Nadine (ZauberweltenOnline): Frau Dr. Dzwiza, Sie sind Archäologin mit einem Forschungsschwerpunkt in der antiken Magie. Das klingt sicherlich für viele Menschen nicht nach einer typischen universitären Thematik. Können Sie uns einen Abriss darüber geben, was Ihre Arbeit in diesem Themenfeld ausmacht? Mit welchen Hürden haben Sie bei diesem Untersuchungsgegenstand zu kämpfen?
Dr. Dzwiza: Meine Forschung zur antiken Magie ist quellenbasiert, das heißt, ich arbeite einerseits mit den Originaltexten der ägyptischen und griechischen Zauberhandbücher, andererseits mit den archäologisch überlieferten magischen Artefakten. Eine weitere Quelle umfasst literarische Zeugnisse, also die Werke antiker Autoren, die über Magie geschrieben haben.
Das spannende an meiner Arbeit ist, dass ich den direkten Kontakt zu den antiken Quellen habe, Papyrussammlungen und Museen besuche, und die Texte selbst übersetze. Aktuell arbeite ich an der ersten deutschsprachigen Edierung des umfangreichsten Zauberhandbuchs der Antike, einer fünf Meter langen und rund 34 cm hohen Papyrusrolle, die beidseitig beschriftet ist. Sie enthält zahlreiche Ritualanleitungen für Gefäß- und Lampenoffenbarungen, Liebeszauber, einige üble Flüche und viel Medizinisches, darunter auch Pflanzenbeschreibungen und Übersetzungen der Pflanzennamen ins Griechische. Geschrieben wurde sie in Demotisch, das ist eine altägyptische Sprache und Schrift, die ca. seit dem 7. Jahrhundert vor Christus bis in das 5. Jahrhundert nach Christus verwendet wurde.
Abbildung 1: Ritualanleitung für eine Lampenoffenbarung, geschrieben in Demotisch. 2.-3. Jahrhundert. Papyrus AMS 65 (C) Reijksmuseum van Oudheden in Leiden
Richtig spannend war auch meine Arbeit zur Herstellung und Handhabung magischer Artefakte. In den antiken Zaubertexten sind detaillierte Angaben zu rund 270 Artefakten und ihren Beschriftungen enthalten. Ich hatte damals die griechischen und ägyptischen Quellen durchforstet, wow, war das ein Erwachen. Wir haben zwar gut 5.000 archäologisch überlieferte antike magische Artefakte (zum Beispiel Gemmen, Fluchtafeln, Papyrusamulette, Goldtäfelchen …), aber in den allermeisten Fällen fehlt der archäologische Kontext. Das heißt, wir wissen nichts über den genauen Fundort und die Fundumstände. Wurde das Artefakt zum Beispiel in einem Tempel gefunden oder in einem Privathaus, in einem Brunnen, einem öffentlichen Bad? Und selbst dann, wenn wir das über ein Artefakt wissen, verrät uns das nichts darüber, wie das Artefakt entstanden ist. In welche rituellen Handlungen war es eingebunden, welchem Zweck diente es, stand es im Mittelpunkt eines Rituals, oder war es nur eins von mehreren relevanten Elementen?
Abbildung 2: Ritualanleitung für ein „Ausgezeichnetes Mittel, um Zorn niederzuhalten, um Gunst und Sieg bei Gerichtsverhandlungen zu gewinnen“, P. Oslo I, 1 - PGM XXXVI, 35-68. Courtesy of the University of Oslo Library Papyrus Collection
Und hier kommen die Ritualanleitungen ins Spiel. In ihnen sind genau diese Informationen beschrieben. Von den Vorbereitungen, die der Praktizierende treffen muss, über die Anrufungen, geheimen Namen, Räucherstoffe, Handlungen, Orte, Zeiten …. all die Informationen, die uns zu den archäologisch überlieferten Artefakten fehlen, die finden wir hier! Es gibt detaillierte Informationen darüber, aus welchen Zutaten magische Tinten herzustellen sind, mit welchen Werkzeugen eine Inschrift in einen Edelstein geritzt werden muss, welche Handlungen vollzogen werden müssen, und zu welchem Zweck die Artefakte erschaffen wurden. Erst in den antiken Ritualanleitungen wird der Reichtum und die Vielschichtigkeit antiker Magievorstellungen richtig deutlich.
Übersetzung der Ritualanleitung in Abbildung 2:
Ausgezeichnetes Mittel, um Zorn niederzuhalten, um Gunst und Sieg bei Gerichtsverhandlungen zu gewinnen; es wirkt sogar gegen Könige; kein kräftigeres gibt es. Nimm eine silberne Platte und ritze mit Bronzegriffel die folgende Zeichnung der Figur und die Namen, und trage sie in deinem Unterkleid, und du wirst siegen. Die geschriebenen Namen lauten so: „Iaô, Sabaôth, Adônai, Elôai, Abrasax, Ablanathanalba, Akrammachamari, pephtha phôza, phnebennouni, „Herr der Urflut“, Herren Engel, verleiht mir, dem NN, Sohn der NN, Sieg, Gunst, Ruhm, Glück bei allen Männern und bei allen Frauen, besonders aber beim NN, Sohn der NN, für immer und ewig. Führ es aus!“
Übersetzung nach Karl Preisendanz, Papyri Graecae Magicae - Die griechischen Zauberpapyri, Bd. II, Stuttgart 19742, 164.
Und hier kommen wir dann auch zu dem zweiten Teil Ihrer Frage: Welche Hürden begegnen mir bei meiner Arbeit? Moderne Übersetzungen! Egal, zu welcher Sie greifen, da strotzt es nur so von Subjektivität und, ganz banal aber mit folgeschweren Konsequenzen, Fehlern über Fehlern. Ein Beispiel: In den „Papyri Graecae Magicae“ von Preisendanz (deutsche Übersetzung) und Betz (spätere englische Übersetzung) wimmelt es nur so von den Worten „Magie“ und „Zauberei“. In den Originaltexten, die Preisendanz zusammengestellt hat, tritt das Wort „Magie“ nebst Abwandlungen lediglich viermal auf. Was moderne Übersetzer banal mit „Magie“ und „Zauber“ übersetzen, ist in Wahrheit wesentlich vielschichtiger, differenzierter und komplexer, als es die beiden Worte auszudrücken vermögen. Die antiken Autoren verwendeten Begriffe wie Dynamis, Energeia und Oikonomia, und eine Reihe anderer Fachbegriffe aus der antiken Ritualpraxis, die bisher nicht zusammenhängend untersucht wurden.
Eine weitere Hürde ist, dass viele Sammlungen Fotos ihrer Papyri und Artefakte nur kostenpflichtig oder nachgerade gar nicht zur Verfügung stellen. Die Nutzung im eigenen Blog oder in den sozialen Medien ist teilweise noch heute ausgeschlossen oder kostet zusätzlich.
Nadine (ZWO): Ein wenig Begriffsklärung noch vorweg: Wie definieren Sie den Magiebegriff innerhalb Ihrer Forschung?
Dr. Dzwiza: Wenn sich das innerhalb eines Interviews erklären ließe, wäre das für die Magieforschung in etwa so wie die Entdeckung der Weltformel in der Physik. :-) Aber Sie sprechen da einen zentralen Punkt in der Magieforschung an: Das Fehlen einer klaren Definition. Aber ist das überhaupt möglich? Seit einigen Jahren empfehlen verschiedene Kollegen, den Begriff „Magie“ nicht mehr zu verwenden, und stattdessen besser von „ritual power“ zu sprechen. Das ist natürlich Unsinn, solange dieser neue Begriff genau so wenig definiert ist wie der Magiebegriff. Dennoch gibt es die Tendenz in der Forschung, den Begriff „Magie“ zu meiden.
Wenn man einmal die Menge der Überlieferung, den Überlieferungszeitraum und den geographischen Rahmen betrachtet, also tausende Artefakte und Texte, rund 700 Jahre und ein Weltreich, das von Großbritannien bis nach Nordafrika und von Westspanien bis in den vorderen Orient hineinreicht, dann wird schnell klar, dass hier viel zu viele Menschen, Gruppierungen, kulturelle, religiöse, politische und gesellschaftliche Hintergründe mit im Spiel sind, um davon auszugehen, dass es in der Antike eine einheitliche Definition von Magie gegeben hat.
Aber: Irgendwo muss man anfangen, und das ist es ja auch, was Forschen ausmacht: Es ist ein steter Fluss. Das heißt, bei meiner Arbeit mit den antiken Ritualanleitungen verwende ich das Kriterium, dass eine einzelne Person anhand von Wissen in der Lage ist, höhere Mächte nach dem eigenen Willen zu kontrollieren. Ist das der Fall, verwende ich den Begriff Magie. Ich höre förmlich, wie eine Kolleg*innen zu einem „Ja, aber ...“ ansetzen. :-)
Das mit dem Wissen ist übrigens ein auffallend unbeachtetes Kriterium, denn anders, als zum Beispiel bei Harry Potter, wo man zum Zauberer und zur Hexe geboren sein muss, basiert die antike Magie allein auf Wissen. Jeder, der sich dieses Wissen aneignen konnte, konnte höhere Mächte kontrollieren.
Ich verwende den Begriff Magie darüber hinaus als einen übergeordneten Begriff, und nicht als Alleinstellungsmerkmal.
Nadine (ZWO): Ihr aktuelles Projekt, ein Sachbuch mit dem Titel Wie funktioniert antike Magie ist bis zum 17.04.2022 als Startnext-Projekt im Crowdfunding. Was erwartet die Lesenden hier?
Dr. Dzwiza: Antworten auf die Fragen „Wie funktioniert antike Magie?“ und „Woher wissen wir, was wir darüber wissen?“
Das E-Book Wie funktioniert antike Magie? ist das erste wissenschaftlich fundierte Sachbuch in deutscher Sprache über die ägyptischen, griechischen und römischen Quellen zur antiken Magie und darüber, was sie uns über ihre Funktionsweisen verraten. Und es gibt einen Einblick in das Leben der Menschen, die Magie praktiziert und die sie genutzt haben.
Konkret:
- Die erste Übersicht in deutscher Sprache über die rund 90 überlieferten antiken ägyptischen und griechischen Zauberhandbücher (antike lateinische Zauberbücher sind nicht erhalten) und die über 5.000 archäologisch überlieferten magischen Artefakte.
- 34 antike Ritualanleitungen werden Schritt für Schritt besprochen und erklärt, um so die Funktionsweisen antiker Magie und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen zu veranschaulichen. Wenn vorhanden, werden die Erläuterungen mit magischen Artefakten aus der archäologischen Überlieferung ergänzt. Jede Zauberanleitung wird darüber hinaus in der Originalsprache mit einer aktuellen Übersetzung wiedergegeben und zum Schluss folgen Links, weiterführende Literaturangaben und – soweit vorhanden – ein großes Farbfoto der Anleitung. Hierzu gibt es eine aktuelle Leseprobe.
- Die erste Übersicht über die Funktionsweisen antiker Magie.
- Darüber hinaus werden antike und moderne Fachbegriffe erklärt und ein umfangreiches Literatur- und Onlinequellenverzeichnis zu den magischen Artefakten bereitgestellt.
Und was erwartet Magieinteressierte bei dem Crowdfunding? Die rewards oder „Danke schöns“ umfassen neben dem Buch die ungewöhnliche Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen der Übersetzung eines ägyptischen Zauberbuchs zu werfen, mehr über den aktuellen Stand der Zauberzeichenforschung und über spannende und rätselhafte magische Artefakte zu erfahren. Sozusagen direkt von der Quelle.
Abbildung 3: Satorformel in Geheimschrift, 5. Jahrhundert oder später. Inventarnummer G 40906 Pap, Österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung.
Nadine (ZWO): Sie beziehen sich in diesem Buch auf ägyptische, griechische und römische Quellen zur antiken Magie. Lassen sich innerhalb der Texte und Praktiken mehr Gemeinsamkeiten oder mehr Unterschiede finden?
Dr. Dzwiza: „Mehr mehr oder mehr weniger?“ ;-)
Das hängt davon ab, welche Kriterien man untersucht. Eine kultur- und sprachübergreifende Gemeinsamkeit ist zum Beispiel der „Synkretismus“, was in unserem Kontext so viel wie Vermischung oder Zusammenspiel von Vorstellungen bedeutet. In den antiken Quellen treten häufig unterschiedliche Vorstellungen und unterschiedliche Gottheiten gemeinsam auf, also zum Beispiel ägyptische Gottheiten neben griechischen, oder römische zusammen mit keltischen. Eine wesentliche Gemeinsamkeit ist die Vorstellung, persönlich mit einer höheren Macht in Kontakt treten und mit dieser kommunizieren zu können.
Unterschiede wiederum können auch innerhalb einer Sprache oder innerhalb einer Ritualgruppe, selbst innerhalb einer Formel auftreten. Nicht jeder Liebeszauber ist gleich gestrickt, Formeln werden immer wieder verändert und individuell mit anderen Formeln kombiniert, und rituelle Handlungen können modifiziert werden.
Ein schönes Beispiel sind hier die antiken Zauberzeichen. Sie sind in der ägyptischen, griechischen und römischen, aber auch der jüdischen Magie und der weiterer antiker Kulturen belegt. Es gibt rund 1.000 antike Quellen, Artefakte und Ritualanleitungen, in denen die Verwendung von Zauberzeichen überliefert ist. Aber die wenigsten Zeichen sind zweimal überliefert, insgesamt kennen wir rund 8.000 unterschiedliche Zeichen.
Man kann es so sagen: Die grundsätzlichen Vorstellungen sind allen gemeinsam, ihre Ausgestaltungen und Ausführungen hingegen reflektieren die Vielfältigkeit und den Einfallsreichtum menschlicher Vorstellungskraft.
Abbildung 4: Magische Gemme mit rätselhaften Zauberzeichen, auf der Rückseite eine Inschrift, die sich wahrscheinlich an die Erzengel und Orpheus richtet. Die 3 SSS mit einer Querlinie über der Mitte sind das Zeichen des antiken Schlangengottes Chnoubis. 3. Jahrhundert. Foto credit: Inventarnummer 80.AN.132.2, The J. Paul Getty Museum, Villa Collection, Malibu, California
Nadine (ZWO): Sind die Zauberzeichen und Ritualpraktiken Ihrer Forschung nach überwiegend aus einem religiösen Ursprung oder auch aus Aberglauben heraus entstanden?
Dr. Dzwiza: Was ist für Sie „Aberglaube“? Und würden das andere Menschen genauso sehen?
„Aberglaube“ ist ein suggestiver, negativ wertender und abgrenzender Begriff. In der antiken Magie werden Götter, Engel und Dämonen aus einer Vielzahl an Kulturen angerufen, von denen viele Tempel und Statuen haben und teilweise auf eine Jahrtausende lange Tradition zurückblicken. Viele der rituellen Handlungen finden sich darüber hinaus auch in Tempeln und im Privatkult. Und was Schadenszauber betrifft: Googlen Sie mal „Ächtungsritual“.
Ein Beispiel: Die Zauberpraxis aus dem sogenannten A Coptic Wizard‘s Hoard. Sie beginnt mit einer Mischung aus Gebet und Anrufung, die mit „O Gott, O Herr, O Herr, O Allmächtiger“ anfängt. Kurz darauf erklärt der Verfasser aber:
„Nicht jeder Mensch kann das Ritual durchführen, es sei denn, er ist hinreichend rein und in allen seinen geheimen Namen und Kräften vervollkommnet, denn es bewirkt, dass ein Geist auf ihm ruht, und Weisheit, mehr als in jedem anderen Menschen.“
Und zum Schluss gibt es 32 praktische Anwendungen für das Ritual, darunter auch eine „Für einen Kaufmann, damit er davon profitiert“ und eine weitere „Um zu bewirken, dass dir im Traum eine Offenbarung zuteil wird“.
Nadine (ZWO): Sie arbeiten bereits seit einigen Jahren im Bereich der antiken Magie; Begegnet Ihnen in der Gegenwart öfter antike Magie in einem „modernen Gewand“?
Dr. Dzwiza: Antike Magie findet sich in zahlreichen großen modernen Werken, von dem Herr der Ringe über Harry Potter bis zur Scheibenwelt, von der Drachenprinz-Saga zu Sandman und den Chroniken des Schwarzen Mondes. Oder in Goethes Zauberlehrling. Im LARP, Tischrollenspiel und in Computerspielen steckt viel antike Magie, in der Regel unbemerkt. ;-) (Anm.d.Red.: Mehr im Blogartikel von Dr. Dzwiza: Antike Magie in Fantasy-Klassikern)
Nadine (ZWO): Zuletzt noch eine obligatorische unwissenschaftliche Spaßfrage: Haben Sie denn einen der Zaubersprüche selbst getestet?
Dr. Dzwiza: Ich habe mal auf einer Twilight-Con ein Schwert vor einer Schlacht mit einem aufwendigen Ritual vorübergehend magisch machen wollen. Dazu habe ich ganz klassisch-antik Sterne vom Himmel gezogen und ägyptische Beschwörungsformeln rezitiert. Am Ende des Tages entschied die SL, dass das Schwert jetzt permanent magisch sei. Voilà.
Nadine (ZWO): Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg für Ihr Startnext-Projekt!
Dr. Dzwiza: Herzlichen Dank für Ihr Interesse an der antiken Magie und für Ihre Zeit!