Eine alltägliche Ausgangslage im Schöpfwerk
Die Geschichte spielt im Schöpfwerk, einer berüchtigten Wiener Wohnhausanlage, die für ihren Ruf als sozialer Brennpunkt bekannt ist und in ihrer Größe einen eigenen Mikrokosmos beherbergt.
Protagonist Cosmin ist wie häufig bei Erik Andara ein Außenseiter mit großen Hoffnungen. Er ist fest entschlossen, seine Matura zu bestehen, um mit einem gut bezahlten Job seinen depressiven Vater besser unterstützen zu können. Doch Zweifel nagen an ihm – Zweifel an seinen Fähigkeiten, an seiner Zukunft und an den Möglichkeiten, die ihm als junger Mann in einem gesellschaftlich schwierigen Umfeld offenstehen.
In der Hoffnung, sich einen Vorteil zu verschaffen, trifft er sich mit seinem alten Freund Stefan. Zusammen mit dem gleichaltrigen Radu, einem weiteren Bekannten, beschließen sie, „intelligenzsteigernde“ Pillen von einem Drogendealer zu kaufen, über dem Cosmin Gerüchte zu Ohren gekommen sind und mit dem Radu angeblich bekannt ist. Über allem der Hunger erzählt von ihrem Weg zu diesem Verkäufer der Wunderdroge. Der Weg durch das Schöpfwerk zu dem Mann wird nicht nur zur physischen Reise durch das Hochhaus, sondern auch zu einer grotesken Auseinandersetzung mit den Abgründen ihrer Realität, bei der die Grenzen zwischen Symbolik und Horror ständig verschwimmen.
Zwischen Sozialrealismus und surrealem Horror
Augenscheinlich sind die Probleme, mit denen die drei jungen Männer konfrontiert werden, nur allzu trist und leider alltäglich. Sie begegnen rassistischen Beleidigungen, werden ohne echten Grund von der Polizei kontrolliert und bedroht und haben mit den unausgesprochenen Spannungen zu kämpfen, die zwischen ihnen herrschen, nachdem sie sich über die Jahre entfremdet haben. Diese leider sehr realen Konflikte werden jedoch zunehmend von einer grotesken, magischen Dimension durchdrungen.
Je höher die Freunde im Haus steigen, desto mehr entgleitet ihnen die Realität. Herausforderungen, die zunächst weltlich scheinen, nehmen albtraumhafte Formen an. Ein älterer Mann im Fahrstuhl weigert sich, sie hereinzulassen, und beschimpft sie. Was zunächst wie ein typischer Ausdruck von Rassismus oder sozialer Ausgrenzung gedeutet wird, wandelt sich zu einer körperlichen Metamorphose: Der Mann verliert seine menschliche Form, wandelt sich selbst in ein außerirdisches Wesen und verschlingt einen der Jungen. Schließlich wird er jedoch von seiner eigenen Einsamkeit und Andersartigkeit überwältigt, was das Entkommen ermöglicht – eine Szene, die viel Raum für Interpretation lässt.
Diese surrealen Elemente dienen nicht nur der Dramatisierung, sondern wirken auch wie eine metaphorische Spiegelung der inneren und äußeren Kämpfe der Protagonisten. Andara zeigt einmal mehr, wie sich das Grauen hinter der Fassade des Alltäglichen verbirgt und wie es diejenigen verändert, die ihm begegnen.
Eine abruptes Ende und viele Fragen
Wie in vielen von Andaras Werken bleibt auch das Ende von Über allem der Hunger abrupt und offen. Kurz nach einem flüchtigen Moment der Hoffnung bricht die Handlung ab, ohne eine klare Auflösung zu bieten. Stattdessen bleibt der Leser mit einer unheimlichen Einsicht zurück: Die Grenzen zwischen Realität und Albtraum, zwischen realen Gefahren und kosmischem Horror, sind durchlässig und auch in unserem ganz Realen Alltag laufen wir manchmal Gefahr, geistes- und realitätszersetzenden Mächten Raum zu geben.
Bemerkenswert sind auch die Kommentare des „Propheten der letzten Tage“, die immer wieder in Form von Graffiti in die Handlung eingestreut werden. Sie geben der Geschichte eine zusätzliche symbolische Ebene und verstärken das Gefühl, dass diese Novelle Teil eines größeren Erzählkosmos ist – einer düsteren, verzerrten Version von Wien, die sich mit Andaras bisherigen Werken nach und nach zu einem Mosaik zusammensetzt.
Fazit
Über allem der Hunger ist eine eindringliche und verstörende Novelle, die einmal mehr Andaras Fähigkeit unter Beweis stellt, gesellschaftliche Themen mit surrealem Horror zu verbinden. Die düstere Atmosphäre, die symbolträchtigen Begegnungen und die metaphorische Tiefe machen dieses Werk zu einem weiteren faszinierenden Puzzlestück in seinem literarischen Kosmos.
Wer sich auf diese kurze, aber intensive Reise durch eine bizarre und verstörende Welt einlässt, wird mit einem vielschichtigen, nachhallenden Leseerlebnis belohnt. Ständig stellt sich die Frage, ob die phantastischen Ereignisse tatsächlich geschehen oder vielmehr ein Spiegel der inneren Konflikte der Protagonisten sind. Aber Achtung, diese Geschichte will bewusst irritieren und herausfordern.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.