Zauberwelten: Als Autorin hast Du Dich in den letzten Jahren insbesondere mit den Wikingern auseinandergesetzt, ihrer Kultur und Sprache und ihrem Erbe gründlich nachgefühlt. Woher kommt Deine Faszination für das berühmte Seefahrervolk?
Andrea Storm: Meine Begeisterung wurde mir quasi schon in die Wiege gelegt! (lacht) Ich bin in einem winzigen Dorf am Rande eines Moores in der Nähe der Wikingerstadt Haithabu in Schleswig-Holstein aufgewachsen. In einem Land zwischen den Meeren, am anderen Ende der Welt. Dort wo der raue Nordwind die Wikinger schuf, wo plattdeutsch gesprochen wird und die Rinder noch auf der Weide grasen und die Wildgänse auf den Marschwiesen vor der Nordsee rasten. Ein großartiger Ort, um seine Kindheit zu verbringen! Ich habe das Moor entdeckt, die Schlei und die Sümpfe. Ihr unverwechselbarer Duft hat mich an Trolle und Geister glauben lassen. Ich kannte aber auch die Strände und das Gefühl von Sand unter meinen Füßen. Ich habe Schlangen und Spinnen überlebt, mich mit Jungs geprügelt und davon geträumt, die Welt zu sehen.
ZW: Das klingt nach Abenteuer! Wie, würdest Du sagen, hat Dich Deine Kindheit geprägt?
Andrea: Als Mädchen wuchs ich mit einem unerschütterlichen Idealbild von starken Frauen auf. Diese typischen, sauber aufgeteilten Männer- und Frauenrollen gingen nie wirklich an mich. Meine forschende Neugier habe ich mir immer beibehalten. Für mich als Autorin bedeutet das, dass ich unermüdlich die spannenden Historien der Protagonisten recherchiere, bis ich sie wirklich zum Leben erwecken kann. Thematisch drehen sich meine Geschichten um unabhängige und mutige Frauen, die sich nicht unterdrücken lassen. Über solche, die als Kriegerinnen in den Kampf ziehen, selbstbewusst und klug die Familien zusammenhalten, die Kultur bewahren, Wissen bündeln und entscheiden, ihr Volk zu führen und – nie aufgeben! Damit schaffe ich zeitgemäße Erzählperspektiven und echte Rollenvorbilder.
ZW: Wenn Du von einer „zeitgemäßen Erzählperspektive“ sprichst: Ist die Wikinger-Frau als Kriegerin denn historisch belegt? Hatten starke, also kämpferische Frauen denn in den Reihen der Wikinger tatsächlich einen Platz?
Andrea: Unbedingt! Sie waren als Teil des seefahrenden Volkes zwangsläufig immer auf Reisen dabei. Es ging in weite gefährliche und unbekannte Länder, auf für unsere Begriffe nicht wirklich komfortablen Schiffen. Sie wussten oft nicht, welche Gefahren während der Reisen auf sie zukommen könnten. Wie die fremden Länder aussahen und welche Völker mit ihren unbekannten Gebräuchen dort zu finden waren. Welche Tiere und Pflanzen dort wuchsen. Und ob sie jemals wieder zurück zur Familie und zur Heimat kommen würden. Daher gelten sie bis heute als unerschrockene und äußerst kampferprobte Berserker, die mit ihren unzähligen Raubzügen quer durch Europa andere Völker in Angst und Schrecken versetzten. Selbst auf den amerikanischen Kontinent und auf Grönland landeten ihre Schiffe.
ZW: Das sind ja ungeheure Strecken! Dafür musste einiges an Wissen und Technik vorhanden sein.
Andrea: Ja, absolut! Die Bauten ihrer hervorragenden Kriegs- und Frachtschiffe waren einzigartig und sie verfügten über immenses Wissen über die Navigation über die Weltmeere und Flüsse. Doch es ist uns glücklicherweise noch sehr viel mehr von den Wikingern geblieben. Die Handwerkskunst, wie die Goldschmiedekunst, die Produktion von Glasperlen, das Weben und Verzieren der Kleidung, die Herstellung der Waffen usw. waren im neunten Jahrhundert wegweisend. Jeder Mann und jede Frau übte damals einen Beruf aus und war u.a. Bauer, Handwerker, Händler, Musiker, Schäfer, Fischer, Jäger, Seefahrer und vieles mehr. Auch hier waren Frauen also mittendrin, statt nur dabei. Neben diesen technischen Errungenschaften haben uns die Wikinger unzählige kulturelle Schätze hinterlassen, wie eine reichhaltige Religion und Mythologie, Kunst und die Schrift der Runen.
ZW: Kein Wunder also, dass es in den letzten Jahren zu einem Wikingerboom gekommen ist. Viele der Dinge, die Sie angesprochen haben, passen ja zu brandaktuellen Debatten, die auch heute noch geführt werden.
Andrea: Ich persönlich glaube, dieser Wikingerboom entstammt einer Mischung aus Mut und Abenteuer, Neugier und Wissen, Respekt gegenüber Freund und Feind. Eine mentale Einstellung, die durch Kampfgeist, körperliche und geistige Stärke, Disziplin, Ausdauer - und Demut vor den Naturgewalten geprägt ist, gepaart mit dem Willen zur ungebrochenen Freiheit. „Abenteuer“ und „Achtsamkeit“ sind ja heute noch echte Modewörter (lacht).
Ich denke, wir können von jedem Volk lernen, auch wenn die Spurensuche dieses Seefahrervolkes in Haithabu und Jelling für mich einen ganz besonderen Reiz hat. Die Wikinger zeigten uns, dass sie mutig, selbstbestimmt und verantwortungsvoll hinterfragen. Sich informieren, ihre Ängste nicht meinungsbildend werden lassen und die Kultur der Diskussionen mit allen unterschiedlichen Ansichten in ihren Ritualen aufrechterhalten. Auch das ist vielleicht ein Zustand, wie ihn sich auch heute vielleicht viele wünschen würden.
ZW: Was würdest Du denn jemandem empfehlen, der oder die sich gern selbst einmal ein Bild von den Wikingern machen würde? Wie fühlen Sie ihrer Kultur am liebsten nach?
Andrea: Vor Ort, live und in Farbe (grinst). Waren sie schon mal in Dänemark in der Stadt Jelling? Im Nationalmuseum? Dort, wo Gorm für seine geliebte Frau Thyra diesen besonderen Runenstein schuf, dessen Abbild noch heute die erste Seite des Personalausweises der Dänen schmückt. Dort, wo zwei riesige Grabhügel an Thyra und Gorm und an den berühmten Sohn Harald Blauzahn erinnern.
Runensteine finde ich übrigens besonders faszinierend. Stellen Sie sich vor: Wir können noch heute mit unseren Fingern diese uralte Schrift auf den im Stein gemeißelten Runen verfolgen und wissen, der Steinmetz war genau dort. Dieser Mann hat diese Zeichen gesetzt vor über einem Jahrtausend.
Aber auch ganz abgesehen von den Wikingern würde ich jedem eine Reise nach Jelling empfehlen. Diese unendlich weiten Strände, das Meer und das Salz auf der Haut und der unvermeidlich folgende Hunger! Der wird auf jeden Fall mit diesen genialen Hot-Dogs gestillt. Die, mit der roten Wurst, den dänischen Gurken und der unverwechselbaren Remoulade. Danach einen süßen Kuchen. Herrlich.
Ansonsten besuchen Sie unbedingt einmal Skagen, ganz im Norden Dänemarks. Wo Sie mit einem Bein in der Nordsee und dem anderen in der Ostsee stehen können, während Sie von Seehunden beobachtet werden und der Parkplatz ihre letzten „Groschen“ vertilgt. Oder besuchen Sie die Wanderdünen, welche ganze Häuser verschlucken und erst viele Jahre später wieder zum Vorschein kommen lassen und wo sie wunderbaren Bernstein im Meer finden und in den Geschäften natürlich auch kaufen können – und überall werden sie immer geduzt. So ist es dort nun mal – in Dänemark.
ZW: Eingangs hast Du die Runensteine von Thyra und Gorm erwähnt. Für alle, die mit der Legende noch nicht vertraut sind, worum geht es genau?
Andrea: Thyra Danebod war eine angelsächsische Adelstochter, die durch Heirat mit dem Wikingerführer Gorm Königin von Dänemark und Stammmutter der Jelling-Dynastie wurde. Sie ist die Vorfahrin der heute noch regierenden dänischen Könige. Der Beiname „Danebod“ ist übrigens eine Zusammenziehung von „Danmarkar bot“ auf dem kleinen Jellingstein. Den ließ Gorm zum Gedenken an seine Gattin setzen und dessen Runeninschrift sagt so viel wie „König Gorm machte dies Denkmal nach Thyra, seiner Frau, Dänemarks Zierde“ oder auch „Stärke“ je nach Deutung. Harald Blauzahn, ein Sohn Thyras und Gorms ließ dazu noch den großen Jellingstein setzen. Diesen bezeichnet man im Volksmund als „Dänemarks steinerne Taufurkunde“. Er ist mit einem Christusbild geschmückt und trägt die Inschrift: „Harald errichtete dieses Denkmal für König Gorm, seinen Vater, und seine Mutter Thyra, jener Harald, der ganz Dänemark und Norwegen gewann und die Dänen zu Christen machte.“
Die letzten tausend Jahre haben Thyras Ruhm in Dänemark übrigens keinen Abbruch getan. Noch heute gilt sie als Heldin, die Dänemark gegen die Bedrohungen aus dem Süden schützte.
ZW: Thyra und Gorm widmest Du Dich in Deinem Buch „Feindin der Wikinger“. Was hast Du uns verschwiegen, dass Thyra auf einmal eine Feindin ist?
Andrea: (Lacht). Jetzt haben Sie mich ertappt! Tatsächlich hatten Thyra und Gorm einen eher schwierigen Start miteinander. In „Feindin der Wikinger“ geht es genau darum. Gorm und seine Wikinger überfielen Thyras angelsächsisches Dorf. Thyra wurde gefangengenommen und lehnte sich zunächst voller Hass gegen ihre Entführer auf. Doch nach und nach beginnt sie, die Sprache, Kultur und Lebensart des Seefahrervolkes zu verstehen. Und so, wie die Wikinger im militärischen Sinne um Macht und Reichtum kämpfen, kämpft Thyra für ihre Freiheit, Liebe und schlussendlich ihre eigene Identität.
Mir war es nicht nur wichtig, einen packenden und authentischer Roman zu schreiben. Insbesondere lagen mir auch die altnordische Sprache der Wikinger und das Leben und Wirken der Wikingerfrauen am Herzen. Meines Wissens nach gab es eine vergleichbare Arbeit mit vergleichbarem sprachlichem Glossar noch nicht. Und dabei ist „Feindin der Wikinger“ auch erst der Anfang. Ich habe eine ganze Buchreihe zur Jelling-Dynastie geschrieben und werde noch einiges von mir hören und lesen lassen.
ZW: Da freuen wir uns schon! Danke für dieses erhellende und spannende Gespräch!