Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Hallo Aiki Mira, du bist ein bisschen ein aufsteigender Stern in der Phantastik. Du bist Autorx diverser Romane die u.a. bei Fischer Tor oder Polarise erscheinen, hast zahlreiche Kurzgeschichten in mal kleineren und mal größeren Magazinen veröffentlicht, hostest einen Podcast für den swr und reflektierst deine Arbeit in diversen Kolumnen, etwa für die Zeit. Gleichzeitig bist du der kleineren, unabhängigen Phantastik Szene verbunden. Kannst du dich uns ein bisschen vorstellen und sagen, wie du zur spekulativen Literatur gekommen bist?
Aiki Mira: Hallo, Andreas, ich finde, du hast mich sehr gut vorgestellt, vielen Dank dafür. Science Fiction Literatur hat mich bereits als Kind sehr interessiert. Ein Roman, den ich früh gelesen habe und der mich lange begleitet hat, war z.B. Andymon von den Steinmüllers.
Andreas (ZWO): Du behandelst viele aktuelle Themen. So spielen etwa virtuelle Welten und künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle in deinem neuesten Roman Proxi. In wie weit prägen dich aktuelle Debatten und Entwicklungen? Haben sie substantiell Einfluss darauf, was du schreibst oder geben sie eine zeitgemäße Form für Themen, die dich schon länger beschäftigen?
Aiki: Ja, das aktuelle Zeitgeschehen prägt mich und damit auch mein Schreiben. Darüber hinaus gibt es Themen wie Queerness, die mich, seit ich denken kann, beeinflussen. Noch bevor ich dafür Begriffe hatte wie “nonbinär”, “genderfluid”, oder “Neopronomen” habe ich nach Wegen gesucht, über diese Erfahrung zu schreiben.

Andreas (ZWO): Auffällig ist dein intensives arbeiten mit Sprache. Also dein oft bewusst spärlicher, ungeschönter Stil oder die Entwicklung eigener Dialektfetzen. Wie verortest du den Einfluss von Sprache darauf, wie wir leben? Und wo kommen deine Inspirationen für deinen Sprachstil und deine Kunstdialekte (oder sollte ich sagen Sprachschöpfungen?) her?
Aiki: Sprache ermöglicht mir, mich mit der Welt zu connecten und sie bietet mir als Klangwelt ein ästhetisches Erleben. Ich versuche für jedes Buch nicht unbedingt eine neue Sprache, aber immer einen ganz eigenen Sound zu entwickeln. Dafür lasse ich mich von Vielem inspirieren, auch von Musik. Texte werden dann so lange überarbeitet, bis ich glaube, den speziellen Klang der zukünftigen Welt getroffen zu haben. Gern lese ich meine Texte laut, damit ich höre, ob der Sound stimmt.
Andreas (ZWO): Gute Literatur zeichnet sich oft dadurch aus, aus starren Genregrenzen auszubrechen oder diese neu zu verorten. Nichts desto trotz glaube ich, dass sie hilfreich sein können, um einen Eindruck von einem Buch zu bekommen. Du schreibst zweifelsohne Sience Fiction, bezeichnest deine Spielart aber spezifischer als queere SF. Auch scheint mir der Begriff “Progressive Phantastik” für dich zu passen. Wie stehst du zu diesen Labels? Mit welchem kannst du am besten für dich leben?
Aiki: Queer*SF und Progressive Phantastik sind Projekte, an denen ich aktiv mitarbeite, indem ich diese mithilfe queer*feministischer Erzähl- und Schreibweisen auch praktiziere. Beide Projekte verstehe ich als politisch, weil sie sich mit den Strukturen der Diskriminierung und Marginalisierung auseinandersetzen. Sie bündeln transformative Praktiken, die das Genre verändern. Solche Labels empfinde ich weder als starr, noch als einengend. Ich verstehe sie als ongoing und als Kooperation, durch mein Schreiben kann ich daran teilnehmen und aktiv mitgestalten.
Andreas (ZWO): Ich glaube man darf festhalten, dass sich in dieser Hinsicht einiges in der Phantastik der letzten Jahre getan hat. Dennoch wird etwas diskutiert, ob das Projekt Progressiver Phantastik gescheitert sei. Wie schätzt du es ein? Wie ist es um die aktuelle (deutschsprachige) Phantastik bestellt? Erleben wir vielleicht sogar einen backlash?
Aiki: Ich suche aktiv eine zuversichtliche optimistische Haltung, weil diese mir ermöglicht, positiv und konstruktiv zu handeln und mitzugestalten. In meiner Tätigkeit als Autorx erlebe ich in der deutschsprachigen, in der europäischen und US Amerikanischen SF transformative queer*feministische Praktiken, die weit über die Konstrukte einer weißen rassistischen kapitalistischen patriarchalischen SF hinausgehen und daran möchte ich mit meiner Arbeit anknüpfen.

Andreas (ZWO): Du bezeichnest Proxi als eine Endzeit Utopie. Zwei Begriffe, die man üblicher Weise nicht miteinander verbindet. Was ist denn eine Endzeit Utopie? Und was macht Proxi zu einer solchen?
Aiki: Endzeit Utopie bedeutet für mich: über das Ende hinaus zu schreiben, trotz allem weiter zu machen. Proxi zeigt eine Welt, nach dem Klimakollaps. Menschen haben keinerlei Hoffnung mehr für die Landschaft und kämpfen nur noch für virtuelle Welten. In dieser Endzeit begeben sich drei Personen auf einen Roadtrip und alles ändert sich: Sie ändern sich, ihre Welten ändern sich – das ist die Utopie in Proxi. Damit ist Proxi ein Beispiel für das, was ich unter Post-Climate-Fiction verstehe: ein Weitermachen im Kollaps.
Andreas (ZWO): Brauchen wir mehr Utopien?
Aiki: Das ist eine aktuelle Forderung, die in der deutschsprachigen SF gerade viel diskutiert wird: mehr Utopien! Ich finde es sehr spannend, sich mit Utopien und utopischem Denken auseinanderzusetzen, weil es mich herausfordert, nämlich unsere Welten und unsere Zukünfte für uns alle besser zu machen – und das ist auch ein Anliegen des Queer*Feminismus.
Andreas (ZWO): Du hostest gemeinsam mit Isabella Hermann den Podcast Das war morgen. Eine wundervolle Reihe mit Retro-SF Hörspielen. Ihr tretet dabei weitgehend hinter das Stück zurück. Was ist eure Rolle im Podcast? Und hast du eine Folge, die du uns besonders als Einstieg ans Herz legen kannst?
Aiki: Isabella und ich ordnen die Hörspiele ein bisschen ein und diskutieren dabei verschiedene Aspekte. Durch den Podcast bin ich der Arbeit von Eva Maria Mudrich begegnet. Die preisgekrönte Autorin schreibt komplexe Hörspiele, die das Medium voll ausschöpfen. Ich bewundere ihre Arbeit sehr und würde alle ihre Hörspiele empfehlen.

Andreas (ZWO): Dein ausgezeichnetes Neongrau wird ebenfalls als aufwändiges Hörspiel vorbereitet. Offenbar hast du eine besondere Affinität zum Hörspiel. Was macht dieses Format für dich so besonders? Und kannst du uns ein paar Worte mehr zum Neongrau-Projekt sagen?
Aiki: Genau, Neongrau erscheint am 26.02. als ARD-Hörspielserie. Ein aufwändiges Projekt, an dem ich mitarbeiten durfte. Das Medium Hörspiel reizt mich sehr! Ich bin audiophil und erlebe Texte als Sound, d.h. ich höre Texte selbst beim leise Lesen. Neongrau zeichnet sich durch vielfältige Slangs und Neologismen aus, im Hörspiel können diese Sprachen ganz anders lebendig werden. Auch die Neongrau-Welt wird durch viele Sound-Details hörbar und dadurch anders erfahrbar. Erleben zu dürfen, wie Menschen eine erfundene Kunstsprache verkörpern, als wäre es ihre eigene Sprache – das ist richtig krass, davon bekomme ich immer wieder total Gänsehaut!
Andreas (ZWO): Abschließend wollte ich dich fragen, was wir in naher Zukunft noch von dir lesen, hören oder vielleicht gar sehen dürfen. Woran arbeitest du zur Zeit? Und: auf welche Bücher freust du dich persönlich gerade am meisten?
Aiki: Gerade habe ich das Manuskript für den nächsten Roman abgegeben, da geht es um Frankfurt und Hyperkapitalismus, und den gibt es noch dieses Jahr zu lesen! Zu hören gibt es am 26.02. Neongrau als Hörspielserie und am 07.03. Neurobiest als Hörbuch gesprochen von Anne Müller, auf diese beiden Produktionen freue ich mich ganz besonders! Außerdem freue ich mich auf das neue Buch von Jeff VanderMeer Absolution und seit ich in Paris gelesen habe und etwas mit der französischen SF in Kontakt gekommen bin, möchte ich unbedingt etwas von der queer*feministischen SF Autorin Sabrina Calvo lesen, da gibt es leider noch keine Übersetzungen, deshalb habe ich mir vorgenommen, das mal auf Französisch zu probieren :)

Über Aiki Mira
Aiki Mira schreibt Essays, Kurzgeschichten und Romane. Aikis Kurzgeschichten wurden mit dem Deutschen Science Fiction Preis und dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet und ins Englische, Französische und Chinesische übersetzt.
Die Romane NEONGRAU und NEUROBIEST erhielten beide den Kurd-Laßwitz-Preis. NEONGRAU wurde zudem als ARD-Hörspielserie adaptiert.
Aikis neuster Roman PROXI erschien 2024 bei Fischer Tor. Von der European Science Fiction Society erhielt Aiki den Chrysalis Award. Für den SWR co-hosted Aiki den Science Fiction Podcast DAS WAR MORGEN.

Autorxbild von Miguel Ferraz
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