Die TV-Show war ohnehin schon völlig aus dem Ruder gelaufen, als die Aktivisten das Studio stürmten. Die Diskutierenden hatten sich nach Aussagen wie »Es ist nur eine Krankheit!« und der Bezeichnung Neupigmentierter als »invasive Arten« nur noch angeschrien. Niemand war bereit gewesen, von seinem Standpunkt abzuweichen. Dann standen plötzlich Vermummte im Raum und die Diskussion brach ab. Der Moderator verzog sich schnell hinter die Kulissen; eine Frau im gelben Kleid und ein gedrungener, korpulenter Mann, der gerade noch die Lilahäutigen wüst beschimpft hatte, folgten ihm. Der letzte verbliebene Teilnehmer der Show war jedoch nicht so schnell. Ängstlich hockte sich der Mann hinter seinen Sessel.
Die Aktivisten waren allesamt mit lilafarbenen Overalls bekleidet, ihre Gesichter in derselben Farbe bemalt. Sie schwenkten Schilder mit handgeschriebenen Slogans. Einer zertrümmerte einen großen LED-Schirm, auf dem »Sind die Lager angemessen?« zu lesen war. Nach wenigen Schlägen verlosch das Bild, das Display zersplitterte und der Aktivist riss es von der Wand. Kameraleute, Sicherheitspersonal, Zuschauer, alles rannte durcheinander. Aus dem Regieraum ertönte lautes Fluchen und Schimpfen – parallel zum Eindringen in das Studio hatten die Aktivisten von »Pigment D« einen Hackerangriff gestartet, der ihnen wertvolle Zeit live on air verschaffte, ohne dass ein Techniker radikal den Strom abschaltete. Bis dahin tobten sie über die Bühne, hielten ihre Schilder in die Kameras und zitierten ihre Forderungen, was jedoch im allgemeinen Durcheinander kaum zu hören war. »Schließt die Lager«, »Freiheit für die Unschuldigen« und »Lila ist nur eine Farbe« war so für hunderttausende Zuschauer zu lesen, bevor jemand entschlossen genug gewesen war, dem Treiben durch das Kappen der Stromversorgung ein Ende zu setzen.
Jeremy saß auf der Kante seines Sofas, als der Bildschirm schwarz wurde und ein Ersatzbild erschien, das auf eine technische Störung hinwies. Er sank zurück und atmete hörbar aus. »Sie haben es wirklich geschafft«, murmelte er. »Diese Wahnsinnigen!« Er grinste breit und schüttelte den Kopf. Schnell griff er sein Tablet und durchsuchte die sozialen Medien, auf denen das Thema bereits die Trends eroberte.
Sein Handy summte. Vom Display lächelte ihn Sina an. Seine Ex. Erschrocken starrte er auf das Foto. Er hatte ihre Nummer noch immer nicht gelöscht, obwohl sie vor Wochen im Streit auseinandergegangen waren. Sie war tief drin in den Aktionen von »Pigment D«, genau wie er es bis vor ihrer Trennung gewesen war. Er hatte mit ihr Schluss gemacht und am selben Abend die Gruppe verlassen. Er hatte einen klaren Schnitt machen wollen, alles hinter sich lassen, neu anfangen. Sina war ihm einfach zu radikal geworden, kaum noch zu bändigen. Manchmal hatte sie ihm beinahe Angst gemacht. Aber jetzt? Er blickte unschlüssig vom Standbild auf dem Fernseher zu Sinas Portrait. War sie womöglich mit den anderen im Fernsehstudio? Auf jeden Fall musste es ernst sein, wenn sie ihn anrief. Er nahm ab.
»Hallo?«
»Hi Jay, oh, Gott sei Dank, ich dachte schon, du gehst nicht dran. Hör zu, bitte! Ich brauche deine Hilfe!« Das Flehen in ihrer Stimme war unüberhörbar. »Wir stecken hier mächtig in der Scheiße, die haben die ganze Gruppe verhaftet.«
»Dich auch?«
»Nein, konnte abhauen.«
»Wo seid ihr?«, fragte Jeremy. Er wollte eigentlich mit den verrückten Aktionen der Aktivisten nichts mehr zu tun haben, aber die Sorge um Sina verdrängte seine Absicht.
»Ich bin in einen Wald geflüchtet, weg von der Straße. Ich glaube, sie haben mich nicht gesehen, als ich abgehauen bin. Kommen aber bestimmt nochmal wieder. Mit Hunden. Oder Nachtsichtgeräten. Bitte, Jay, kannst du herkommen und mich holen? Bitte!«
»Ja, aber was für ein Wald? Nicht am Fernsehstudio?«
»Nein, andere Aktion.«
»Wo denn genau?«
»Ach ja.« Er hörte, dass sie zögerte. »Wir sind am Sammellager 3, wo früher dieses Möbelhaus war. Wo sie jetzt die neupigmentierten gefangenhalten. Bitte, Jay, ich will nicht, dass sie mich auch noch einsperren. Nur dieses eine Mal noch!«
Er schluckte. Tatsächlich spürte er so etwas wie Sehnsucht, wie Freude darauf, sie wiederzusehen. Andererseits …
»Seid ihr bescheuert? Das ist doch schwer bewacht. Den Plan hatten wir doch schon öfter und wir haben ihn immer wieder aufgegeben, weil es unmöglich war, reinzukommen.«
»Wir wollten ja gar nicht rein, nur demonstrieren und ein bisschen Unruhe stiften.«
»Hab die anderen im Fernsehen gesehen.«
»Hat das geklappt? Geil. Wir haben heute Nacht alles riskiert, jede Menge Aktionen auf einmal. Endlich richtig Aufruhr stiften!« Da war sie wieder, die laute und fanatische Sina, die ihm manchmal Angst machte. »Also, was ist? Kommst du jetzt oder nicht? Sonst muss ich jemand anders anrufen!«
Jemand anders. Das wäre dann wahrscheinlich Miguel, ihr verdammter bester Freund. Niemals würde Jeremy diesem Angeber die Genugtuung überlassen, Sina abzuholen, um sich dann anhören zu können, dass er ihr nicht geholfen hätte. »Gut, ich komme.«
»Super. Ich laufe noch weiter durch den Wald. Schicke dir meinen Standort. Bis bald!«
Sie legte auf, ohne eine weitere Antwort abzuwarten. Verfluchte Scheiße, jetzt musste er da raus fahren, spät abends! Was war das für eine sinnlose Protestaktion? Ja, die sperrten Leute im Lager ein, das war bekannt. Und alles andere als in Ordnung. Aber was sollte es bringen, dort im Dunkeln vor den Toren zu demonstrieren? Welche Bilder wollten sie damit erzeugen? Das mit dem Fernsehstudio, das war eine coole Aktion gewesen, aber das Lager? Wie auch immer, erstmal galt es, Sina da rauszuholen. Er zog sich schnell an, griff seine Taschenlampe, zwei Flaschen Wasser und einen dicken Pulli, stopfte alles in den Rucksack und eilte los. Er sprang durchs Treppenhaus, immer zwei Stufen auf einmal und lief im lockeren Joggingtempo zu seinem Wagen. Hoffentlich hielt die alte Karre durch; er war schon ewig nicht mehr mit ihr auf der Autobahn gewesen. Schneller als 120 fuhr der Schrotthaufen eh nicht, darum konnte er auch auf den Landstraßen bleiben, um sich die Maut zu sparen.
Er verließ sein Wohnviertel und durchquerte Harburg auf dem Weg zur A1. Letztlich entschied er sich doch für die teure Autobahn, in der Hoffnung, schneller zu Sina zu gelangen. Er nahm die Auffahrt in Richtung Bremen und ordnete sich ein. Es war nicht viel los, so konnte er sich nebenbei mit dem Smartphone beschäftigen. Er suchte ein Nachrichtenportal und ließ sich aktuelle Meldungen vorlesen. Der Video-Livestream berichtete von der gewaltsamen Besetzung des TV-Studios, vermeldete aber keine weiteren Vorfälle. Weder am Lager 3, noch irgendwo anders. Entweder, diese koordinierte Aktion war gescheitert, oder die Medien wurden gezwungen, es zu verheimlichen. Vermutlich um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen, und um Schaulustige zu vermeiden. Vielleicht gab es auch ein Versagen von Sicherheitskräften zu vertuschen. Wobei, am Lager hatten sie ja offenbar nicht versagt und die Protestaktion erfolgreich verhindert. Jeremy hoffte, dass Sina sich lange genug verstecken konnte, bis er sie erreichte. Hoffte, dass es keine Straßensperren oder Kontrollen auf dem Weg zu ihr gab. Hoffte, dass das alles hier schnell vorbei ginge.
Warum war sie nur so fanatisch damit befasst, den Neupigmentierten zu helfen? Als vor zehn Jahren Pigment D in der Welt Einzug hielt, war das ein schwieriger und schmerzhafter Prozess gewesen. Aber seitdem hatte sich doch alles stetig verbessert. Lilahäutige saßen im Bundestag, führten Unternehmen und arbeiteten in ganz normalen Jobs. Auch im Sport oder in Filmen waren sie in Rekordzeit zu einem gewohnten Bild geworden. Trotzdem verliefen solche Prozesse natürlich nie problemlos, und in manchen Bereichen dauerte es länger als in anderen. Die Lager hätten längst aufgelöst werden sollen, aber die Landesregierung von Niedersachsen konnte sich bislang nicht dazu durchringen. Immer wieder wurden medizinische Gründe oder angebliche Sicherheitsbedenken vorgeschoben. Die Menschen mit Pigment D wurden mit ansteckenden Kranken gleichgesetzt, als litten sie an einer neuen Covid-Variante oder an der Pest. Die Regierung behauptete, sie zu schützen, hatte aber eigentlich Angst vor ihnen.
Jeremy hatte bis vor ein paar Wochen ebenfalls gegen diese Ungerechtigkeiten angekämpft und hatte an Protesten und Aktionen der Gruppe teilgenommen. Aber als sie immer radikaler wurden, und er sich auch noch von Sina getrennt hatte, war er gegangen. Gegen die rechten Hetzer, die das Bundesland derzeit lenkten, war für Demonstranten ohnehin kein Kraut gewachsen. Zu viele seiner Freunde hatte er im Gefängnis verschwinden gesehen, ohne dass sie je wieder auftauchten. Er hatte den Glauben an die Wirkung der Aktivistengruppe verloren und ja, er hatte auch Angst gehabt. Verhaftet werden, weil er für die Bürgerrechte anderer kämpfte? Theoretisch hört sich das toll und ehrenhaft an. Aber wenn man ein dutzend Mal von den Schlägertrupps der Partei durch die Straßen gejagt worden war, verlor sich dieser Mut zwischen schmerzhaften Prügeln und der Hoffnungslosigkeit, je etwas zu bewirken. Sina war da anders als er, sie brannte für die Sache der Gruppe und ging immer vorneweg. Deshalb wunderte sich Jeremy, dass ausgerechnet sie fliehen konnte, anstatt als Erste verhaftet worden zu sein.
Er aktivierte am Handy die Nachrichtenapp, in der er Sinas Standort sehen konnte. Sie war nicht weit entfernt. Er musste in Stuckenborstel von der Autobahn runter, dann vielleicht acht oder zehn Kilometer die Straße entlang, Er konnte einen Wirtschaftsweg erkennen, an dessen Ende der Waldrand lag. Das sollte er schaffen. Polizeiwagen waren nicht zu sehen und das Lager war etwa fünf weitere Kilometer entfernt. Sina hatte von dort aus einen beeindruckenden Weg quer durch den Wald zurückgelegt. Jeremy schloss daraus, dass sie wirklich Angst hatte.
Er folgte der Straße und bog auf den Feldweg ab. Eine alte Betonpiste, die von Schlaglöchern durchsetzt war. Daneben: Felder, silbrig schimmernd im schwachen Mondlicht. Jeremy fühlte sich an alte Kriegsfilme erinnert. Er rechnete jeden Moment mit Soldaten, die durch das hüfthohe Getreide stapften. Aber da war niemand. Jenseits der Felder führte der Weg in ein Waldstück. Jeremys Blick huschte immer wieder zum Display seines Smartphones. Endlich erreichte er den roten Punkt, der Sinas Standort anzeigte. Jetzt entwickelte sich ein anderes Szenario in seinem Kopf. Er sah sich aussteigen, grelles Licht aufflammen, jemand schlug ihn nieder. Miguel. Es war eine Falle, um ihn - den Verräter - zu bestrafen. Alles passte zusammen: Es kamen keine Berichte über die Demonstration vor dem Lager in den Nachrichten, weil es sie nie gegeben hatte. Sie lotsten ihn an diesen gottverlassenen Ort hier. Er hielt an und schaltete das Licht aus. Wartete.
War er wirklich in eine Falle gegangen? Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Rückwärtsgang einzulegen und abzuhauen, da erblickte er den dunklen Schemen einer Gestalt auf dem Weg vor sich. Er stieg aus.
»Sina?«, fragte er vorsichtig, während er sich umsah. Ringsum nur die schwarzen Schemen von Bäumen.
»Jeremy!« Sina kam auf ihn zu. Lilafarbener Trainingsanzug, dazu die verlaufenen Reste einer Gesichtsbemalung, ebenfalls lila. Noch war er nicht restlos davon überzeugt, dass seine ausgedachte Version der Geschichte falsch war. Erst recht nicht, als er am Waldrand eine zweite Person erblickte.
»Wer ist das?«, fragte er scharf und trat einen Schritt zurück; weg von Sina und näher an sein Fluchtfahrzeug.
»Das ist Leon. Er ist mit mir geflohen. Er war im Lager. Ein Gefangener. Wir müssen ihn …«
»Was soll das heißen? Ich dachte, ihr seid nicht reingegangen? Habt nur demonstriert? Verdammt, Sina, was habt ihr getan?«
»Ist doch jetzt egal. Ja, wir waren drin. Aber jetzt müssen wir weg hier.«
Jeremy zögerte. Er fühlte sich überrumpelt, als würde er von Sinas Druckwelle mitgerissen. »Dann kommt.«
Sina und Leon rannten zum Auto. Sie sprang auf den Beifahrersitz, er schwang sich auf die Rückbank. Im Spiegel betrachtete Jeremy den Fremden. Seine lilafarbene Haut wirkte seltsam orange im Schein der Innenbeleuchtung. Er startete den Motor, wendete mühsam auf dem schmalen Weg und fuhr zwischen den Feldern zurück zur Straße.
»Du hättest mir sagen können, dass du nicht allein bist.«
»Ich hatte Angst, dass du dann nicht kommst.«
Jeremy schwieg. Hatte sie recht? Als er zu einer Antwort ansetzte, tauchte ein Fahrzeug mit Blaulicht in der Ferne auf.
»Los jetzt, schnell! Runter vom Feldweg, auf die Straße!«, rief Sina. Jeremy gab Gas, lenkte den Wagen auf die Fahrbahn und hielt sich weit rechts, um den Streifenwagen passieren zu lassen. »Fahr doch schneller!«
»Dann packen sie uns bestimmt.« Er fasste das Lenkrad fest mit beiden Händen. »Leon, runter mit dir!«
Das Blaulicht kam schnell näher und erfasste den Innenraum. Jeremy sah es über Sinas Gesicht zucken. Sie blickte starr nach vorn. Ihre Bemalung war kaum noch zu erkennen im Flirren von Blau und Weiß. Der Polizeiwagen scherte aus, blieb kurz neben ihnen auf einer Höhe. Jeremy spürte die Blicke der Beamten auf sich. Dann näherten sich von vorn die Lichter eines anderen Fahrzeugs und die Polizisten waren gezwungen, vorbeizuziehen und wieder einzuscheren. Der Fahrer gab schließlich Gas und zog davon. Jeremy fuhr langsam und blickte dem Polizeiwagen hinterher, der in der Dunkelheit verschwand. Der Schein des Blaulichts pulsierte in der Ferne und wurde nach und nach schwächer. Erleichtert atmete er aus. »Das war knapp. Jetzt aber nichts wie weg hier.«
»Wir müssen zum Studio.«
Jeremy blickte Sina fragend an. »Was?«
»Das Studio. Du hast es doch gesehen!« Sie nestelte an ihrem Smartphone herum. »Die andere Gruppe, die das NDR-Studio besetzt hat. Da müssen wir hin.«
»Die haben sie doch sicher längst verhaftet.«
»Nein, eben nicht.« Sina wischte hektisch auf dem Display herum. »Ja! Sie sind noch drin. Los, hin da, wir müssen Leon dort reden lassen.«
»Bist du bescheuert? Schon vergessen? Ich bin nicht mehr dabei.«
»Komm, Jay, das ist eine einmalige Chance! Leon kann erzählen, was er im Lager erlebt hat. Sie machen da Untersuchungen, wirklich krass. Wenn das rauskommt, müssen sie reagieren.«
Am Anfang hatte Jeremy Sina immer für ihren Enthusiasmus geliebt. Wenn sie für etwas brannte, war sie nicht aufzuhalten. Irgendwann war es ihm zu viel geworden. Trotzdem konnte er ihr, nicht widerstehen. Schon als sie auf die Autobahn einbogen, war ihm klar, wohin er als Nächstes fahren würde.
So schnell es mit seinem alten Wagen möglich war, rasten sie zurück nach Hamburg, wechselten auf die A7, fuhren durch den Elbtunnel und bogen dann in die Stadt ab. Die Talkshow wurde nicht im Hauptstudio des NDR aufgezeichnet, sondern in einem Kleineren nahe der Alster. Er kurvte durch das Straßengewirr, angeleitet von Sinas Wegbeschreibungen. Ihr Ziel war ein klotziger Glasbau direkt am Ufer. Schon von weitem waren zahlreiche Streifenwagen zu erkennen, die das Gebäude umlagerten. Aus irgendeinem Grund waren die Polizisten noch nicht dort eingedrungen. Jeremy gab Gas. Angefeuert von Sinas begeisterten Rufen fand er einen Weg zwischen zwei der Polizeiwagen hindurch. Beamte sprangen beiseite, Kaffeebecher flogen. Ein Polizist hob seine Waffe, zielte auf Jeremys Wagen. Sein Nebenmann drückte den Lauf des Gewehrs herunter, schob seinen Kollegen zur Seite. Jeremy bretterte über den Schottervorplatz bis direkt vor die Glastür. Dort stand ein Aktivist im lila Overall, die Farbe im Gesicht verschmiert und von Schweiß zerlaufen. »Schnell jetzt.« Sie sprangen aus dem Wagen und brachten Leon in das Studio.
»Okay, alles auf Sendung!«, rief jemand über einen Lautsprecher.
Auf einem Kontrollmonitor sah Jeremy, dass es den Aktivisten gelungen war, das Standbild zu entfernen und wieder normal zu senden. So kamen bei jedem Zuschauer Bilder aus dem Studio an. In einer Ecke hockten die Teilnehmer der Talkshow auf Stühlen, in Schach gehalten von mehreren bewaffneten Aktivisten. Jeremy erschrak und verstand. Die Geiseln sorgten dafür, dass die Polizei das Gebäude nicht stürmte. Offenbar hatten sie sogar ausgehandelt, dass der Strom wieder angeschaltet wurde. In ein Gefangenenlager eindringen, Geiseln nehmen, einen Sender kapern – die Aktivisten hatten einen Gang zugelegt, seit Jeremy sie verlassen hatte. Hier vergeudete niemand mehr seine Zeit damit, Flugblätter zu verteilen.
Jetzt hatte Leon seinen Auftritt. Er sah immer noch recht mitgenommen aus; schließlich war er von Sina fünf Kilometer durch den Wald gescheucht worden. Sie stand mit ihm auf der Bühne und hielt ein Mikro. »Dies ist Leon. Wir haben ihn soeben aus dem Lager 3 bei Bremen befreit. Er kann aus erster Hand berichten, was sich dort zuträgt. Er redet aus freien Stücken – wir haben ihn zu nichts gedrängt und keinen Einfluss auf ihn genommen.« Sie trat zur Seite und überließ Leon das Scheinwerferlicht.
Er räusperte sich, blinzelte in die Lampen, die ihn blendeten. »Ich war achtzig Tage Insasse im Lager 3. Ich bin Softwareentwickler und bei mir hat sich Pigment D vor etwa achtzehn Monaten entwickelt. Ich verlor meinen Job, weil mein Boss den Betriebsfrieden gefährdet sah. Er ist Anhänger der Landesregierung. Nannte mich einen Purple, einen Blutkopf, einen Abartigen. Ich lebte von meiner Abfindung, habe keine Straftaten begangen. Ich ging regelmäßig zu den vorgeschriebenen medizinischen Untersuchungen bei meinem Hausarzt. Vor drei Monaten hat man mich dort festgesetzt und in das Lager gebracht. Eine Klinik, wie man mir versicherte. Es wurde mir verboten, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen, man gab mir Medikamente, die ich nicht kannte, führte Tests an mir durch und behandelte einzelne Hautpartien mit experimentellen Salben.« Er schob einen Ärmel hoch. Zum Vorschein kam ein Arm mit eigenartig marmorierter Haut. Es sah wie eine Brandwunde aus. »Immer wieder versicherte man mir, meine Behandlung sei bald vorbei, doch jedesmal verstrichen diese Termine, ohne dass man mich gehen ließ. Wenn ich mich gegen die Untersuchungen wehrte, wurde ich sediert.« Er ließ die Schultern sinken, schwieg eine Weile. Gerade, als Sina eingreifen wollte, hob er den Kopf und blickte in die Kamera. »In diesem Lager werden Verbrechen an Menschen vorgenommen, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben.«
Sina stellte sich zu Jeremy und drückte seine Hand. »Danke.«
Jeremy grinste.
»Und, bist du jetzt wieder dabei?«
Er stöhnte. »Mal sehen.« Aber er konnte nicht aufhören zu grinsen. Sina löste ihre Hand aus seiner, öffnete ihre Trainingsjacke und zog ihr T-Shirt hoch. Verwirrt blickte er sie an, sah ihren entblößten Bauch, sah die wolkige lila Färbung, die sich dort abzeichnete. Einen Augenblick dachte er, sie habe sich dort mit der Farbe bemalt, die die Aktivisten alle für ihre Gesichter verwendet hatten, dann begriff er. »Du auch? Wie lange schon?«
»Kurz nachdem du gegangen bist. Sieht so aus, als sei ich bald eine von denen, für die wir hier kämpfen. Dann sehe ich, ob es sich gelohnt hat.«
Leon hatte weitergeredet, für Jeremy klang seine Stimme jetzt, als käme sie aus weiter Ferne. Sicher, es konnte jeden treffen. Aber ausgerechnet Sina?
»Jetzt guck nicht so blöd. Lila ist nur ne Farbe, schon vergessen?« Nun war es an Sina, zu grinsen, und es wirkte kein bisschen gekünstelt. Er musste sie einfach lieben.
»Lila ist nur ne Farbe«, murmelte er und versuchte, sich wieder auf Leons Vortrag zu konzentrieren. »Er macht das echt gut.«
»… Unter dem Vorwand der medizinischen Forschung werden Menschen gezwungen, Experimente über sich ergehen zu lassen. Einige der anderen Gefangenen, die ich dort traf, verschwanden plötzlich und tauchten nicht wieder auf. Gerüchten zufolge sind sie an den Behandlungen gestorben. Dies geschieht mitten in Deutschland, es ist kein Verschwörungsmythos und keine Spinnerei. Es darf in diesem Land keine solchen Lager geben. Sie müssen geschlossen werden, die Vorgänge dort müssen ans Licht kommen. Die Regierung deckt diese Verbrechen. Wir …«
Eine der Glasscheiben des Studios zersplitterte, Leons Kopf wurde nach hinten gerissen. Ein Bogen aus Blut wurde in die Luft gezeichnet, Leons Körper sackte in sich zusammen. Das Blut spritzte auf ein am Boden liegengelassenes Plakat, »Blood is red in all of us« stand passenderweise darauf. Sina griff Jeremys Hand. »Los, weg hier!« Sie zog ihn mit sich. Weitere Schüsse fielen, Aktivisten flohen, stürzten, starben. Die Polizei stürmte das Gebäude, mit Leons Tod hatte die Regierung eine weitere Maske fallengelassen. Das Chaos wuchs, ein vielfarbiges Durcheinander, das sich nicht unsichtbar machen ließ. Draußen drängten sich Kamerateams zwischen die Beamten, wurden niedergeschlagen. Drohnen surrten über dem Geschehen. Im Gedränge versuchten Sina und Jeremy, sich einen Weg aus dem Gebäude zu bahnen, fanden einen seitlichen Notausgang. Eine Treppe, führte an der Außenwand zum Ufer hinab. Die Stufen endeten auf einem Steg, der an der Rückseite des Studios verlief. Ein Polizist, der hier Wache gehalten hatte, stürmte gerade die Wiese hinauf, angelockt vom Geschehen am Vordereingang. Jeremy hielt nach einem Boot Ausschau, aber alle Liegeplätze waren leer. Sie rannten den Steg entlang, sprangen auf einen Kiesweg am Ufer, der zum nächsten Grundstück führte. Zwischen Rhododendronbüschen erklommen sie eine Mauer, hetzten weiter und überquerten eine Rasenfläche. An der angrenzenden Terrasse flammten die Lichter von Bewegungsmeldern auf, aber das kümmerte sie nicht. Nach drei weiteren Villen wagten sie sich zurück zur Straße. Jeremy schaltete per App einen Mietwagen frei, der an einer Ladesäule abgestellt stand. Schwer atmend ließen sie sich in die Sitze fallen. Eine Zeit lang warteten sie mit ausgeschalteten Scheinwerfern, beobachteten die umliegenden Straßen. Ein Rettungswagen mit aktivierter Sirene raste vorbei. Jeremy holte eine der Wasserflaschen aus seinem Rucksack hervor. Sie tranken, warteten noch eine Weile, dann fuhren sie davon.
Sie verließen Hamburg in Richtung Süden und hielten erst südlich von Hannover an irgendeiner Raststätte.
Die lilahäutige Bedienung hinter dem Tresen musterte Sina und ihre halb zerlaufene Gesichtsbemalung. »Find’ste das witzig?«, fragte sie und rümpfte die Nase.
»Ich ...«, begann Sina, aber die Frau hatte sich längst abgewendet. Sina seufzte und ließ die Schultern sinken.
Sie setzten sich an einen der Plastiktische, tranken ihren bitteren Kaffee und betrachteten die Nachrichten auf einem Bildschirm an der Wand.
Überall im Land wurden die Lager in Frage gestellt, Ministerpräsidenten anderer Bundesländer distanzierten sich vom Vorgehen in Niedersachsen. In Hamburg und Hannover waren Straßenschlachten im Gange.
Sina wischte sich mit einer Serviette die lila Farbe aus dem Gesicht. »Der Kampf hat erst begonnen.«
Jeremy seufzte und rieb sich die Augen. »Schätze, ich bin wieder dabei.« Vor Müdigkeit spürte er kaum, wie Sina neben ihn rutschte, um ihn zu küssen.