie uns in die Kehle stopfen. Das Bezahlen ist ja nicht das Schlimme, sondern dass wir nie etwas dafür sehen! Haben Sie jemals auch nur eine Person getroffen, die bei der Ziehung gewonnen hätte?«

»Die Vornamen und Wohnorte der Gewinner werden regelmäßig öffentlich gemacht«, gab Carna der Frau eine Information, die diese bestimmt selbst besaß.

»Aber kennen Sie jemanden davon?«, beharrte sie stur. »Haben Sie je mit einem von denen gesprochen?«

»Hören Sie, ich kenne auch keine Millionäre, aber dennoch glaube ich daran, dass es sie gibt. Manche haben eben mehr Glück als andere, das war schon immer so – bestimmt auch, als Sie noch jung waren.«

»Da fängt es ja schon an!«, wetterte die Frau weiter. »Mit Glück sollte das gar nichts zu tun haben! Früher war das selbstverständlich, dass man Beiträge für staatliche Leistungen zahlt und dafür etwas bekommt. Da wurde nichts gelost!«

Früher haben die Menschen auch auf Bäumen gelebt und ihren eigenen Mist zum Düngen ihrer Felder verwendet, lag Carna bereits eine schnippische Erwiderung auf der Zunge, doch allmählich wurde ihr klar, dass es keine Rolle spielte, was sie sagte. Die andere Frau würde jedes Wort, das sie ihr gab, zum Anlass nehmen, ihr einen Strick daraus zu drehen. Manche Menschen waren einfach so.

»Hier«, sie streckte den Scanner aus, »100 Credits ohne Zuschlag.«

Doch die Kundin machte keine Anstalten, ihre Hand hinzuhalten. Sie war gänzlich in ihrer Schimpftirade versunken. »Steuern hieß das damals, nicht Lotterieaufschlag, und jeder musste zahlen, aber dafür war auch jeder abgesichert. Meine Nichte haben sie neulich nach einem Schlaganfall wieder nach Hause geschickt! Angefangen hat es schon damit, dass sie dem Rettungsfahrer nicht genug Credits für die Fahrt ins Krankenhaus bezahlen konnte. Warum soll ich meine Leistung verschenken, hat er gesagt, das würden Sie an meiner Stelle doch auch nicht tun. Und das Over-Taxi, das ihre Partnerin dann gerufen hat, das wollte weniger Geld, aber da reichten die Credits auch nicht für die volle Fahrt, und als das Konto leer war, hat die Fahrerin sie beide rausgeworfen. Also gingen sie zu Fuß, zehn Kilometer gingen sie, und im Krankenhaus kamen sie gerade mal bis zur Eingangstür, bevor man ihnen schon vorgerechnet hat, was der Bettenfahrer bekommt und der Klinikkoch und die Pflegekraft, und da hatten sie noch nicht einmal einen Arzt zu Gesicht bekommen!«

»Das klingt so, als könnte Ihre Nichte die Lotterie dringend brauchen«, erwiderte Carna ungerührt. »Für solche Menschen ist sie ja da. Wenn sie gewinnen, müssen sie sich um solche lebensnotwendigen Ausgaben niemals wieder Gedanken machen. Spielt Ihre Nichte denn?«

»Natürlich spielt sie!«, platzte die Frau hervor. Ihr faltiges Gesicht mit der schlaffen Haut war mittlerweile hektisch gerötet. »Natürlich spielt sie, deswegen hat sie ja kaum Credits, weil sie überall diesen freiwilligen Zuschlag zahlt, in der Hoffnung, dass sie dafür eines Tages eine vernünftige Krankenversorgung hat und eine staatliche Versicherung und Altersvorsoge … All diese Dinge, die sich unsereins mit den paar Credits, die wir verdienen, niemals leisten können! Aber selbst wenn es diesen Gewinn wirklich gäbe, selbst wenn das nicht nur die Karotte vor unserer Nase wäre, die uns dazu bringen soll, unseren Wagen zu ziehen, dann wäre sie schon lange vorher tot oder pleite!«

»Dann sollte sie sich eben einen besser bezahlten Job suchen«, erwiderte Carna mit aller Freundlichkeit, die sie noch aufbringen konnte. »100 Credits ohne Zuschlag, bitte.« Sie hob erneut den Scanner.

Die Dame schnalzte abfällig mit der Zunge. »Behalten Sie Ihren Kitsch.« Und damit pfefferte sie den Strauß eingefärbter Papierblumen, den sie eben noch hatte kaufen wollen, zurück in den Ständer und stiefelte von dannen.

»Na großartig«, murmelte Carna und ging um ihren Stand herum, um die einzelnen Papierblumen neu zu sortieren. »Dämliche Schwurblerin.«

Die alte Dame hatte den Strauß zerknittert und mehrere Blüten zerdrückt. Carna konnte ihn höchstens noch für einen Bruchteil des ursprünglichen Preises verkaufen, aber wahrscheinlich würde ihn niemand mehr nehmen. Damit ging ein Einkaufswarenwert von fünfzig Credits vor die Hunde – fünfzig Credits, die sie niemals wiedersehen würde. Während Carna seufzend vor dem vergeudeten Papier stand, meldete der Vibrationsalarm ihres Tablets eine eingegangene Kundenbewertung. Die Beinahe-Kundin hatte ihre Engelsgeduld mit vernichtenden zwei Sternen bewertet. Das würde Carnas Tagesdurchschnitt stark drücken. Schon beobachtete sie, wie zwei Teenagermädchen, die gerade auf ihren Stand zugehalten hatten, auf die Anzeige über ihrem Stand deuteten und tuschelnd einen Bogen um sie machten.

»Ist das Abfall?«

Carna zuckte zusammen, als eine raue Stimme hinter ihr ertönte.

Schon wieder dieser Müllsammler! Der Blick seiner rotgeäderten Augen hing gierig an dem zerknitterten Strauß in ihren Händen.

»Noch nicht«, sagte sie scharf.

»Wird´s aber bald sein. Gib´s mir, ich recycle das für dich.«

»Lassen Sie mich endlich zufrieden«, wies Carna den Fremden an. »Und hören Sie auf, mir nachzustellen. Mein Vater ist Polizeidienstler, der gewährt mir einen Rabatt, wenn ich eine Anzeige aufgebe, also sehen Sie sich ja vor.«

Der Fremde presste die Lippen zusammen und verzog sich wie ein geprügelter Hund. Doch davor hörte sie ihn noch »Businessbitch« in seinen nicht vorhandenen Bart murmeln.

»Wie war das?«, rief sie ihm hinterher. Sie hörte selbst, wie schrill ihre Stimme klang, konnte jedoch nicht an sich halten. »Wie haben Sie mich genannt? Von mir bekommen Sie niemals wieder etwas, das verspreche ich Ihnen! Ich werde auch allen anderen Standhaltern am Markt sagen, sie sollen Ihnen nichts mehr geben! Sehen Sie ja zu, dass Sie Land gewinnen!«

 

DREW

Das Zetern der Businessbitch lässt mich völlig kalt. Macht da einen Riesenaufstand wegen dem bisschen Papier, das mir nicht mal einen halben Kaugummi bezahlen würde. Aber da sind sie ganz gierig, diese Workjunkies. Bloß nichts verschenken, nicht mal Müll, nicht mal ihre eigene Scheiße. Kannte mal so eine, die Abwasserentsorgung gemacht hat, die kam in jedes Haus rein und hat vielleicht krasse Geschichten erzählt. Und da denkt man, unser Geschäft ist schmutzig. Aber die mit den meisten Credits, das sind die schmutzigsten – bessere Klasse von Menschen my ass.

Wäre heute nicht so ein mieser Tag, würde ich das alles weglachen, aber der Tag ist mies, die Tasche immer noch leicht, und mein Revier völlig abgegrast. Total shitshow. Der Markt hat schon angefangen sich zu leeren, wer jetzt noch übrig ist, dem brennt es echt unter den Nägeln, der hat noch nicht gegessen oder braucht Medizin – oder kriegt den Hals nicht voll wie meine neue BBBFF, BEST BUSINESS BITCH FRIEND FOREVER. Während die Sonne untergeht und das Ende der Öffnungszeiten näher rückt, werden sie immer verzweifelter und aufdringlicher, die Standbetreiber rundherum – sie locken, schleimen, stellen sich den Passanten in den Weg, bieten schwindelerregende Rabatte an und schreien Auszüge aus ihren besten Kundenbewertungen in die Straße. Das ist der Teilmarkt, hier kommen nur Leute her, die noch mindestens einen weiteren Job haben.

Wie es aussieht, muss ich mir ein anderes Ziel suchen, um mein Tagessoll irgendwie reinzukriegen. Wenn ich heute wieder drunter bin, stehen wieder diese Anzugstypen vor meiner Koje und erklären mir in großen Worten, dass sie ja noch viele andere arschgeile Jobs für mich haben, wenn der hier mir nicht liegt. Keine Ahnung, was in der Hackordnung unter uns kommt, ob da überhaupt noch was ist, aber ich hab‘ schon bei den letzten fünf Jobs vor diesem jedes Mal geglaubt, schlimmer wird´s nicht mehr. Boy, was I wrong.

Also, wohin? Nicht die Baustelle, so verzweifelt bin ich noch nicht. Aber schon ziemlich an der Grenze. Wird wohl der Schlachter werden müssen. Scheiße, ich hasse den Laden …

 

CARNA

Als Carna ihre Papierblüten einsammelte, begann es zu regnen. Sie wollte sie in der automatischen Aufbewahrungsbox verstauen, wie sie es jeden Abend bei Marktschluss tat, doch als sie ihren ID-Chip scannte, stieß ihr Servicetablet einen schrillen Warnton aus, der sie vor einer Überziehung ihres Creditkontos warnte. Wie es aussah, hatte sie nicht nur verabsäumt, ihre Fahrtkosten für den nächsten Tag zu verdienen, sondern nicht einmal die Standkosten reingebracht. Nun verweigerte das System ihr den Zugang.

Fluchend raffte Carna die Sträuße zusammen. Ein paar davon konnte sie in ihrer Aktentasche verstauen, doch längst nicht alle, und einige davon musste sie dabei knicken und zusammenpressen. Was nicht hineinpasste, klemmte sie sich unter den Arm. Während sie mit gesenktem Kopf über den sich nun rasch leerenden Platz lief, tat sie ihr Bestes, die Ware vor den fallenden Tropfen zu schützen, doch es war vergebene Liebesmüh. Der kalte, prasselnde Regen tränkte das Seidenpapier in ihren Armen, das sich erst wellte und schließlich in seine Bestandteile auflöste. Kurz darauf hielt Carna nur noch bunten Matsch in den Händen.

Nun würde sie also auch noch im Regen nach Hause laufen müssen. Carna schluckte Wasser, während sie eine Reihe von Verwünschungen ausstieß, die sie sonst nur von den Müllsammlern kannte, und schleuderte den Klumpen aufgelösten Papiers in den Rinnstein. Nachdem sie sich die klebrigen Reste von der Jacke gestrichen hatte, lief sie Richtung Hauptstraße.

Längst bereute sie, dass sie nach der Arbeit im Büro noch unbedingt hatte Indisch essen wollen. Nun hätte sie viel darum gegeben, diese zweihundertvierzig Credits zurückzubekommen, oder wenigstens nur einen Teil davon.

Bald darauf stellte Carna fest, dass die Hauptstraße ihre schlechteste Wahl gewesen war. Hier war sie vor dem mittlerweile strömenden Regen gänzlich ungeschützt, außerdem zogen die Autos rücksichtslos vorbei und bespritzten sie regelmäßig mit dem Schmutzwasser aus den Pfützen, die sich am Straßenrand sammelten. Nachdem sie zweimal frontal erwischt worden war und glaubte, den Straßenbelag zwischen den Zähnen knirschen zu spüren, bog sie in eine Seitengasse ein. Die Häuser standen dort dicht an dicht, und die umliegenden Dächer boten zumindest ein wenig Schutz. Fröstelnd zog Carna die Schultern hoch und marschierte ins Dämmerlicht der spärlich aufgestellten Straßenlaternen.

Nach etwa einer halben Stunde, in der sie durch enge, dunkle Gässchen geirrt war, musste sie sich widerwillig eingestehen, dass sie sich verlaufen hatte. Sie stellte sich unter einen Häusersturz, der den schlimmsten Guss abhielt, und zog ihr Servicetablet hervor. Ein knallroter, leuchtender Warnhinweis informierte sie darüber, dass sie versucht hatte, ihr Konto zu überziehen. Sie musste mehrmals klicken, ehe die Warnung verschwand und sie wieder auf das Menü zugreifen konnte, um nach einer Kartenapp zu suchen. Doch diese verlangte fünf Credits, um ihren Standort zu ermitteln – alles, worauf Carna kostenlos zugreifen konnte, war ein allgemeiner Stadtplan. Mit nassen Fingern, die sie auch an ihrer durchtränken Jeans nicht abtrocknen konnte, scrollte und zoomte sie auf dem weitläufigen Areal herum.

»Verdammt, wo bin ich?«, zischte sie.

 

DREW

»Fünfzig Credits.«

»Fuck Mann, das ist Wucher!«

»Das ist der Preis.«

»Für den löchrigen alten Eimer? Scheiße, das ist ja nicht mal das Material wert!«

»Dann trag es mit den Händen, wenn du nicht zahlen kannst.«

»Fuck!« Ich strecke meine Handfläche mit dem ID-Chip hin.

»Lotterieaufschlag?«, fragt Ratneck spöttisch, als er seinen Scanner zückt.

»Ja, du mich auch.«

Den Anspruch auf die Teilnahme an dieser Massenverarsche hab‘ ich schon vor drei Jahren verloren, als ich das erste Mal einen Job geschmissen hab. Ratneck weiß das genau, aber er behauptet, er ist gesetzlich verpflichtet, trotzdem jedes Mal zu fragen. Ich hab‘ eher den Verdacht, er genießt es nur, dabei zuzusehen, wie die Leute sich unbehaglich winden. Kaum einer, der auf seine Abfälle angewiesen ist, hat noch Score oder Spoons für die Lotterie. That´s life.

Ich zahle den verdammten Wucherpreis für den verdammten Plastikeimer mit den verdammten Löchern. Ratneck, so nennen sie den Schlachter auf der Straße, weil er sich wie eine Zecke im Nacken der Müllsammler festbeißt und so lange saugt, bis er fett genug ist, um abzufallen, oder bis nichts mehr zu saugen übrig ist. Aber shit, wir brauchen den Typen. Wenn wir sonst nichts mehr haben, dann haben wir wenigstens noch seine Schlachtabfälle. Die überlässt er uns gratis, ein echter Gentleman – aber für den Zusatzkram kassiert er fett ab. Natürlich könnte ich zehn Kilo Schweinegedärme und Rindshufe mit den verkackten Händen tragen, aber nicht weit, und nie bis zur Zentralstelle. Und für biologische Abfälle gibt´s immerhin zehn Credits pro Kilo, da machen die Dünger und Treibstoff und sowas draus. Damit bin ich trotz Eimer noch bei einem Plus von fünfzig, das ist so viel mehr, als ich auf dem Markt zusammenraffen konnte. Auf jeden Fall reicht es für den Tag, und was morgen passiert, interessiert mich erst, wenn der Morgen da ist.

»Hate your guts«, sage ich zu Ratneck, während er meine Ware in den Eimer füllt.

»Nicht alles auf einmal essen«, rät der und lässt seine Goldplomben blitzen, als er mir meinen Müll überreicht.

Ich reiße ihm den Eimer aus der Hand und recke ihm mit der freien Linken meinen Mittelfinger entgegen, dann gehe ich raus auf die Straße.

Es pisst wie blöd, und ich bin nicht mal überrascht. Hat mir auf der Tagesordnung grade noch gefehlt. Mit dem Blut und den Eingeweiden brauch ich gar nicht versuchen, ein Over zu rufen, und wenn ich zum Zug laufe, kann ich genauso gut direkt zur Zentralstelle gehen, die liegt näher. Wird also ein lauschiger Abendspaziergang. Fucking mess. Ich bin froh, dass Ratnecks elender Eimer wenigstens einen Deckel hat, auch wenn der längst nicht dicht ist. Verwässert das ganze Gulasch darin, aber vielleicht fällt´s den Typen in der Zentralstelle nicht auf, dann krieg ich sogar was extra. Das wär‘ die nassen Socken schon wert.

 

CARNA

Sie hatte sich bereits damit abgefunden, dass sie den Regen einfach in dieser nach Urin stinkenden Häuserecke abwarten würde, als ihr Tablet plötzlich ein Signal von sich gab, das Carna noch nie zuvor gehört hatte: ein fröhlicher Fanfarenton. Als sie es erneut hervorzog, ahnte sie nichts Gutes. Erwarteten sie nun Sanktionen für ihren Kontozustand? Von ihrem Vater wusste sie, dass Accounts stark eingeschränkt werden konnten, wenn die Einnahmen-Ausgaben-Relation nicht passte oder Kontobewegungen gar illegale Aktivitäten oder Arbeitsverweigerung vermuten ließen. Sogar von einer Sperrung an der Lotterieteilnahme hatte sie schon gehört. Doch bislang hatte sie immer gedacht, diese Entwicklungen müssten mindestens vierundzwanzig Stunden anhalten. Hatte sie an nicht einmal einem Tag all ihre Chancen ruiniert? Mit einem schmerzhaften Kloß in der Kehle, der sich einfach nicht schlucken ließ, entsperrte Carna ihr Tablet.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH RENÉE CARNA!

Verständnislos starrte Carna auf die Benachrichtigung. Was war das? Spam? Doch das Staatswappen prangte unter dem Text, und so dreist, das zu fälschen, waren nicht einmal die hartgesottensten Netzbetrüger. Carna öffnete die Nachricht, und ihre Augen weiteten sich.

HIERMIT INFORMIEREN WIR SIE ÜBER IHRE ERFOLGREICHE TEILNAHME AN DER ALLMONATLICHEN LEISTUNGSLOTTERIE. IHRE KOSTENLOSEN SOZIALLEISTUNGEN WERDEN INNERHALB DER NÄCHSTEN VIERUNDZWANZIG STUNDEN AUF IHREM PERSÖNLICHEN ID-CHIP FREIGESCHALTET. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH RENÉE CARNA! Für weiterführende Informationen klicken Sie …

Gewonnen. Sie hatte gewonnen! Endlich machte es sich bezahlt, dass sie seit fünfzehn Jahren zwanzig Prozent ihrer Einkünfte in den Lostopf warf. All der Ärger heute schien nur das Schicksal gewesen zu sein, das Anlauf nahm, ehe es sie mit einem großen Sprung nach vorne katapultierte, an die Spitze des Lebens! Aber hatte sie wirklich je Zweifel gehabt? Dort gehörte sie schließlich hin, und das Schicksal wusste das. Hin und wieder widerfuhren guten Menschen eben doch gute Dinge, und wer daran glaubte, der wurde früher oder später dafür belohnt.

Mit einem seligen Lächeln betrachtete Carna die Nachricht noch ein paar Minuten lang, dann steckte sie das Tablet ein und ging hinaus in den Regen. Sie fror nicht länger, ihr Glücksgefühl wärmte sie von innen. Nun würde sie den Heimweg problemlos schaffen, und morgen würde ihr neues Leben in Sicherheit und Luxus beginnen. Sorgenfrei! Vielleicht würde sie sich nach einem neuen Job umsehen, etwas Kreatives, nun, da sie nicht mehr selbst für Krankenversicherung und Altersvorsorge aufkommen musste. Als Kind hatte sie immer gerne gemalt, vielleicht könnte sie damit wieder anfangen.

Während Carna in ihren Träumen über eine goldene Zukunft schwelgte, bemerkte sie den Klang der Schritte hinter sich nur am Rande. Sie maß dem Geräusch keinerlei Bedeutung bei, denn guten Menschen widerfuhren gute Dinge. Und Carna war doch zweifellos eine von den Guten.

 

DREW

Als ich durch den Halsabschneiderbezirk komme (ja, der heißt aus gutem Grund so bei uns), hört der Regen auf. Mein Arm ist schon taub von dem Gewicht des Eimers, den ich trage, und entweder hat das Wasser ihn wirklich um fünf Kilo schwerer gemacht, oder mir geht einfach langsam die Puste aus. So oder so bin ich froh, dass ich jetzt nicht mehr weit gehen muss.

Da sehe ich einen roten Schimmer, der sich in eine glänzende Pfütze mischt. Das sieht ja fast aus wie Ratnecks Ware. Ich zögere nur kurz – Blut bedeutet Ärger, aber hey, Ärger bedeutet Action –, dann beschleunige ich meine Schritte und laufe auf die rote Pfütze zu.

Dann, so abrupt, dass ich beinahe auf dem feuchten Asphalt ausrutsche, halte ich an. Holy shit …

Irgendein schlauer Typ sagte mal, im Leben trifft man sich immer zweimal, aber scheinbar hatten wir zwei eine Bonusrunde. Da liegt doch glatt meine BBBFF! Aber viel forever steckt nicht mehr in der Businessbitch, nicht mal mehr ein today, denn die Braut ist kaltgestellt. Keine Ahnung, wie sich die feine Dame in diese unfeine Gegend verirren konnte, aber nun liegt sie da, und der Regen hat aufgehört, bevor er ihr Blut gänzlich von der Straße schwemmen konnte. Nun, Lady, nimm´s mir nicht übel, aber das kommt davon, wenn man so schicke Sachen trägt und so feine Ledertaschen hat. Die ist jetzt weg, die Tasche, mit allem, was drin war, und der Schmuck an ihrem Hals und an ihren Armen hat sich auch Beine wachsen lassen. Ich vermute, da war entweder ein Anfänger oder ein Vollprofi am Werk, denn ihr Tab haben sie ihr gelassen. Von einem Kumpel weiß ich, dass man die Dinger tracken kann, daher ist es unklug, die mitzunehmen, wenn man jemanden kalt macht. Bringt einem nur ungemütlichen Besuch von den Staatsdienern ein. Aber ich weiß auch, dass man mit den Teilen gut Kohle machen kann – man darf sie nur nicht komplett verticken, bloß in Einzelteilen. Da sind nochmal gut und gerne zweihundert Credits für mich drin, vielleicht sogar dreihundert, wenn´s das neue Modell mit den guten Platinen ist.

»Sorry, Lady«, sage ich, stelle meinen Eimer ab und ziehe das Tab aus ihrer Hosentasche. Ich will das Ding schon unter dem Schuh zertreten, als ich es versehentlich aktiviere und die Nachricht sehe, die breit auf dem Bildschirm prangt.

HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH FRAU RENÉE CARNA!

What the fuck …

Ich hab ja nicht viele Schwächen, aber Neugier gehört eindeutig dazu, also öffne ich die Nachricht. Dann stoße ich einen anerkennenden Pfiff durch die Zähne aus.

»Lady, du sitzt auf einer Goldmine!« Ich blicke auf das im Tod verzerrte Gesicht herab. »Na ja, hast auf einer gesessen. Viel kannst du damit jetzt nicht mehr anfangen. Too bad.«

Aber … kann ich vielleicht was damit anfangen?

»Das ist Abfall«, bestimme ich. »Du brauchst das nicht mehr, oder?«

Kein Widerspruch meiner neuen besten Freundin.

»Wusste ich´s doch. Sorry, Lady, aber das wär‘ echt Verschwendung. Und hier wird nichts verschwendet.« Und damit zücke ich mein Messer und suche nach dem ID-Chip in der manikürten Hand.

 

 

Über die Autorin

Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren und hat ihren Magister in Deutscher Philologie, Anglistik und Lehrerbildung an der Universität Wien gemacht. Sie hat als Lehrerin, Regaleinräumerin, Spielzeugverkäuferin und Hundefutterträgerin gearbeitet. Aktuell ist sie selbstständige Lektorin und macht gute Worte mit großartigen Menschen und Verlagen.

2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem »Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausgezeichnet. Ihr Roman Shape Me wurde für den Deutschen Science Fiction-Preis und den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.

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