Von Lankhmar über Minas Tirith bis Königsmund: In fast jedem Fantasyroman kommt früher oder später eine Stadt vor. Manchmal ist sie nur Zierde, doch manchmal wird sie selbst ein Stück weit zur Protagonistin …
Die Stadt – für manche birgt sie neue Chancen, neue Eindrücke und Möglichkeiten zur Entfaltung. Anderen hingegen ist sie ein Sinnbild der Enge und Entfremdung oder gar ein Sündenpfuhl. Kein Wunder also, dass die (Groß-)Stadt mit all ihren Facetten auch in vielen phantastischen Geschichten zum Nährboden der Handlung wird.
Vom Wald in die Stadt
In Märchen und Sagen sind es oft finstere Wälder, einsame Seen oder andere ländliche Umgebungen, in denen das Andere, das Phantastische, lauert und lockt. Doch mit der europäischen Urbanisierung im 19. Jahrhundert zogen auch die Monster und Feenwesen den Menschen in die Städte nach. Eines der prominentesten frühen Beispiele ist Bram Stokers Dracula, dessen titelgebende Figur sich nicht mehr mit der Einsamkeit Transsilvaniens zufriedengibt, sondern London als Jagdgrund wählt. Spätestens mit Edith Nesbits Erzählungen aus den 1910er Jahren drangen andere Zauberwesen wie Feen und Kobolde in den städtischen Raum vor.
In der Fantasy der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Stadt das Revier der (Anti-)Helden der Sword & Sorcery. Figuren wie jene aus Fritz Leibers Fafhrd und der Graue Mausling erkundeten die Gassen und Gossen fiktiver Orte, die nicht Helden und Königen, sondern Bettlern und Dieben gehörten. In der epischen High Fantasy, wie sie sich im Zuge von Der Herr der Ringe ab den 1960er Jahren entwickelte, war die Stadt dagegen mehr Kulisse oder Nebenschauplatz. Hier wurden Herrscher gekrönt und Schlachten geschlagen, aber die Städte blieben meist Mittel zum Zweck.
Die Entdeckung des Molochs
Ein anderes phantastisches Stadtbild kristallisierte sich in den 1980er Jahren unter dem Einfluss zweier Bewegungen heraus, die literarische Gattungen mit subkulturellen Elementen kreuzten: Zum einen erlebte die lateinamerikanische Spielart des Magischen Realismus mit Namen wie Gabriel García Márquez oder Julio Cortázar einen internationalen Boom. Realismus und phantastische Elemente verschmelzen hier zu einer Einheit, die trotz des Irrealen als unsere Zeit und Welt angenommen wird. Und zum anderen markierten die frühen 1980er die Geburtsstunde des Cyberpunks. In dieser Bewegung verschwimmen die Grenzen von Mensch und Maschine, und die Helden sind klassischerweise moralisch, graue Underdogs, die im Großstadt-Moloch zwischen Drogen und Gewalt Aufträge für dubiose Unternehmen ausführen. Vor allem Ridley Scotts -Blade Runner, die Verfilmung von Philip K. Dicks Vorreiter-Erzählung Träumen Androiden von elektrischen Schafen? prägte dabei das ästhetische Bild der Cyberpunk-Stadt als neonbunte und zugleich finstere Metropole.
In den 1980er Jahren entstand unter diesen Eindrücken die Urban Fantasy. Fortan bevölkerten Nixen Kanalisationen und Kanäle, Vampire lauerten in Clubs auf ihre Opfer, Dryaden bewohnten Alleen und Elfen erweiterten ihr Territorium in städtische Parks wie den Londoner Hyde Park. Aber diese Wesen änderten damit nicht nur die Stadt – die nunmehr lebendige, pulsierende Stadt veränderte auch sie, brachte Feenwesen hervor, die zwar Schwerter bei sich trugen, aber mit der Zeit auch die Vorzüge von Starbucks zu schätzen lernten – werft nur mal einen Blick in Jenna Blacks Faeriewalker!
Städte mit zwei Gesichtern
Die typische Urban-Fantasy-Stadt zeigt sich ambivalent: Sie ist ein mystischer Ort voller Gefahren, in dem die Protagonisten an jeder Ecke drohen, in Unterwelten hinabgezogen zu werden. Zugleich aber bietet sie Zuflucht für verschiedenste Außenseiter und Feenvölker. Dadurch erleben wir Städte wie New Orleans, Paris oder Venedig aus der hypnotischen Sicht von Anne Rices Vampiren. Wir steigen hinab in die Unter- und Zwischenwelten New Yorks (z. B. in Die Chroniken der Unterwelt), Londons (z. B. in Niemalsland, Lycidas oder Un Lon Don) oder Berlins (z. B. in Niemandsstadt oder Anarchie Déco) und erleben auch schon einmal einen Lindwurm in den Straßen Münchens (Mara und der Feuerbringer).
Fiktive Städte aus unserer und anderen Welten bieten aber mancher Figur Schutz und Verführung. Mal hängen diese Städte am Rande des Abgrunds wie in Alan Campbells Die Kettenwelt-Chroniken, mal wechseln sie den Ort wie in Philip -Reeves Mortal Engines, mal sind sie detailreich ausgearbeitet wie in Rafaela Creydts Der letzte Winter der ersten Stadt, dann wieder gibt es Städte wie Oliver Plaschkas Fairwater, die gerade durch das nicht Gezeigte ihren Grusel entfalten.
Manche dieser Städte wirken, als wären sie aus Zeit und Raum gefallen, andere spiegeln den Zeitgeist oder schauen in die Zukunft. Während manche Stadt ihren fiktiven Bürgern hilft, sich selbst zu finden, bringen andere den Figuren den Untergang. Manchmal bilden diese Städte einfach den Rahmen für die Abenteuer der Figuren.
Damit bleiben Fantasy-Städte ebenso facettenreich wie ihre realen Vorbilder.
Alessandra Reß
Dieser Artikel erschien erstmals in der Zauberwelten Herbst 2021.
Der schwarze Garten
Dorothe Zürcher
(Litac)
Geht es um Städte in unserer Welt, sind New York und London die unangefochtenen Stars der Urban Fantasy, aber international gewinnen auch Städte wie Nairobi, Manila oder Hamburg immer weiteren Anderwelt-Zulauf.
In Dorothe Zürchers Der schwarze Garten ist es Zürich, das in den Konflikt zwischen menschlichen Bewohnern und dem alten Volk hineingezogen wird. Stimmungsvoll verwebt Zürcher dabei die Atmosphäre der Stadt mit keltischer Mythologie. Ihr gelingt der Spagat, einerseits ein sehr lebendiges Bild des heutigen Zürichs zu malen, andererseits aber auch eine Parallelgesellschaft zu entwickeln, der man beim Lesen die Existenz sofort abkauft. Der schwarze Garten ist eine ruhige Urban-Fantasy-Erzählung, die dennoch über knapp 200 Seiten einen ganz eigenen Sog entwickelt.
Die Flüsse von London
Ben Aaronovitch
(dtv)
Im beengten Stadtgebiet läuft das Zusammenleben zwischen Menschen und Zauberwesen nicht immer ganz unproblematisch ab. Nehmen die Konflikte unschöne Dimensionen an, werden Figuren und Institutionen wie die Stadtwache von Ankh-Morpork, der Magier und Privatdetektiv Harry Dresden, oder die Totenbeschwörerin Anita Blake auf den Plan gerufen.
Seit 2011 zählt zu ihren Kollegen Peter Grant, der Held aus Ben Aaronovitchs Die Flüsse von London-Reihe. Noch in magischer Ausbildung muss sich der Police Constable mit Flussgottheiten, Magiern, Gestaltwandlern und allem anderen herumschlagen, was sich auf Londons Straßen, in seinen Flüssen und U-Bahn-Schächten herumtreibt. Die inzwischen acht Romane und mehrere Spin-offs umfassende Reihe lebt von einer lebhaften Mischung aus Gegenwartsbezug und ironischem Humor. Seit 2019 existiert mit Der Oktobermann auch ein rund um Trier spielender Ableger.
Dieser Artikel ist erschienen bei:
Zauberwelten-Online.de