Ann A. Kalliope (Zauberwelten-Online): Zuerst einmal vielen Dank dafür, dass wir heute zusammen über das Genre Progressive Phantastik sprechen werden. Bevor wir gleich dazu kommen, stell dich doch bitte einmal kurz vor und erzähl uns, welcher Weg dich in die phantastische Literatur geführt hat?
James A. Sullivan: Ich bin James A. Sullivan – Schriftsteller und Stubenhocker. Ich schreibe Fantasy- und Science-Fiction-Romane. Mein Weg zur phantastischen Literatur ist für jemanden, der 1974 geboren wurde und ab Ende der 70er in Deutschland aufgewachsen ist, wahrscheinlich kein ungewöhnlicher. Zumindest merke ich das, wenn ich mit Kolleg*innen austausche. Für mich war zum Beispiel die Anime-Serie Captain Future ebenso prägend wie die Wiederholungen der alten Flash-Gordon-Serie. Aber den größten Einfluss hatte damals Star Wars auf mich – und die Zeichentrickverfilmung von Der Herr der Ringe, die es damals gab und die mitten in der Handlung abbricht. Neben den Filmen und Serien hatten auch Hörspiele großen Einfluss auf mich – allen voran das Hörspiel zu Tron. Den Film sah ich erst Jahre später.
Auch über Märchen und Sagen führte mein Weg zur Phantastik. Die ersten Romane, die ich in dieser Richtung gelesen habe, stammten von Leuten wie Roger Zelazny und Andre Norton.
Ebenfalls wie viele Autor*innen, die in den 1980ern aufgewachsen sind, habe ich Pen-and-Paper-Rollenspiele gespielt – vor allem Das Schwarze Auge. Auch was Video- und Computerspiele angeht, war ich früh dabei, und hier war die Phantastik ebenfalls mein Lieblingsgenre – ob bei frühen Rollenspiele wie Ultima IV oder aber Adventures wie Zork. Man könnte also sagen, dass damals bei mir alles in Richtung Phantastik wies.
Zum Schreiben von Phantastik kam ich aber eher langsam. Am Anfang habe ich Fanfiction zu Star Wars geschrieben, später dann Erzählungen zu eigenen Rollenspiel-Szenarien, die ich für meine Spielrunde entwarf.
Ann A. (ZWO): Du hast mit Bernhard Hennen zusammen an Die Elfen geschrieben hast. Da interessiert es mich, wie ihr euch kennengelernt habt. Und, wie genau ist eure Zusammenarbeit damals vonstattengegangen?
James: Bernhard habe ich Mitte der 90er auf einer Convention kennengelernt. Es könnte die Feencon gewesen sein, aber ich bin mir nicht mehr sicher, weil wir damals auf vielen Cons unterwegs waren. Bernhard und ich konnten sehr gut miteinander über das Schreiben und über Literatur allgemein reden. Er wurde für mich eine Art Mentor, und er wollte immer mal was mit mir gemeinsam schreiben. Ich befand mich 2003 gerade in den Vorbereitungen zu meinen schriftlichen Magisterprüfungen und beschäftigte mich zu dem Zeitpunkt vor allem mit der deutschen Literatur des Mittelalters, als Bernhard mich anrief und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm gemeinsam einen Roman über Elfen zu schreiben. Ich war natürlich überrascht und bat ihn, mich eine Stunde später noch einmal anzurufen. In der Zeit überlegte ich, ob ich das wirklich machen sollte. Und da ich mich nicht ein Leben lang fragen wollte, was gewesen wäre, hätte ich Bernhards Angebot angenommen, sagte ich zu, als er mich wieder anrief. Ich war dabei offenbar so sehr in meine Prüfungsvorbereitungen vertieft, dass ich so viel sagte wie: Wenn Frau Aventiure einem die Hand reicht, kann man nicht ablehnen. Und so begannen wir mit der Arbeit – vom Exposé bis zum fertigen Roman. Das Studium hat übrigens nicht unter der Arbeit gelitten.
Ann A. (ZWO): Besteht denn auch heute noch regelmäßiger Kontakt oder bist du jetzt „allein“ in den Weiten der Phantastik unterwegs?
James: Ich habe mit Bernhard Kontakt, aber als Autor stehe ich längst auf eigenen Beinen und bewege mich auf verschlungenen Wegen durch das große Feld der Phantastik. Nach Die Elfen war für mich klar, dass ich erst einmal was ganz anderes machen wollte, und ich kehrte dann erst nach fast einem Jahrzehnt mit Nuramon zu dem Elfenstoff zurück. Da hatte Bernhard schon zahlreiche Romane in der Erzählwelt von Die Elfen geschrieben. Und nach Nuramon brauchte ich wieder einen Wechsel und schrieb dann drei Science-Fiction-Romane.
Ann A. (ZWO): Wie gerade angesprochen, ist die Phantastik ein großes Spielfeld. Und es gibt bereits zig Genres und Subgenres, die sich teilweise immer wieder mehr oder weniger verändern. Da die Übersicht und Orientierung zu behalten ist an sich schon nicht leicht. Wieso dann jetzt noch ein weiteres Genre?
James: Genres sind eigentlich nur Blickwinkel auf die Literatur. Das sind Einteilungen, die von Menschen gemacht sind, um sich einen Bereich zu erschließen. Es kann also beliebig viele Subgenres der Phantastik geben – auch solche, die sich widersprechen oder überschneiden. Die Nützlichkeit entscheidet darüber, ob wir sie verwenden oder nicht.
Darauf, Progressive Phantastik als festen Begriff zu verwenden, kam ich eher leichtfertig. Ich sprach auf Twitter über mein aktuelles Schreibprojekt und bezeichnete das Genre als "progressive High Fantasy". Das traf einen Nerv, und ich sprach mit Kolleg*innen darüber – insbesondere mit Judith und Christian Vogt, ob Progressive Phantastik nicht genau unsere Ecke des Genres beschreibt. Und auch Nora Bendzko war von dem Begriff angetan. Mit ihr war ich beim Podcast Phantastikbrunch zu Gast, und dort sprachen wir u. a. darüber. Im Sommer dann schrieb ich gemeinsam mit Judith Vogt den Artikel Lasst uns Progressive Phantastik schreiben bei tor-online, in dem wir unsere Ideen zu ersten Mal ausformulierten.
Progressive Phantastik ist dementsprechend erst einmal nur ein beschreibender Begriff: Phantastik, die progressiv ist. Das ist Phantastik, die man politisch gesehen in ein linkes Spektrum einordnen könnte und die sich im Klaren darüber ist, dass alles politisch ist, auch der Status quo. Die Progressive Phantastik beschäftigt sich zum Beispiel mit Themen wie Diversität, Anti-Rassismus, Queerness und Feminismus. Sie hinterfragt Traditionen und trägt nur jene weiter, die sie noch für zeitgemäß hält. Es geht im Grunde auf allen Ebenen darum zu reflektieren, was wir tun, warum wir es tun und ob wir es anders tun können. Die Progressive Phantastik ist sich im Klaren darüber, dass alle Texte unsere Welt abbilden, ganz gleich wie weit sie von der Wirklichkeit entfernt zu sein scheinen. Sie ist sich auch der Zweiseitigkeit der Phantastik bewusst: dass wir eine Erzählwelt haben, die sich fundamental von der Wirklichkeit unterscheiden kann, die Leser*innen aber in unserer Welt leben und dementsprechend die Werke auf ihre jeweilige Wirklichkeit beziehen.
Neben der Inhaltsebene lässt sich diese Vorgehensweise auch auf die Form übertragen – in Anlehnung an die Musik mit ihrem Progressive Rock und Progressive Metal. Auch auf der Formebene lässt sich darüber reflektieren, welche Mittel für das jeweilige Projekt oder ganz allgemein angemessen sind.
Durch diese Brille lässt sich nicht nur das betrachten, was gerade passiert, sondern auch die Literatur der Vergangenheit. Ich habe da vor allem die englischsprachige Science Fiction und Fantasy der 1960er und 1970er Jahre vor Augen, also die New Wave und die feministische Science Fiction. Und natürlich würde ich Werke von N. K. Jemisin, Kameron Hurley, Annalee Newitz und anderen, die heute veröffentlichen, ebenfalls dazu zählen.
Ann A. (ZWO): In der Phantastik bestimmen vor allem Science-Fiction und Fantasy das Geschehen. Man könnte meinen, dass Science-Fiction an sich schon progressiv und Fantasy konservativ und im Althergebrachten verharrend ist. Siehst du das auch so?
James: Nein, das sehe ich nicht so. Ich schreibe ja sowohl Fantasy als auch Science Fiction und empfinde die SF in weiten Teilen als extrem konservativ – insbesondere im deutschsprachigen Raum. Dass eine Handlung in einer fiktiven Zukunft spielt, mag den Eindruck von Progressivität in dem Sinne erwecken, über den wir hier reden. Wenn dort aber vieles von dem, was heute schon fast überwunden ist, dennoch fortgeschrieben wird, ist das nicht automatisch besser als das, was Fantasy-Werke leisten. Ich würde sagen, die Voraussetzungen scheinen in der SF besser sein. Wir projizieren unsere Gegenwart (in der Regel) in eine fiktive Zukunft und können uns da tatsächlich fragen, wie die Dinge dort aussehen. Aber in der Fantasy haben wir im Grunde komplette Freiheit. Ich kann in der SF zum Beispiel eine Zukunft zeigen, in der Rassismus überwunden ist; in der Fantasy könnte ich ohne weiteres sogar eine Welt zeigen, in der es Rassismus, wie wir ihn kennen, nie gegeben hat. Die Voraussetzungen unterscheiden sich in den beiden Subgenres, aber die Möglichkeiten sind nur durch unsere Fantasie begrenzt. Wir müssen die Möglichkeiten eben nur nutzen. Und das bedeutet, dass wir den Status quo und uns selbst hinterfragen und uns endlich von Dingen wie dem Geniekult verabschieden müssen, die das Unbewusste und das Unreflektierte feiern. Oder anders gesagt: Wir sollten mehr Verantwortung übernehmen. Tun wir das nicht, haben wir die Eskapismus-Vorwürfe, mit denen wir immer wieder konfrontiert werden, verdient.
Ann A. (ZWO): Die Zeit ist also grundlegend reif für die Progressive Phantastik. Und du hast bereits solche Eckpunkte wie Diversität und Feminismus angesprochen. Aber wie schlägt sich das dann in den Geschichten nieder? Woran erkenne ich, als vielleicht noch unerfahrene*r Phantastik-Anfänger*in, dass ich eine Progressive Phantastik-Geschichte vor mir habe?
James: Das ist natürlich nicht allgemeingültig zu beantworten. Ich kann es mal an meinem aktuellen Projekt zeigen, weil es in der High Fantasy sehr deutlich wird. In der High Fantasy sind Erzählwelten oft so aufgebaut, dass früher alles besser war und mit der Zeit alles verblasst und sich abschwächt. Die Magie schwindet zum Beispiel langsam aus der Welt; die Kultur war früher reicher und verkümmert langsam. Auf Lebewesen bezogen kann diese konservative Sichtweise schnell rassistische Züge tragen und entspricht einer Haltung, die uns allzu oft in der Realität begegnet, wenn Leute sich in Zeiten zurückwünschen, in denen ihre Privilegien noch was zählten.
Der Gegenentwurf ist, dass die Dinge sich zum besseren entwickeln. In meinem neuen Roman geht u. a. um Elfen, und diese kennen ihre Wurzeln nicht genau; sie sind einst aus der Sklaverei entflohen und ziehen seither über Zauberportale von Welt zu Welt und entwickeln sich weiter. Und auch wenn sie gelegentlich Rückschlage erleiden, ist ihre ganze Kultur auf das Voranschreiten ausgelegt. Und weil sie auf der Reise durch die Welten gemerkt haben, dass jedes Mitglied ihrer Gemeinschaft wichtig ist, sorgen sie dafür, dass alle genug gesellschaftlichen Raum haben, um sich zu entfalten. Das ist dann natürlich der Hintergrund für Themen wie z. B. Diversität oder Feminismus.
Nun könnte man sagen, dass die Fantasy-Welten mit all ihren unterschiedlichen Wesen schon immer vielfältig waren, aber es fällt auf, dass die Vielfalt, die wir in unserer Welt erleben, oft nicht abgebildet wird, sondern lediglich die Vorurteile, die es gegen andere Kulturen gab und gibt. Zu oft werden ganze Kulturen auf eine einzige Eigenschaft wie Gier oder Wildheit reduziert. Um das zu vermeiden müssen Autor*innen sich mit der Wirkung bzw. den möglichen Lesarten ihrer Werke auseinandersetzen. Da gilt es Vielfalt nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen zu zeigen, sondern auch innerhalb der Gruppen; und da gilt es Räume zu schaffen, in denen sich Vielfalt zeigen kann. Dazu ist es nötig, immer wieder einmal stehen zu bleiben und über das eigene Handeln zu reflektieren.
Ann A. (ZWO): Jetzt wollen wir es aber mal ganz genau wissen. Kannst du zwei oder drei Beispiele nennen, in denen klar wird, was Progressive Phantastik ist?
James: Beginnen wir mit einem älteren Titel, um zu illustrieren, dass das, was wir Progressive Phantastik nennen, eigentlich schon lange existiert. Joanna Russ’ We Who Are About To ist ein Science-Fiction-Roman aus den späten 1970ern, der die klassische Geschichte eines Raumschiffabsturzes erzählt. Das wurde damals bereits oft behandelt und zwar in der Regel so, dass gebärfähige Frauen sozusagen das Überleben der Menschheit sichern sollten. Sie wurden also auf ihre Biologie reduziert. Gerade die Science-Fiction der 50er und 60er hat sich mit misogynen Texten hervorgetan. Insbesondere die Erzählung The Queen Bee von Randall Garrett muss hier genannt werden, aus der Frauenhass geradezu heraussticht. Das ist mit Abstand die sexistischste Geschichte, die ich je gelesen habe. Aber auch in den 1970 gab es noch Autor*innen, die in die gleiche Kerbe schlugen – gerade zu einer Zeit, in der in den USA eine entscheidende Debatte über Abtreibung geführt wurde (Roe v. Wade). Es gab 1975 eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Marion Zimmer Bradley auf der einen Seite und Vonda N. McIntyre und Joanna Russ auf der anderen. Bradley hatte den misogynen Trope in ihrem Buch Darkover Landfall verwendet und wurde in einer Rezension von McIntryre dafür kritisiert, woraufhin Bradley mit einem Brief antwortete und Russ dann darauf reagierte. Auf diesem Hintergrund kann am We Who Are About To als Antwort auf diese Auseinandersetzung und den misogynen Trope allgemein lesen.
In We Who Are About To ist der Hauptfigur nach dem Absturz des Raumschiffes klar, dass sie und die Crew alle verloren sind und sterben werden. Und dementsprechend reagiert sie auf die Pläne der männlichen Crewmitglieder, dass die Frauen Babies kriegen müssten, damit die Zivilisation fortbestehen könne, mit den Worten: "Civilization is fine. […] We just don’t happen to be where it is." ("Der Zivilisation geht es gut. […] Wir sind einfach nicht dort, wo sie sich befindet."). Die Figur wehrt sich im Folgenden mit allen Mitteln gegen die Versuche, ein Patriarchat aufzubauen. Es ist ein kurzes, düsteres Buch; es zeigt aber, wie Phantastik im Dialog mit dem eigenen Genre und mit den Themen der Zeit stehen kann.
Ein anderes Beispiel ist die Return to Nevèrÿon-Reihe von Samuel R. Delany. Das ist deswegen interessant, weil es sich dabei um Sword & Sorcery handelt, also um das Subgenre der Phantastik, das am wenigsten Anerkennung findet, dabei handelt es sich bei der Nevèrÿon-Reihe um einige der anspruchsvollsten und progressivsten Bücher der 1980er Jahre. Es geht um eine Gesellschaft auf der Schwelle von der Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft, um Sklaverei und viele andere Themen; aber den Fokus möchte ich auf etwas legen, das damals höchstaktuell war: Denn in Band 3 – Flight from Nevèrÿon (1983) – gibt es den Kurzroman The Tale of Plagues and Carnivals. In der Erzählwelt breitet sich eine Krankheit aus, die an AIDS angelehnt ist. Dabei hätte man es belassen können. Die Anspielung wäre klar gewesen, aber Delany macht noch mehr. Er wechselt zwischen Szenen, die in der Fantasy-Welt spielen und solchen, die im New York der frühen 80er angelegt sind und zeigt, wie die Menschen und die Gesellschaft mit der Krankheit umgehen. So stehen eine phantastische und eine nicht-phantastische Darstellung nebeneinander und zeigen u. a. wie wir Phantastik lesen können. The Tales of Plagues and Carnivals ist eine der frühestens literarischen Auseinandersetzungen zum Thema AIDS, aber leider – wie so oft – wird selbst den besten Büchern außerhalb der Phantastik wenig Beachtung geschenkt.
Als letztes Beispiel möchte ich einen deutschsprachigen Roman aus den letzten Jahren nennen, an dem man ganz gut zeigen kann, wie progressive Konzepte ganz natürlich in einem Roman erscheinen können. Bei Wasteland von Judith und Christian Vogt handelt es sich um einen waschechten post-apokalyptischen SF-Roman, der ganz klar von den Mad-Max-Filmen inspiriert ist. Allerdings spielt die Handlung im Rheinland, und ein Schaufelradbagger ist das Gefährt der toxischen Gang, die die Gegend terrorisiert. Das Progressive finden wir aber nicht bei dieser Gang, sondern in einer Gemeinschaft, in der eine der beiden Hauptfiguren lebt, dem sogenannten "Handegebundenmarkt". Das ist eine Gemeinschaft in der es so gut wie keine Hierarchien gibt – im Grunde eine Anarcho-Utopie, die zeigt, dass sich selbst in einer toxischen Umgebung Gemeinschaften finden, die ohne Diskriminierung und Marginalisierung auskommen. Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch seine Form aus. Er verzichtet weitgehend auf das generische Maskulinum und zeigt, dass es möglich ist, nahe an eine gendergerechte Sprache heranzukommen – und das, ohne Markierungen wie das Gendersternchen zu verwenden. Auf der Formebene finde ich einen Punkt besonders interessant: die Erzählweise. Die beiden Hauptfiguren sind als Ich-Erzähler*innen angelegt. Laylays Geschichte wird im Präteritum erzählt, und durch die Sprache wirkt es so, als würde Laylay uns mündlich darlegen, was geschehen ist. Bei Zeeto, der anderen Hauptfigur, wird im Präsens erzählt. Wir erleben das Geschehen mit, während es abläuft. Warum sollte man eine solche Form wählen? Und die Antwort darauf ist: weil diese Form hervorragend zu Zeetos Blick auf die Welt passt. Denn Zeeto ist bipolar und schwankt immer wieder zwischen depressiven und manischen Phasen hin und her. Eine spätere Einordnung – durch das Präteritum – würde diese Bewegung nicht so ausdrücken können, wie das Miterleben im Augenblick. Hier wurde also eine Form gewählt, die perfekt zum Dargestellten passt. Und ich weiß, dass Christian und Judith viel Zeit investiert haben, um Zeetos Bipolarität richtig darzustellen. Dass das durch die Form unterstützt wird, ist etwas, das ich mir öfter in Romanen wünsche und das für mich einen großen Teil der Progressiven Phantastik ausmacht.
Ann A. (ZWO): Was auch eng mit der Progressive Phantastik verbunden ist, ist das Sensitive Reading. Der ein oder andere hat es sicher schon gehört, aber nicht jeder kann sich etwas darunter vorstellen. Was genau ist Sensitive Reading?
James: Sensitivity Reading ist im Grunde ein Art Spezial-Lektorat. Ein Text oder Teile eines Textes werden darauf überprüft, ob ein sensibles Thema angemessen behandelt wird. Oft geht es um die Darstellung von marginalisierten Personen. Wenn Autor*innen zum Beispiel wissen möchten, ob ihre Darstellung von einer Schwarzen Figur angemessen ist, können sie ein Sensitivity Reading in Anspruch nehmen. Dann wird der Text auf problematische oder auch unpassende Inhalte geprüft. Da werden problematische Bezeichnungen für Schwarze Menschen, exotisierende Beschreibungen von Hautfarben oder rassistische Klischees entdeckt und Lösungsvorschläge gemacht. Wie ein Lektorat ist Sensitivity Reading mit Kosten verbunden. Deshalb bleibt zu hoffen, dass es gelingt, immer mehr Verlage davon zu überzeugen, den Wert dieses Services zu erkennen und ihn zu bezahlen. Als deutschsprachige Anlaufstelle haben Elif Kavadar und Victoria Linnea die Seite Sensitivity Reading aufgebaut. Dort gibt es auch eine nach Themenbereich sortierte Listen mit Sensitivity Readern.
Ann A. (ZWO): Aber noch einmal grundlegender gefragt: Wieso benötigt ein*e Autor*in von Phantastik denn überhaupt Fingerspitzengefühl gegenüber seinen Leser*innen?
James: In dem Augenblick, in dem wir darüber reflektieren, welche Traditionen wir fortführen und welche nicht, denken wir auch an die Wirkung von Texten. Eine rassistische, queerfeindliche und andere verletzende Darstellungen treffen Menschen. Leider hat sich in der Öffentlichkeit nicht die Entwicklung vollzogen, die es in der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert gab. Grob gesagt war es eine Entwicklung fort von der Intention der Autor*innen und hin zur Rezeption von Leser*innen. Unsere Texte werden von Menschen unterschiedlich gelesen. Und selbst wenn es nicht unsere Absicht ist, Menschen zu verletzen, kann es passieren, dass wir es dennoch tun. Reflexion bedeutet, dass wir uns mit den möglichen Lesarten unserer Texte beschäftigen. Gerade in der Phantastik lassen sich Texte auf unterschiedlichste Weise lesen, weil sie deutlich von der Realität abweichen und es in vielen Fällen nicht klar ist, wie das Verhältnis der Erzählwelt zu unserer Welt zu verstehen ist. Wofür steht Magie? Wofür stehen Zauberwesen? Verweist die Monarchie im Fantasy-Roman tatsächlich auf die Monarchie in die Realität? All diese und andere Fragen lassen sich stellen und je nach Blickwinkel unterschiedlich beantworten. Diese Offenheit ist Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil wir in einer Situation, in der der Bezug zur Wirklichkeit unklar ist, selten als relevant betrachtet werden. Segen, weil in der Vielfalt an Lesarten auch eine Chance liegt. Wir können Leute auf unterschiedliche Weise erreichen. Oder anders gesagt: Unsere Texte bergen die Chance auf unterschiedliche Weise nützlich zu sein.
Als Autor habe ich das Problem, dass ich es nicht allen Recht machen kann. Es wird Kritik geben; es wird auch böse Kritik geben. Und alles, was ich tun kann, ist, mir verschiedener Lesarten bewusst zu werden und dafür zu sorgen, dass sich einige Lesarten anbieten und andere ausschließen.
Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass Leser*innen ihre Gewohnheiten haben und trotz oft bekundeter Wünsche eine Abweichung von den Gewohnheiten schnell bestraft werden kann. Aber Gewohnheiten ändern sich nicht, wenn wir als Autor*innen kein Angebot machen. Das heißt aber auch, dass wir uns öfter mal dorthin bewegen müssen, wo Leute es sich ein bisschen zu gemütlich gemacht haben, um einfach da zu sein und zu zeigen, dass es Alternativen gibt – ganz gleich in welchem Subgenre wir uns bewegen.
Ann A. (ZWO): Es ist also eine Gewohnheitssache, in vielerlei Hinsicht. Wie wird die Progressive Phantastik denn aktuell im deutschen Sprachraum wahrgenommen? Gibt es schon eine richtige Plattform, eine größere Anhängerschaft für dieses junge Genre oder steckt es noch in den Kinderschuhen?
James: Leute, die von sich selbst sagen, dass sie Progressive Phantastik schreiben, gibt es noch nicht viele. Es ist ein loser Verbund von Leuten, die sich in dieser Richtung engagieren. Ein Beispiel wäre das Magazin Queer*Welten, das von Kathrin Dodenhoeft, Lena Richter rund Judith C. Vogt herausgegeben wird. Eine Anthologie, die ich in das Genre einordnen würde wäre Urban Fantasy: Going Intersectional, die von Aşkın-Hayat Doğan und Patricia Eckermann herausgegeben wurde.
Eine feste Plattform gibt es nicht. Es wird sich einfach zeigen, ob dieser Blickwinkel auf die Phantastik nützlich ist. Unsere neuen Romane erscheinen nun nach und nach, und der Austausch geht weiter.
Ann A. (ZWO): Wen genau würdest du also zur Progressive Phantastik einsortieren? Und wer hat da für dich Pionierarbeit geleistet?
James: Pionierarbeit haben natürlich erst einmal Leute Ursula K. Le Guin, Samuel R. Delany, Joanna Russ oder Octavia E. Butler geleistet. Aber wenn wir jetzt mal auf die deutschsprachige Phantastik schauen und darüber reden, aus welchem Diskurs der Begriff entsprungen ist, müsste ich, was nicht verwundern sollte, vor allem Judith und Christian Vogt nennen. Ich kannte sie von Twitter und habe sie persönlich 2018 auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt, und auf dem Austausch mit ihnen baut vieles von dem auf, worüber wir jetzt reden. Aber eigentlich geht es jetzt erst los – mit Nora Bendzkos Die Götter müssen sterben, einem Dark-Fantasy-Roman, in dem es um Amazonen im alten Griechenland geht und in dem Mythologie und der trojanische Krieg eine Rolle spielen. Patricia Eckermann führt in ihrem Roman Elektro Krause zurück in die 1980er und erzählt da die Geschichte einer Schwarzen Geisterjägerin. Und Judith und Christian Vogt legen nicht nur im August mit Anarchie Deco einen historischen Urban-Fantasy-Roman vor, sie arbeiten gerade an einen Fantasy-Roman, der sich um Wikingerinnen und die Nordische Mythologie dreht. Von mir wird im Herbstprogramm Die Chroniken von Beskadur in zwei Bänden erscheinen. Und damit bewege mich genau in das Subgenre der Fantasy, das als besonders konservativ gilt. Allein dieser Mischung sieht man an, dass wir uns viel vorgenommen haben. Und wir sind nicht allein: Es gibt Romane von Elea Brandt, Annette Juretzki, Sarah Stoffers und vielen anderen – manche sind schon erschienen, auf andere warten wir noch geduldig und voller Vorfreude. Und wenn ihr unseren Diskurs erleben wollt, dann besucht uns auf Twitter. Ich bin da als @fantasyautor unterwegs und die anderen sind da auch zu finden.
Ann A. (ZWO): Kurz vor Schluss, noch mal eine ganz andere, persönliche Frage: Gibt es einen Charakter, aus deinen eigenen Büchern oder anderen Geschichten, der oder die du selbst gerne mal eine Zeit lang wärst? Und warum gerade dieser Charakter?
James: Ich wäre gerne mal für einen Tag die Figur Gamil aus meinem Roman Die Stadt der Symbionten. Gamil ist als Symbiont mit einem Interface ausgestattet, das es ihm erlaubt per Gedanken mit anderen Symbionten zu kommunizieren, und er kann so auch Maschinen steuern. Ich würde in dieser fernen Zukunft einen Tag lang durch Jaskandris, eine Kuppelstadt in der Antarktis spazieren. Aber nicht länger, denn ich bin mir sicher, dass ich nach einer Weile schlimme Kopfschmerzen von all den Eindrücken bekommen würde.
Ann A. (ZWO): Dann bedanke ich mich sehr an dieser Stelle für das Gespräch. Wenn die Leute nun richtig Lust darauf bekommen haben, Progressive Phantastik von dir zu lesen und noch mehr darüber zu erfahren, kannst du da für die kommende Zeit schon etwas verraten?
James: Im Oktober erscheint der erste Band von Die Chroniken von Beskadur bei Piper. Der Titel lautet Das Erbe der Elfenmagierin. Band 2 erscheint im Februar 2022 – Titel: Das Orakel in der Fremde.
Wer noch ein bisschen zur Progressiven Phantastik wissen will, kann sich das Panel anschauen, dass Judith und Christian Vogt gemeinsam mit mir auf dem Litcamp 2021 gegeben haben.
Und in dem Radio-Feature Mit Elfen und Magiern durch das Braunkohlerevier beim Deutschlandfunk kann man ebenfalls einiges über die Progressive Phantastik und über mich erfahren.
Vielen Dank für die Fragen.
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