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Das Bildnis der Leuchtenden

Die Kurzgeschichte des Monats vom Phantastik-Autoren-Netzwerk

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Kategorie: Kurzgeschichten Literatur

Die Kurzgeschichte des Monats aus dem Phantastik-Autoren-Netzwerk e.V. stammt aus der Feder von Angelika Diem. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen.

»Da vorne ist es!«, hörte Deyra ihren Führer rufen.

Sie blieb stehen, rückte das Bündel auf ihrem Rücken zurecht und atmete tief ein. Vor ihr erstreckte sich die Hochebene von Tarson, wogendes Land überzogen mit borstigem Gras, orangenen Flechten und silbrig glänzenden Moospolstern. Weiter im Norden verhüllten Wolken die Gipfel der Schlafenden Wächter. Insgeheim war Deyra froh darüber, dass ihr der Anblick der schneebedeckten Spitzen erspart blieb. Der Weg nach Tarson hatte sie alle Kraft gekostet. Bei dem Gedanken, dass ihr Ziel vielleicht weit hinter den Häuptern der Wächter liegen mochte, ließ sie die Schultern müde hängen.

Re-Andar, den sie auf dem Markt von Kadnihra als Führer angeworben hatte, nickte ihr zu. »Bald sind wir im Lager. Dort könnt Ihr Euch ausruhen.«

Deyra bedankte sich mit schwacher Stimme. »Wird der Lha-Innit mich empfangen?«, fragte sie, während sie mit gesenktem Kopf über den federnden Boden schritten. Deyra hatte Mühe, in Re-Andars Schatten zu bleiben. Ihm schien weder die sengende Hitze noch die dünne Luft etwas auszumachen, ebenso wenig wie die beißende Kälte der Nacht. Aber er war es schließlich auch gewöhnt, wie alle Tarsii.

»Ich werde dem Lha-Innit sagen, dass ihr die Gefährtin des Farbmagiers seid.«

»Mein Mann ist Maler«, erwiderte Deyra geduldig, »kein Magier.«

»Maler, pah!« Re-Andar lachte. »Mein Bruder ist Maler, er zeichnet Muscheln und Blüten auf die Arme seiner Frauen, aber nur ein Magier vermag ganze Berge und Menschen mit einem Stück Kohle und ein paar Klecksen einzufangen. Euer Mann hat dem Lha-Innit ein Bild des Höchsten Wächters geschenkt, als Dank für ein paar Nächte an seinem Feuer und ein paar Streifen getrocknetes Fleisch.«

»Wird der Lha-Innit mir helfen, die Leuchtenden zu finden?«, fragte Deyra drängend.

Re-Andar vermied es, ihr ins Gesicht zu blicken. »Die Leuchtenden sind eine Sage der Flachländer, Gefährtin des Farbmagiers.«

»Mein Mann hat an sie geglaubt, deshalb ist er zu Eurem Volk gekommen. Ist er noch hier?«

»Ich habe Euch doch erzählt, dass Euer Gefährte uns schon vor mehr als einem Mondwechsel verlassen hat.«

»Aber Ihr weigert Euch, mir zu sagen, wohin er sich wandte.«

»Er hat es mir nicht gesagt und ich war nicht sein Hüter.«

Deyra seufzte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das hatten wir schon hundert Mal. Ihr schweigt Euch aus, dennoch, ich werde die Wahrheit erfahren.« Die Entschlossenheit verlieh ihrer Stimme einen stählernen Unterton, den auch Re-Andar nicht überhören konnte. Er blickte sie mit einer sonderbaren Mischung aus Respekt, Verzweiflung und Mitleid an, zuckte die Schultern und marschierte weiter.

Je weiter sie auf die Hochebene hinauswanderten, desto welliger wurde das Land. Ein scharfer Wind kam auf, vermochte jedoch der Sonne nichts von ihrer Hitze zu nehmen. Deyra war dankbar für die Schmiere aus Bärenfett und Kräuterölen, mit der sie sich auf Re-Andars Drängen hin alle paar Stunden eingerieben hatte, seit sie vor drei Tagen den  letzten Nadelwald hinter sich gelassen hatten. Ohne die übelriechende Mischung wäre ihr Gesicht längst ein einziger rotverbrannter Fleck, trotz des Schleierhutes, den der Wind vergeblich von ihrem Haar zu zerren versuchte.

 

Als sie die nächste Erhebung überquerten, tauchte in der Senke dahinter eine Herde kurzbeiniger Rinder auf. Graues Zottelfell schützte die gedrungenen Körper, und die seltsam gedrehten Hörner glänzten in sattem Rot.

»Shelas«, erklärte Re-Andar auf ihren fragenden Blick hin. »Sie versorgen meine Leute mit Wolle, Leder, Fleisch und Milch. Ohne sie und die Alten Riesen könnten wir hier nicht überleben.«

»Wer sind diese Alten Riesen?«

Re-Andar drehte sich um und grinste. »Wir stehen auf einem.«

»Der Hügel?«

»Das, was in ihm begraben liegt.« Er sah sich kurz um, machte ein paar Schritte und kniete nieder. Seine Hände gruben sich zwischen zwei Moospolstern in das sandige Erdreich. Deyra stellte sich neben ihn und beobachtete erstaunt, wie er etwas freischaufelte, das wie ein schmaler weißer Stein aussah.

Schließlich trat er zurück und forderte sie auf, es anzufassen. Nur zögernd glitten Deyras Fingerspitzen über die seidig glatte Oberfläche, die sich ganz und gar nicht wie richtiger Stein anfühlte, sondern wie … »Knochen!« Sie sprang erschrocken auf. »Das ist ein Grab!«

»Ganz Tarson ist ein Friedhof«, sagte Re-Andar gelassen, »der Friedhof der Alten Riesen. Ehe die Götter Tarson über alle anderen Länder erhoben, muss es unter Meereswogen verborgen gewesen sein. Meine Vorfahren haben einst einen Alten Riesen vollständig ans Sonnenlicht geholt. Er hatte die Knochen eines Fisches mit einem Maul, das zehn Männer auf einen Bissen verschlingen konnte. Wir haben auch kleinere Fische gefunden, Muschelschalen und versteinertes Krebsgetier. Aber die Reste der Alten Riesen sind durch einen Zauber, den nur die Götter verstehen, noch immer so glatt und biegsam, als wäre das Fleisch erst gestern von ihren Knochen gefallen.«

Schweigend gingen sie weiter. Deyra versuchte, an die Alten Riesen zu denken, an das Meer, in dem sie geschwommen waren, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Alwyn zurück. Heute war es vier Monate her, seit er ihr Haus verlassen hatte, in der Hoffnung, das Unmögliche zu erreichen.

Sie dachte auch an Baron Kargis, und brennender Zorn erfüllte sie. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er neben der Kutsche stand und sein Blick über Yarana, ihre vierzehnjährige Tochter, glitt. »Sie mag auf meine Burg kommen«, hatte er sie wissen lassen. »Es wird sich dort eine Stelle für sie finden, als … Dienstmädchen.«

Bleich und zitternd hatte sich Yarana an ihre Mutter gedrückt. Jeder wusste, was der Baron mit den jungen Dienstmädchen trieb.

Doch dem Gesetz nach stand ihm zu, von säumigen Pächtern einen Jahresdienst oder eine gleichwertige Leistung zu fordern. »Bedauerlich«, hatte der Baron noch zu Alwyn gesagt, »dass Er das Geld des Herzogs anderweitig verprasst hat.« Dabei wussten sie alle, dass der Baron zehn Goldstücke für Alwyns bislang bestes Werk »Die Tanzenden Wasser« von Herzog Parrayn erhalten und acht davon in seine Tasche gesteckt hatte.

All die Zeit, die Alwyn für das Bild der »Tanzenden Wasser von Ghan« auf Reisen gewesen war, das Geld für die Leinwand, die Kohle und die Farben, alles vergebens. Ohne Alwyns Unterstützung hatte Deyra die Feldarbeit trotz der Mithilfe Yaranas und ihres zwölfjährigen Bruders Faron kaum geschafft, und als dann noch ein Sommerhagel auf das erst zur Hälfte abgeerntete Getreide niederprasselte, hätten sie das Geld des Herzogs dringender denn je gebraucht.

In jenem schrecklichen Augenblick, als Deyra sich voller Verzweiflung gefragt hatte, wie sie Yarana den Jahresdienst ersparen konnten, war Alwyn vor den Baron getreten. »Und wenn ich Euch ein Bild male, wie es noch nie gemalt worden ist?«, hatte er den Baron gefragt, »könnt Ihr dann auf Yaranas Dienst verzichten?«

 »Ein Bild, das jenes der ›Tanzenden Wasser‹ übertrifft?« Der Baron hatte nicht lange überlegen müssen. »Der Herzog soll sich gelb ärgern. Ich will ein Bildnis der Leuchtenden.«

»Aber die gibt es doch gar nicht!«, hatte Deyra entsetzt ausgerufen.

»Deshalb ist auch noch nie ein Bild von ihnen gemalt worden«, hatte der Baron erwidert. »Bringe Er mir das Bild, dann darf Seine Tochter bei der Mutter bleiben. Ich gebe Ihm dafür ein halbes Jahr. Ist das Bild dann nicht in meiner Hand, wird sich Seine Tochter auf der Burg einfinden.« Mit diesen Worten hatte er sie stehen lassen.

Noch am selben Tag hatte Alwyn sein Bündel gepackt. »In allen Geschichten wird von einer Verbindung zwischen den Tarsii und den Leuchtenden berichtet. Es muss sie einfach geben, und ich werde sie finden, für Yarana«, hatte Alwyn ihr zum Abschied gesagt.

An diese Worte hatte sich Deyra geklammert, während sie weiter und weiter nach Norden vordrangen.

Endlich, ihre Füße vermochten sie kaum noch zu tragen, tauchte eine besonders große und tiefe Senke vor ihnen auf. An der tiefsten Stelle säumten gut dreißig kuppelförmige Zelte einen kleinen Bach. Sie hatten das Lager der Tarsii gefunden. Männer, Frauen und Kinder mit goldkupferner Haut und rauchgrauen Augen scharten sich um die Neuankömmlinge. Sie wirkten alle gesund und fröhlich. Die wenigen Alten bewegten sich genauso flink und kraftvoll wie die jungen Tarsii. Schwäche und Krankheit schienen ihnen fremd zu sein. Was für ein glückliches Volk, dachte Deyra neidisch.

Re-Andars drei Frauen begrüßten ihn stürmisch. Er lachte, plauderte in seiner für Deyra unverständlichen Stammessprache, verteilte kleine Geschenke, und als Deyra schon glaubte, er hätte sie vergessen, wechselte er in die Sprache des Flachlandes und stellte sie dem Stamm vor.

Als sie hörten, dass der Farbmagier ihr Gefährte war, ging ein Raunen durch die Versammlung. Deyra begegnete Blicken, die sowohl mitleidsvoll wie misstrauisch waren. Ehe sie sich einen Reim darauf machen konnte, wichen die Tarsii auf einer Seite zurück und ließen einen Weg für den Lha-Innit frei. Deyra hatte einen alten, weißhaarigen Mann erwartet, doch der Lha-Innit schien nur wenig älter als Re-Andar zu sein. Der weite Umhang aus buntgefärbtem Wollstoff umhüllte seine sehnige Gestalt. Die grauen Augen musterten Deyra von Kopf bis Fuß. Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten, aber das brennende Licht hinter dem Grau ließ sie schaudern.

»Kommt mit mir.« Der Lha-Innit winkte sie zum größten der Kuppelzelte und schlug eine der Lederhäute zur Seite. Im Inneren brannte ein kleines Feuer, der Geruch nach Kräutern und gebratenem Fleisch hieß Deyra willkommen. Erstaunt bemerkte sie, dass die gelblichen, gebogenen Stangen, die das Gerüst des Kuppelzeltes bildeten, wie große Rippen wirkten. Die Rippen der Alten Riesen! Wie sonst hätten die Tarsii auf dieser baumlosen Ebene jemals stabile Zelte bauen können?

 Das Oberhaupt der Tarsii wartete, bis es sich Deyra auf einem Bündel Häute bequem gemacht hatte. Dann ließ er sich ihr gegenüber nieder und bot ihr einen Becher mit dampfendem Kräutertee an. Deyra wollte ihren Gastgeber nicht beleidigen, also lächelte sie, nahm den Becher in Empfang und nippte an dem bitteren Gebräu.

»Ihr wandelt also auf den Spuren Eures Gefährten«, sagte der Lha-Innit.

»Bis zu Eurem Lager waren sie leicht zu lesen, Erhabener«, erwiderte Deyra, »doch weiter hat der Wind sie zugeweht. Könnt Ihr mir helfen?« Sie blickte ihn über den Rand des Bechers abwartend an. Würde er ihren Fragen ausweichen wie Re-Andar? Oder sie anlügen?

Der Lha-Innit nahm einen tiefen Schluck. »Euer Gefährte wollte längst wieder an meinem Feuer sitzen.«

»Er sagte, dass er wiederkommt? Wann?«

»Sobald ihm der große Zauber gelungen ist.«

Deyra verstand. »Das Bildnis der Leuchtenden! Wo finde ich sie?«

»Ich habe Eurem Gefährten gesagt, dass niemand den Pfad zweimal betritt. Geht nach Hause und betet für ihn zu Euren Göttern.«

Alwyn war tot? Deyra setzte den Becher ab und starrte in die Flammen. Irgendwo im hintersten Winkel ihrer Seele hatte sie es geahnt. Die Trauer blieb aus, desgleichen der Schmerz. Sie fühlte nur eine dumpfe Leere. »Wo liegt er begraben?«

Der Lha-Innit sah sie verständnislos an.

»Zeigt mir den Weg zu Eurem Friedhof. Oder überlasst ihr eure Toten den wilden Tieren?«

»Euer Gefährte liegt nicht bei jenen, die uns vor ihrer Zeit verlassen haben.«

Vor ihrer Zeit? Die Götter allein bestimmten, wann die Zeit eines jeden gekommen war, egal, was die Sterblichen davon hielten. Was machten die Tarsii mit den Leichen derjenigen, die »zu ihrer Zeit« aus dem Leben geschieden waren?

Doch es gab andere Fragen, die Deyra weit mehr auf der Seele brannten.

»Wo ist er, wenn nicht hier?«

»Bei den Leuchtenden.«

»Haben sie ihn getötet – ermordet?«

»Die Leuchtenden mögen keine Eindringlinge.«

»Er wollte ihnen doch nichts tun, nur sie malen.«

»Niemand nähert sich den Leuchtenden, bevor seine  Zeit gekommen ist. Der Farbenmagier wollte nicht hören, er ging seinen letzten Weg.«

 »Aber seine Leiche habt Ihr nicht gesehen?«, fragte Deyra vorsichtig. Hoffnung glomm in ihr auf, aber sie wagte nicht, den Funken zu nähren. »Kein Tarsii kann bezeugen, dass er tot

ist?«

Der Lha-Innit sah ihr wohl an, was sie dachte. Er seufzte und kippte den Rest seines Tees ins Feuer. Es zischte. »Habt Ihr mir nicht zugehört? Von den Leuchtenden kehrt niemand wieder.«

»Sagt mir, wo ich sie finde, bitte!«

Der Lha-Innit schüttelte den Kopf.

»Ich muss ihm nach, vielleicht hat er sein Bild noch beendet, ehe er starb. Vielleicht lebt er sogar noch. Meine Kinder, sie warten auf eine Nachricht von ihrem Vater.«

»Sie warten aber auch auf ihre Mutter.«

»Es hat mir weh getan, sie zurückzulassen. Soll alles vergeblich gewesen sein? Ohne das Bildnis kann ich meine Tochter nicht vor dem Baron und seinen Schergen beschützen. Wir können nicht woanders hinziehen, denn wer würde schon Pächter dulden, die sich um den Jahresdienst drücken? Wie kann ich Yarana vor die Augen treten, ohne das Letzte versucht zu haben?«

Der Lha-Innit schwieg.

»Muss ich mich Euch zu Füßen werfen? Wo finde ich die Leuchtenden?«

Der Blick des Tarsii glitt über ihr Gesicht, von dort in eine Ecke des Zeltes, wo ein kleines Bild lehnte.

Trotz des Halbdunkels erkannte Deyra die Umrisse eines hohen Berges, dessen weiß schimmernder Gipfel sich über die Wolken erhob. Das musste das Bild sein, von dem Re-Andar gesprochen hatte, das Bild vom Höchsten Wächter, das Alwyn für den Lha-Innit gemalt hatte.

»Wenn Ihr mir nicht helfen wollt«, hörte sie sich sagen, »werde ich die Leuchtenden alleine suchen. Nach Norden werde ich gehen und herausfinden, was jenseits des Höchsten Wächters verborgen liegt.«

Der Lha-Innit zuckte zusammen und Deyra atmete auf. Sie hatte richtig geraten. »Die Tarsii haben diese Berge nicht umsonst ›Wächter‹ getauft. Bewachen sie Euer Volk vor den Leuchtenden?«

Als der Lha-Innit nur stumm den Kopf schüttelte, lächelte sie. »Wollt Ihr mir nicht wenigstens erklären, wie ich die Wächter am besten überwinde?«

Nur zögernd und mit sichtlichem Widerwillen gab der Lha-Innit nach.

»Es führt nur ein Pfad um die Flanke des Höchsten Wächters in das verborgene Tal der Leuchtenden. Sucht nach der Stelle, wo Sternblüten besonders dicht stehen und folgt dem Band aus rotem Lehm.«

»Habt Dank!« Deyra schlang die Finger beider Hände vor der Brust ineinander und neigte den Kopf, bis ihre Stirn die Daumen berührte. »Ich werde zurückkommen, schon meiner Kinder wegen.«

Der Lha-Innit sah sie nachdenklich an. »Euer Geist brennt hell. Vielleicht …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern rief nach Re-Andar.

»Sie wird bei uns bleiben, bis sie stark genug ist, um den roten Weg zu gehen«, sagte das Oberhaupt der Tarsii. Re-Andars Augen weiteten sich und er verbeugte sich schweigend.

»Wir geben ihr mit, was immer nötig ist, damit sie den Spuren des Farbenmagiers folgen kann.«

Deyra empfand tiefe Dankbarkeit, als sie die Geschenke der Tarsii entgegennahm.

Die neuen Fellstiefel passten, das getrocknete Fleisch und die Moosbeerfladen würden sie fünf Tage lang satt machen. Nur einen Führer wollte der Lha-Innit ihr nicht mitgeben.

»Keiner von uns käme zurück«, erklärte er bestimmt. »Du wirst den Weg allein finden.«

 

Trotz der Gastfreundschaft, dem weichen Felllager und dem köstlichen Shelas-Eintopf hielt es Deyra nur zwei Tage im Tarsii-Lager. Kaum dass sie glaubte, wieder voll bei Kräften zu sein, packte sie ihr Bündel und verabschiedete sich vom Lha-Innit und von Re-Andar.

 Zu ihrem Glück hielt das gute Wetter an, bis sie die Berge erreichte. Sie folgte der Beschreibung des Lha-Innit und stieß auf den gut versteckten Beginn eines Pfades, der sich um die Flanke des Höchsten Wächters wand. Der Pfad selbst war gut ausgetreten, was Deyra wunderte, war doch jeder, der ihn benutzte, dem Tode geweiht. Und wie ein Volk von Selbstmördern hatten die Tarsii nicht gewirkt. Ohne große Steigungen und Gefälle ging es einige Stunden gemütlich dahin. Kurz vor Sonnenuntergang endete der Pfad plötzlich vor einem Felsvorsprung. Darunter tat sich ein Tal auf, schmal und gewunden, dass es fast schon eine Schlucht zu nennen war. Ein Bach gurgelte zwischen  verkrüppelten Kiefern und moosüberzogenen Felsen dahin.

 »Das Tal der Leuchtenden«, sagte Deyra halblaut, »ich habe es tatsächlich geschafft.« Sie formte mit den Händen einen Trichter und rief mit aller Kraft den Namen ihres Mannes. Die steilen Felswände des Tals warfen den Ruf zurück. Doch eine Antwort kam nicht.

 »Wo kann er nur sein?« Deyra kniete sich am äußersten Rand des Vorsprungs nieder und suchte den Talgrund nach Zeichen ab. Bis auf das Rauschen des Wassers war es seltsam still hier. Kein Wild, kein Vogel war zu sehen. Während sie vorsichtig den steilen Hang zum Bach hinunterkletterte, entdeckte sie auf der anderen Seite etwa auf halber Höhe eine dunkle Öffnung im Fels. Feiner Nebel stieg aus dem Bach auf, sie fröstelte. In der Höhle würde sie Schutz finden. Das letzte Tageslicht ausnutzend sprang sie über den Bach, um auf der anderen Talseite wieder emporzuklettern.

 Die ersten Sterne blinkten, als sie erschöpft vor dem Höhleneingang zusammenbrach. Eine Weile lag sie einfach nur da, während der Mond aufging und der Nebel das Tal mit einer Decke wie schimmernde Spinnenseide überzog. Endlich raffte sie sich auf und stolperte in die Höhle. Der Nebel reichte nicht bis hier herauf und das Mondlicht genügte, um eine Feuerstelle zu finden. Ihre Hände ertasteten trockenes Holz, etwas Laub und feine Späne. Sie zog Messer und Feuerstein heraus, und wenig später konnte sie die Hände an einem kleinen Feuer wärmen.

Sie fütterte die Flammen, und ihr Licht vertrieb die Schatten aus dem hintersten Teil der Höhle. Deyras Atem stockte, als sie das Bild sah, das da am Felsen lehnte. Sie trug die Leinwand ans Feuer und betrachtete sie. Man erkannte das Tal wieder, da war auch der Nebel und darin schwebten gespensterhafte Gestalten aus goldenem Licht. Es war ein wunderschönes Bild, aber tief in ihrem Inneren war Deyra enttäuscht. Sie konnte nicht sagen, woran es lag, aber dem Bild schien jener Funke zu fehlen, der das Werk eines Farbmagiers von der Pinselübung eines Malers unterschied. Das Bild der »Tanzenden Wasser« hatte etwas von dieser Magie ausgestrahlt, der Baron würde nicht zufrieden sein.

Deyra stellte das Bild zurück und durchforschte die Höhle weiter. Sie fand das Reisebündel, die Farbpalette und den Becher mit den Pinseln, aber von Alwyn selbst war nichts zu sehen.

Schweren Herzens rollte sie ihren Schlafsack aus. War er noch am Leben? Sie vermochte kaum noch daran zu glauben. Noch einmal trat sie an den Höhleneingang, um nach ihm zu rufen, da erblickte sie den ersten der Leuchtenden.

Die entfernt menschenähnliche Gestalt glitt unterhalb der Höhle durch den Nebel. Gebannt folgte Deyras Blick dem goldenen Leuchten, das Alwyns Bild nur ärmlich widerzuspiegeln vermochte. Eine seltsame Sehnsucht erfasste Deyra bei seinem Anblick, sie wünschte sich, unten am Bach zu sein, um den Leuchtenden aus der Nähe zu sehen. Er war nicht lange allein, mehr und mehr goldene Geistwesen tauchten im Nebel auf, stiegen hoch über das Tal empor und sanken wieder in einem Tanz hinab, dessen Musik aus uralter Zeit zu stammen schien.

Noch nie hatte Deyra etwas derart Schönes gesehen. Das Herz tat ihr weh, und ohne zu denken, trat sie noch weiter vor. Ein Stein löste sich unter ihrem Fuß und rollte den Abhang hinab.

Der vorderste der Leuchtenden hielt in seinem Tanz inne und wandte sich der Höhle zu. Erschrocken wich Deyra zurück, aber es war zu spät. Der Leuchtende kam ihr näher und näher.

Hin- und hergerissen zwischen dem Entzücken über seine Schönheit und der Wut darüber, dass er und die seinen Alwyn getötet hatten, drückte sich Deyra an die Höhlenwand.

 Sie hielt den Atem an, schloss die Lider und zählte langsam bis fünfzig. Als sie die Augen wieder öffnete, schwebte der Leuchtende nur einen Schritt vor ihr. Ihr Herz hämmerte. Sie befeuchtete ihre Lippen und flüsterte: »Mach schon, töte mich, wie du Alwyn getötet hast.«

 Der Leuchtende beugte sich zu ihr nieder, bis das goldene Leuchten ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllte. Plötzlich spürte sie einen sanften Druck auf ihrer Stirn, ein Glücksgefühl überflutete ihr ganzes Sein. Sie spürte, wie ihr Körper sich aufzulösen begann, ihre Umrisse verschwammen und sie selbst zu einer Leuchtenden wurde.

In diesem Augenblick erkannte sie Alwyn in dem Leuchtenden vor sich, sie begriff, warum sie im Lager der Tarsii keine kränklichen und altersschwachen Greise angetroffen hatte. Wer seine Zeit kommen spürte, ging freiwillig den letzten Weg, den Weg zu den Leuchtenden. Die Geistwesen der Tarsii umringten Alwyn und Deyra, teilten ihre Freude und führten sie in ihren Tanz ein.

Geborgen in einem Strom aus Zufriedenheit und Glück schwebte Deyra dahin. Zwischen ihr und Alwyn bedurfte es keiner Worte mehr, um ihre Liebe zu bezeugen. Deyra hatte nur noch einen Wunsch: in aller Ewigkeit mit den Leuchtenden zu tanzen.

Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Deyra konnte nicht sagen, ob seit ihrer Wandlung Minuten oder Stunden vergangen waren, als sich der Rhythmus der Leuchtenden plötzlich änderte.

Sie schwebten aufeinander zu und bildeten einen engen Kreis um einen der Ältesten. Sein Licht hatte zu flackern begonnen, er hing bewegungslos im Nebel.

»Sie haben mich vergessen«, teilte er den anderen wortlos mit. »Lebt wohl.«

Eine Welle aus Mitgefühl und Trauer hüllte ihn ein. Sein Licht leuchtete noch einmal kräftig auf, dann schwebte er hoch hinauf. Weit über dem Nebel sandte er ihnen einen letzten, strahlenden Gruß und verblasste.

»Warum?«

Alwyn spürte Deyras stumme Frage, und während sie wieder zu ihrem Tanz zurückfanden, erklärte er ihr, dass ein Leuchtender nur so lange existierte, wie sich Familie und Freunde seiner erinnerten.

»Yarana und Faron werden ihren Kindern von uns erzählen«, dachte Deyra, »und Alwyns Bilder machen seinen Namen unvergesslich.«  Dennoch wollte das ungetrübte Glücksgefühl nicht wiederkehren. Der Gedanke an ihre Kinder hatte sie daran erinnert, weshalb sie in das Tal gekommen war und an das Versprechen, das sie dem Lha-Innit gegeben hatte.

Alwyn spürte offenbar ihre Sorge und ihr schlechtes Gewissen, und auch die anderen unterbrachen ihren Tanz.

»Ich darf nicht bleiben«, ließ sie die Leuchtenden wissen.

»Gebt mich frei!«

»Dann musst du ohne mich gehen«, war Alwyns Antwort. »Ich habe meinen Frieden gefunden.«

Im Kreis der Gemeinschaft der Leuchtenden kehrte Deyra in die Höhle zurück. »Noch nie verspürte einer von uns den Wunsch, wieder Fleisch zu werden«, vernahm sie die Gedankenstimme des ältesten von ihnen. »Wenn dein Wille stark genug ist, den Schmerz zu ertragen, so sei es – aber ein Teil von dir wird stets eine Leuchtende sein und bleiben.«

Deyra nahm Abschied, klammerte sich an ihre Liebe zu Faron und Yarana, und langsam nahm sie wieder feste Gestalt an. Der Schmerz zerriss sie fast, aber sie ließ nicht los, bis die Wandlung abgeschlossen war. Keuchend brach sie in die Knie, bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Sie sank zur Seite und zog die Knie an die Brust. Ein tiefer, traumloser Schlaf bemächtigte sich ihrer.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie erwachte. Der Nebel hatte sich aufgelöst, die Leuchtenden waren verschwunden. Mühsam erhob sie sich und tapste zur Feuerstelle. Obwohl ihr Magen knurrte und ihr Mund sich anfühlte wie Sandpapier, musste sie sich zum Essen und Trinken zwingen. Schließlich nahm sie Alwyns Bild und trug es zum Höhleneingang, um es im Sonnenlicht noch einmal zu betrachten.

Ohne recht zu wissen warum, holte sie Alwyns Farbpalette und die Pinsel. Mit den Fingern strich sie über die Spitze des feinsten Pinsels, bis goldene Funken auf die bleichen Haare übersprangen.

Sie konnte das goldene Licht nicht sehen, das ihre Augen ausfüllte, als sie mit einem entrückten Lächeln den Pinsel in die Farben tauchte.

 

Zwei Tage vor Ablauf der Halbjahresfrist stand Deyra vor dem Tor der Burg. Ein Diener öffnete ihr, sah die verhüllte Leinwand und fragte nach ihrem Mann.

 »Alwyn hat sein Leben für das ›Bildnis der Leuchtenden‹ geopfert.« Sie reichte dem Diener das Bild. »Ich nehme an, der Baron schläft noch.«

 Der Diener nickte.

»Er wäre sicher erfreut, wenn sein erster Blick auf das Bild fallen könnte. Hängt es am besten so auf, dass er es gleich nach dem Aufwachen sieht. Am Tuch ist eine Schnur befestigt, mit der er das Bild enthüllen kann, ohne sein Bett verlassen zu müssen. Aber«, sie blickte dem Diener fest in die Augen, »niemand sonst soll es ansehen, versprecht es mir.«

Der Unterton in ihrer Stimme zwang den Diener, ein Versprechen zu murmeln.

»Ich  verlasse  mich  auf  Euch  und  Euren gesunden Menschenverstand.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging.

Bereits tags darauf erfuhr sie von einer Nachbarin, dass der Baron den Verstand verloren hatte. »Er liegt nur im Bett und starrt auf das Bild. Keinen Menschen duldet er im Zimmer. Weder gegessen noch getrunken hat er, und will ihn jemand sprechen, bekommt er einen Tobsuchtsanfall. Wenn das so weitergeht mit ihm, können ihn seine Erben bald begraben.«

Deyra dankte ihr für die Nachricht und spazierte summend zurück auf das Feld, wo ihre Kinder eifrig Unkraut zupften. In einer Woche würde der magische Glanz des Bildnisses erloschen sein, und die Erben würden seine lebendige Schönheit bewundern und sich erstaunt fragen, was daran den Baron in den Wahnsinn getrieben hatte. Yarana war in Sicherheit.

»Noch ein paar Jahre, Alwyn«, flüsterte Deyra, »bis Faron eine Braut gefunden hat und ich Yarana in guten Händen weiß. Bis dahin werde ich dafür sorgen, dass wir lange, sehr lange nicht vergessen werden.«

Sie unterdrückte das sehnsuchtsvolle, goldene Leuchten in ihren Augen und gesellte sich lächelnd zu ihren Kindern.

 

Angelika Diem ist …

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