Dontnod ist eine der Spieleschmieden, die es geschafft hat, das Bingewatchen einer Netflix-Serie mit spannendem Gameplay zu verbinden. Als dem französischen Entwicklertstudio 2015 mit Life is Strange der Durchbruch gelang, war das Episodenspiel durch den damaligen Genreprimus Telltale-Games (The Walking Dead) bereits fest etabliert. Das System ermöglichte unabhängigen Entwicklern finanzielle Absicherung vor der Fertigstellung des Spiels. Aber es hatte auch Nachteile. Nach jeder Episode mussten die Fans erst einmal darauf warten, dass es weitergeht. Damit wir am Ball blieben, endete jede Episode mit einem Cliffhanger, der uns sehnsüchtig auf die Fortsetzung warten ließ. Nicht selten verflog allerdings die Spannung des offenen Endes, wenn zwischen den Episoden ganze Monate lagen. Wie man am Beispiel der Insolvenz von Telltale-Games feststellen musste, war es zudem nicht selbstverständlich, dass ein Episodenspiel vollständig erscheinen würde. Letztlich warteten viele Spieler deshalb mit dem Kauf, bis alle Episoden erschienen waren.
Auch Dontnods neuestes Spiel Twin Mirror sollte ursprünglich in drei Teilen erscheinen. Die Macher haben sich jedoch umentschieden und laufen damit bei vielen Fans offene Türen ein. Zu verdanken hat Dontnod dies unter anderem einem einjährigen Exklusivdeal mit Epic, der in den schweren Zeiten des krisendurchzogenen Jahres 2020 kleineren Studios die nötige finanzielle Rückendeckung garantiert, ihre Projekte trotz Coronaeinschränkungen zu vollenden. Twin Mirror wird zudem das erste Spiel, das von Dontnod selbst vertrieben wird, und erscheint nach einjähriger Verschiebung voraussichtlich am ersten Dezember dieses Jahres für Konsole und PC.
Es wird erwachsener
Dontnod löst sich vom Coming-of-Age-Szenario seiner früheren Werke und versetzt uns bei Twin Mirror in die Haut von Samuel Higgs, einem Investigativjournalist in den mittleren Dreißigern, dessen Leben ein paar schlechte Abzweigungen genommen hat. Nach einer Trennung kehrt Sam eher unfreiwillig in seine alte Heimatstadt Basswood in West Virginia zurück, um seinen besten Freund zu beerdigen. Doch zwischen all den Leuten, die er dort trifft, fühlt er sich nicht willkommen. Als er am nächsten Tag in seinem Hotelzimmer aufwacht, findet er sein Hemd blutgetränkt im Waschbecken. Was ist in der vergangenen Nacht passiert? Sam kann sich nicht erinnern und muss seinen eigenen Fall lösen.
Twin Mirror spielt zu einem Großteil mit Sams Gedankenwelt und dessen bildlichen Repräsentationen. Zum einen wäre da sein Alter Ego "The Double", das sozusagen unsere innere Stimme repräsentiert und nur für Sam und die Spieler*innen sichtbar ist. Es begleitet uns in wichtigen Situationen und erscheint meist dort, wo eine Entscheidung gefällt werden muss. Wenig überraschend wird es zwischen Sam und seinem Double oftmals zu Meinungsverschiedenheiten kommen, in denen er mit sich selbst streitet. Die Wahl der richtigen Antwort wird nicht immer einfach sein und das Double kann uns auch in die Bredouille bringen. Wie auch in Dontnods anderen Spielen wirken sich die Entscheidungen mehr oder weniger gravierend auf zukünftige Ereignisse aus: Nehmen wir bestimmte Schlüsselgegenstände mit? Wie verhalten wir uns gegenüber den Bewohnern von Basswood?
Ein anderer wichtiger Bestandteil von Samuels geistigem Innenleben ist der "Mindpalace". Hier ordnen wir die Indizien, die wir in der realen Welt sammeln, und rekonstruieren sie in einer Gedankenversion. So decken wir Stück für Stück die Ereignisse auf, an die sich Sam nicht mehr erinnern kann.
Fremder in einer fremden Welt
Gedächtnisverlust als erzählerische Prämisse wird oftmals genutzt, um den Protagonisten und die Spieler*innen auf eine Wissensebene zu bringen. Ob Dontnod diese Vorgabe geschickt in die Geschichte einbringt, muss sich noch zeigen. Die ersten Szenen versprechen aber schon spannendes Gameplay, in dem auch unser Gehirn gefragt sein wird.
Erzählungen, in denen Figuren aus der Großstadt idyllische Kleinstädte besuchen und dabei düstere Geheimnisse aufdecken, gibt es schon seit langer Zeit. Bekannte Vertreter der Literatur sind die sogenannten Gothic Novels oder die bekannten Detektivgeschichten um Sherlock Holmes. Seinen größten Meilenstein in der Popkultur hatte das Genre aber erst in den 1990ern durch David Lynchs Kultserie Twin Peaks, die später Vorbild für Mystery-Serien wie Akte X wurde. Auch Spiele orientierten sich an der Kultvorlage. Remedys Alan Wake oder Kultentwickler Swery65s Deadly Premonition sowie das im vergangenen Jahr erschienene deutsche Point-and-Click-Adventure Trüberbrook sind sogar regelrechte Hommagen an die Serie.
Mehr Interaktion
Twin Mirror verfolgt einen eher ernsten Unterton und wirkt grafisch realistischer und düsterer als Dontnods frühere Spiele wie Tell me Why oder Life is Strange. Der starke Fokus auf die Ermittlung zeigt, dass Twin Mirror sich vom reinen narrativen Abenteuer entfernt und sich Detektivspiele wie Sherlock Holmes oder Murdered: Soul Suspect zum Vorbild nimmt.
Für ein paar spannende Winterabende im gemütlichen Heim wird gesorgt sein – ohne das nervenzehrende Warten auf die nächste Episode.
Dieser Artikel erschien erstmals in der Zauberwelten Herbst 2020.
Dieser Artikel ist erschienen bei:
Zauberwelten-Online.de