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Ein Entwicklungsroman im Fantasykleid

Interview mit dem Autoren-Duo J.H. Praßl (Judith & Heinz Praßl)

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Kategorie: Interview Literatur

„Der Krieg schreibt keine Heldenlieder!" Unter diesem Motto arbeitet das österreichische Autoren-Duo J.H. Praßl seit gut 2006 an dem Fantasy-Zyklus Chroniken von Chaos und Ordnung, von dem gerade der sechste Band veröffentlicht wurde. Mit dem Auftauchen der Menschheit vor fünfzigtausend Jahren beginnt in Amalea ein ewig währender Kampf zwischen den Mächten des Chaos und den Mächten der Ordnung. Im Jahr 340 nach Gründung Fiorinde wähnt sich Amalea in der Gewissheit, dass das Chaos, sprich das Böse, besiegt ist. Es gibt nur einen, der die Welt mit anderen Augen sieht. Er lebt in Aschran, ist bekannt für seine Heerscharen von Assassinen und Orks und gilt als einer der mächtigsten noch lebenden Chaosanhänger. Sein Name ist Al’Jebal. 341 nGF schwören vier aus dem Valianischen Imperium kommende Reisende eben diesem Al’Jebal die Treue: Der Elfenfreund und Held des Imperiums Thorn Gandir, der Kriegspriester Telos Malakin, der Barbar Bargh Barrowsøn und eine Frau Namens Chara. Kurz darauf steht Amalea vor einem neuen Dunklen Zeitalter ...

David (ZWO): Woher kam diese erste Inspiration zum Wechselspiel von Krieg und Frieden?

Heinz: Alles begann mit meiner Idee vom Ende einer Geschichte (welches auch das Finale der Roman-Reihe sein wird). Am Anfang war noch nicht klar, wie die Geschichte dazu überhaupt aussieht und wie es zu diesem Ende kommen sollte. Daher war auch noch kein Wechselspiel von Krieg und Frieden enthalten. Um zu meinem Ende der Geschichte zu kommen, begann ich mir einen Anfang für eine Rollenspiel-Kampagne zu überlegen (die eigentlich nur drei Jahre dauern sollte). Nachdem ich mich immer schon für reale Geschichte interessiert habe, gab es natürlich viele Inspirationsquellen aus der Historie der Menschheit, und darin ist eben auch viel Krieg und Frieden enthalten. Um ausreichend spannende Momente und mögliche Konflikte zwischen den Charakteren zu schaffen, ließ ich schließlich die Rollenspiel-Kampagne mit dem Heraufdämmern einer Revolte beginnen. Und mit der Frage, wie und warum es zu dieser Revolte kam, hat sich das Wechselspiel von Krieg und Frieden ganz nebenbei eingeschlichen, um dann im Laufe der Jahre des Rollenspiels zu einem zentralen Thema der Rollenspielgeschichte und zum wesentlichen Hintergrundgeschehen im Roman zu werden.

David (ZWO): Wie wurde daraus ein Rollenspiel und eine eigene Welt?

Heinz: Das Ganze ist einfach gewachsen. Man könnte sagen, aus einem Zeitvertreib wurde eine Idee und daraus eine Welt. Gegen Ende meiner Schulzeit brachte mich ein Schulkollege zum Pen&Paper-Rollenspiel (wie die meisten habe ich mit Das Schwarze Auge angefangen). Zwei, drei Jahre später war es mir zu langweilig, vorgefertigte und meist sehr durchschaubare Abenteuergeschichten zu spielen, und ich begann, eigene Geschichten zu entwickeln. Da passte es recht gut, dass ich die Idee zum Ende einer Geschichte hatte. Daraus entwickelte ich (wie vorher beschrieben) eine längere Rollenspiel-Kampagne (geplant für drei Jahre) und nachdem ich ein paar interessierte Freund*innen zusammengesucht hatte, konnte es dann auch schon losgehen. Im Laufe der Zeit hörten einzelne Spieler*innen auf und es kamen neue hinzu, daher musste ich die Geschichte immer wieder anpassen. Dabei habe ich immer das geplante Ende im Auge behalten und verfolgt. Die Geschichte wurde allerdings länger und länger, und ich musste immer mehr Welt (einschließlich der dazugehörigen Historie) entwickeln, um für das Spiel auch einen „realistischen“ geschichtlichen Hintergrund zu haben. Entscheidend für die Weltentwicklung war natürlich auch, dass ich nach den Regeln einer alten Version des Rollenspielsystems Midgard spielte, in der die Welt (Magira) nur sehr rudimentär beschrieben war. Dadurch musste ich vieles selbst kreieren, hatte aber auch viele Freiheiten beim Weltenbau. Nach rund 15 Jahren des Rollenspiels (und noch weit vom Ende entfernt) ist so eine eigene Welt entstanden (in der Roman-Reihe als Amalea bezeichnet), in die auch die eine oder andere Idee der Spieler*innen mehr oder weniger eingeflossen ist. Zu dieser Zeit bekam das Rollenspiel und die gespielte Geschichte wieder neuen Input in Form von neuen Spieler*innen, darunter Judith. Dann dauerte es noch zwei Jahre bis wir (Judith und ich) mit dem Schreiben der Chroniken von Chaos und Ordnung begannen und nochmals 15 Jahre (und ein bisschen Feinschliff, die Welt betreffend) bis wir jetzt endlich das vor dreißig Jahren erdachte Ende der Geschichte (das außer mir weder Judith noch sonst jemand kennt) spielen. Alles zusammen wurde so aus den geplanten drei Jahren Rollenspiel etwas mehr als 30 Jahre, und daraus erwuchs eine neue Welt und eine Geschichte, in der der ewige Wandel zwischen Krieg und Frieden neben anderen Themen des Mensch-Seins ins Zentrum rückte.

David (ZWO): Wann kam der Verlag ins Spiel?

Judith: Erst, als wir den ersten Band als Rohfassung „im Kasten“ hatten. Nachdem ich in die Spielrunde eingestiegen war, redete Heinz wiederholt davon, dass er die Geschichte niedergeschrieben haben wolle. Irgendwann packte mich dann wohl der Ehrgeiz und ich schrieb die ersten Seiten. Damals erzählten sie noch davon, wie Thorn mit blutigem Schwert vom Schlachtfeld (im Emlin-Tal) kommt. Die Szene fiel einer der unzähligen Überarbeitungen des ersten Entwurfs zum Opfer. Beim nächsten Spieltermin legte ich Heinz den Entwurf vor. Ich kann mich noch erinnern, wie Heinz an dem Text kritisierte, dass Thorn sein noch blutiges Schwert, ohne die Klinge abzuwischen in die Scheide zurücksteckte. Ich fand das damals überkorrekt, wollte eine schön epische Szene schreiben und fühlte mich in meiner schöpferischen Freiheit gestört. Heute verstehe ich die Kritik. Dieser anfängliche Konflikt veranschaulicht vielleicht auch ganz gut unser beider unterschiedlichen Zugang, und dass wir uns möglicherweise recht gut ergänzen.

Heinz fand den Entwurf dann anscheinend gut genug, um mit mir arbeiten zu wollen. Von da an trafen wir uns regelmäßig zu unseren Romanbesprechungen und fingen an, gemeinsam am ersten Band zu arbeiten. Dabei wurde auch noch mehr draus …  

Im Hinblick auf unsere Zusammenarbeit vereinbarten wir, uns alle Rechte und Pflichten zu teilen. Auch das Geld, das wir irgendwann möglicherweise damit verdienen könnten. Wobei ich damals noch keinen Gedanken an ein Schriftstellergehalt oder einen Verlag verschwendete. Ich hatte erst mal nur den Anspruch, dass den Roman irgendjemand liest, ihn möglicherweise sogar ganz unterhaltsam findet. Das sah Heinz schon zu Beginn mit anderen Augen. Er hatte eindeutig das größere Selbstvertrauen von uns beiden. Jedenfalls damals. Böse Zungen behaupten sogar, es wäre Selbstüberschätzung. *lächelt*

Heinz: Nach einem Verlag suchten wir, als die Rohfassung von Band 1 fertig war. Wir (oder besser ich) waren davon überzeugt, dass sich die Verlage um eine achtbändige Romanreihe reißen würden. Dem war nicht ganz so. Wir brauchten zwei Jahre, viele Absagen, mehrere Strategieänderungen, Versuche mit Literatur-Agenturen und -Agent*innen und etwas Glück, dass der Acabus-Verlag Interesse zeigte. Also flogen wir nach Hamburg und trafen uns mit der damaligen Programmleiterin Daniela Sechtig und Björn Bedey (Chef der damaligen Diplomica-Verlagsgruppe) zu „Vertragsverhandlungen“. Anscheinend waren wir überzeugend genug, dass sie uns ins Verlagsprogramm aufnahmen. *grinst*

David (ZWO): Wie haltet ihr es mit euren Arbeitsabläufen?

Judith: Zu Beginn eines jeden Bandes setzen wir uns zusammen und entscheiden, welche Inhalte des Rollenspiels ins Buch kommen sollen. Wir überlegen uns so zu sagen den Plotaufbau – die wichtigsten Eckpfeiler und den großen Spannungsbogen. Danach fange ich an zu schreiben. Meistens schreibe ich dann so zwei, drei Kapitel, bevor ich diese Heinz zuspiele, der sie sozusagen lektoriert. Er hat, was den Inhalt anbelangt, das letzte Wort. Das hat seinen Grund, auf den wir später auch gerne noch näher eingehen können. Da kann es dann schon mal passieren, dass er mir das eine oder andere Detail streicht. Wenn ich Pech habe, muss ich ein ganzes Kapitel umschreiben. Ist bis jetzt aber so nur in Band 1 vorgekommen. Was die Details zwischen den Eckpfeilern betrifft, schreibe ich zunächst ganz und gar ins Blaue, wobei ich viel auf meine Intuition höre. Mittlerweile greife ich auch ein bisschen auf mein Wissen über Heinz zurück, das ich mir über die Jahre hinweg angeeignet habe. Ist, zugegeben, nicht allzu viel (Heinz ist einer der introvertiertesten Menschen, die ich kenne), aber es reicht, um mich auch ohne genauere Vorgaben im Plot vorwärts zu hangeln. Auch wenn ich komplett raten muss – z. B. was sich auf der Chaosseite gerade so zutragen könnte. Die Einzelheiten (Dialoge, die genaue Szenerie, sofern diese nicht den Plot verfälschen) bleiben normalerweise mir überlassen. Und genauso, wie wir Spieler Heinz angeblich im Rollenspiel in die Hände spielen, tu ich das offensichtlich beim Schreiben. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum oder wie genau es funktioniert, aber es funktioniert. Heinz behauptet immer, er wäre der Kopf und ich das Herz der Geschichte. Das kommt schon ganz gut hin. Aber gestritten haben wir trotzdem auf Teufel komm raus. Schlussendlich stellten wir folgende Regel auf: Bei allem, was das WAS betrifft, hat Heinz das letzte Wort, bei allem, was das WIE betrifft, ich. Das funktioniert ganz gut.

Heinz: Man könnte die Arbeitsabläufe auch so beschreiben, dass ich mit der Geschichte und der Welt die Struktur (oder das Knochenskelett) vorgebe und Judith die Ausgestaltung macht (oder das Fleisch auf die Knochen bringt). Beim Feinschliff (Manuskriptüberarbeitung) ist es dann ein Hin und Her. Das Manuskript wird von uns beiden überarbeitet und mehrmals ausgetauscht, bevor wir beide damit ausreichend zufrieden sind. Weiters möchte ich noch erwähnen, dass wir uns bei den Charakteren immer wieder von den Spieler*innen und dem Leben, das sie ihren Figuren einhauchen, inspirieren lassen. Da fließen dann auch teilweise Charakterzüge der Spieler*innen in die Romanfiguren ein. Was die Antagonisten betrifft, also jene „bösen“ Hauptfiguren, die im Spiel nur einen kurzen Auftritt hatten und damit eine Randerscheinung waren (weil die Spieler*innen mit ihren Figuren ja auf der „guten“ Seite spielen), muss ich noch anfügen, dass Judith diesen Figuren immer ganz individuelle Charakterzüge verleiht und diese dann eine ganz besondere Eigendynamik bekommen.

David (ZWO): Entwickelt sich die Story auch heute noch weiter?

Judith: Klar, wir spielen ja noch. Und solange wir spielen, entwickelt sich auch die Story weiter. Die tragenden Pfeiler sollten aber feststehen. Jedenfalls wenn es nach Heinz geht. Mal sehen, ob sein Ende auch mein Ende sein kann. *grinst* Falls nicht, wird man sehen, ob wir uns einigen können. Da gibt es schon ein kleines Restrisiko.

Was die Rundumgestaltung betrifft, sind auch die Spieler*innen maßgeblich beteiligt. Sie entwerfen sozusagen im groben die Charakterentwicklung und diverse Sideplots, oder auch einige Details der Geschichte. Sie hauchen ihr genau das Leben ein, das die Chroniken teilweise so echt werden lässt – jedenfalls, wenn es nach den Fans geht. Dieses Konzept geht aber wahrscheinlich erst so ab Band 3 oder 4 richtig auf. Davor ist es einfach nur eine Fantasygeschichte, die eine Weile braucht, bis sie in Schwung kommt und ihre Besonderheiten entfaltet.

Bestimmte Abschnitte der Chroniken sind auf jeden Fall ganz nah an den Begebenheiten im Spiel und den Figuren dran, wie sie gespielt wurden. So nah, dass die eine oder andere Aussage, oder auch eine ganze Szene eins zu eins übernommen wird. Einfach, weil sie wie für die Story zugeschnitten ist. Es gibt auch ganze Plotstränge, die sich unmittelbar aus dem Spiel entwickelt haben. Gerade in Band 6 nimmt ein Drama seinen Lauf, wie wir es nie hätten frei erfinden können. Wir glauben, eine Erfindung folgt viel zu sehr einem Plan und einer gewissen dramaturgischen Logik, um so eine Dynamik zu erreichen. In unserem Fall entsteht die Dynamik aus Heinz‘ rotem Faden, den Reaktionen, Entscheidungen und Handlungen der Spieler*innen und dem Wechselspiel zwischen mir und Heinz.

Man darf aber auch nicht vergessen, dass wir teilweise sehr weit vom Spiel weggehen müssen, um eine unterhaltsame Lektüre mit erforderlichem Spannungsbogen zu schaffen. Das ist vergleichbar mit der Übersetzung eines Buchs in einen Film. Weil es sich um zwei völlig unterschiedliche Medien handelt, muss die Handlung angepasst werden. In Band 1 merkt man zum Beispiel noch die Unausgewogenheit zwischen der Wiedergabe des Spielinhalts und der Arbeit an der notwendigen Dramaturgie bzw. der Griffigkeit und Authentizität der Figuren.

Heinz: Also, grundsätzlich steht die Story fest bzw. das Ende der Geschichte. Aber wie Judith das sehr schön zusammengefasst hat, entwickelt sich noch einiges hinsichtlich der Ausgestaltung der Bücher. Da wird so manches neu erfunden, ergänzt, verfeinert, abgeändert, weggelassen, usw. Der rote Faden, das Grundgerüst aus dem Rollenspiel, bleibt aber erhalten. Nachdem wir jetzt das Finale (und damit das Ende der Chroniken von Chaos und Ordnung) gerade spielen (es wird maximal noch zwei Jahre dauern), wird sich am Grundgerüst der Geschichte, also am roten Faden, nicht mehr allzu viel ändern bzw. entwickeln, vor allem weil das Ende ja auch schon feststeht (zumindest in meinem Kopf). Bezüglich des Endes möchte ich noch ergänzen, dass ich überzeugt bin, dass auch Judith mit dem Ende der Geschichte zufrieden sein wird. Natürlich werden wir es dann aber noch für die Romanfassung anpassen müssen.

David (ZWO): Von Pen&Paper über Rollenspiele zum Roman: eine Story, die über 25 Jahre entwickelt wurde …

Judith: Genau. Zuerst waren da Heinz und seine Idee …

Heinz: Die Entstehung des Pen&Paper-Rollenspiels habe ich weiter vorne eh schon beschrieben. Mittlerweile sind es schon über 30 Jahre Rollenspiel, und wir werden, wie gesagt, noch maximal zwei Jahre bis zum Ende der Geschichte brauchen. In dieser langen Zeit haben sich vor allem die Welt und ihre Historie entwickelt, besonders in den ersten 15 Jahren. Viele Spieler*innen haben im Laufe der Zeit mit ihren Ideen dazu ihren Beitrag geleistet und waren mir neben Musik und realer Geschichte eine große Inspirationsquelle, um Plot-Stränge, Länder, politische Systeme, Historie, Figuren, Religionen, Sprachen und vieles mehr zu schaffen. Ein Teil des Pen&Paper-Rollenspiels, nämlich die letzten 15 Jahre, bildet den roten Faden für die durchgängige Story der schlussendlich neun Bände der Chroniken von Chaos und Ordnung, die nur in Zusammenarbeit mit Judith geschrieben werden konnten und können. *Schlägt sich die Hand vor den Mund* Sagte ich neun Bände? *grinst*

Judith: Tja, dann können wir das Geheimnis auch gleich lüften. Fakt ist, wir schaffen es nicht, den gesamten Plot in, wie ursprünglich geplant, acht Bänden abzuhandeln. Das wissen wir seit der Arbeit an Band 6. Die Chroniken von Chaos und Ordnung werden eine „Ennealogie“, was angeblich der gängige Begriff für einen Neunteiler ist. Sieht so aus, als wäre ein Neunteiler aber nicht gängig. Wer kennt schon das Wort „Ennealogie“. *lacht*

 

David (ZWO): Heinz als „the man behind the story“ und Judith als Autorin: wie funktioniert das „blinde Schreiben“. Wie gehen Sie mit Informationsasymmetrien um?

Judith: Zunächst mal lebt diese Geschichte auch davon, dass sie unerwartete Wendungen beinhaltet. Das macht die Sache einfacher.

Ein Beispiel aus Band 3: Bargh soll ja zurück nach Valland, um seine Mutter zu rächen und seinem Vater im Kampf gegenüberzutreten. Das erwartet man sich als Leser*in von ihm und er selbst erwartet es auch. Er hätte es verdient, einen epischen Kampf auszutragen und würde diese Ehre in einem klassischen Fantasy-Roman vermutlich auch bekommen. Denn es passt zu seiner Rolle, zu allem, was Bargh ausmacht. In den Chroniken kommt es dann aber ganz anders. Die Herausforderung für uns besteht dabei darin, dass es uns gelingen muss, die Lesenden, obwohl wir sie ordentlich vor den Kopf stoßen, sofort aufzufangen und Trost zu spenden bzw. anderweitig zu befriedigen. Sonst frustriert es und sie „geben auf“. Das ist manchmal wahrlich ein Drahtseilakt.

Tatsache ist, Heinz kennt das Finale, ich kenne es nicht. Aber ich kenne den Verlauf der Geschichte bis zu einem bestimmten Punkt. Da habe ich zumindest das nötige Werkzeug für das dramaturgische Schreiben. Was ich nicht habe, ist die große Quintessenz. Dafür hat meine Figur Chara sie … *lacht* Ist ein Insider. Wird erst mit dem achten Band für alle verständlich sein.

Was ich meine ist, ich weiß nicht, worauf das Ganze am Ende hinausläuft. Mir fehlt so zu sagen die Pointe. Und genau das macht es so spannend für mich. Ich befinde mich in exakt derselben Situation wie meine Spielfigur und auch die anderen Protagonisten. Ich forsche für und mit Chara danach, was im Schatten der sich zutragenden Dinge tatsächlich vor sich geht, und was es mit alledem am Ende auf sich hat. Wer ist Al’Jebal und was will er? Wer oder was sind die Thanatanen und was haben sie vor zigtausenden Jahren getan? Wieso genießt Chara eine Sonderstellung und was hat es mit der Prophezeiung „Das Sandkorn auf der Schicksalswaage“ auf sich? All diese Fragen beschäftigen mich, seit ich mit Heinz diese Geschichte schreibe und an diesem Tisch dieses Spiel spiele. Ich weiß mehr über die Geschichte Amaleas als über jene der echten Welt. Das Gute daran ist, dass wir in den Chroniken die echte Welt spiegeln. Sonst wäre ich an dem Projekt nie interessiert gewesen.

Was die Informationsasymmetrien anbelangt, wie gesagt, sie passen sowohl zu unserer Erzählweise als auch zur Figur der Chara. Man könnte sagen, Chara bricht aus dem System aus. Aus dem, das Heinz irgendwann für Amalea und seine Welt geschaffen hat. Ihre Figur fügt sich nicht in das Geschehen, wie ein Held das üblicherweise tut. Es passieren Dinge, die nicht passieren dürften. Das gibt mir den nötigen Freiraum – im Spiel wie auch beim Schreiben. Zugleich sorgt unsere Regelung, dass Heinz das letzte Wort hat, was den Inhalt betrifft, dafür, dass ich nicht zu sehr vom Plotweg abkomme. Und ich kümmere mich umgekehrt darum, dass die Geschichte unterhaltsam, erleb- und fühlbar bleibt.

Heinz: Die Informationsasymmetrien werden beim Schreiben eines Bandes vor allem durch viele Diskussionen zwischen Judith und mir ausgeräumt. Dabei ist natürlich die von uns getroffene Regelung, wer das letzte Wort beim WAS und wer beim WIE hat, entscheidend. Andererseits dauert es dadurch aber eben länger, bis ein Band fertiggestellt wird.

Ich finde, das „blinde Schreiben“ hat vor allem den Vorteil, dass nicht von vornherein auf ein Ende hingeschrieben werden kann, auch nicht unbewusst. Ich mag einfach keine Geschichten, bei denen ich schon recht bald nach Beginn das Ende erkennen bzw. erahnen kann. Um diese Vorhersehbarkeit unter allen Umständen zu vermeiden, habe ich Judith nie das Ende erzählt. Dadurch kann sie es nie, auch nicht unbewusst „hineinschreiben“. Das und die teilweise durch die Rollenspieler*innen eingebrachten extremen Wendungen in der Geschichte machen, glaub ich, die Chroniken von Chaos und Ordnung auch so spannend für die Leser*innen. Sie wissen nicht, was als nächstes passiert, und können nicht erahnen, wohin das Ganze am Ende führt.

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