Als seit mehr als einem Jahr keine Saat mehr Früchte getragen hat, kein Kind und auch kein Jungtier mehr geboren wurde, zieht Jonah mit seinem Sohn Nils los, um die Ursache für die „Blockade“ der Natur zu erforschen. Mit einem analytischen Wesen und dem wissenschaftlichen Blick fürs Detail erkennt er, dass die Unfruchtbarkeit nicht nur im Land seines Stammes andauert. Der Wald im Norden, so erfahren sie auf ihrer Reise, soll noch Leben in sich tragen – und tatsächlich findet Nils dort einen Sprössling. Damit beginnt sein Abenteuer zwischen Elementargeistern, den Nornen und einem Kampf zwischen Natur und Fortschritt.
Geister, Götter und die Technik
In Nils treffen zwei Welten aufeinander, die kaum unterschiedlicher sein könnten: Das Naturvolk im nördlichen Wald lebt im Einklang mit der Erde und achtet die Götter und ihre Forderungen. Sie wissen, dass sich ohne die Elementargeister, die allem Lebendigen innewohnen, kein Leben entwickeln kann. Ihre Herrschaftslinie ist das Matriarchat – und es scheint keine Männer in ihren Reihen zu geben. Die drei Schicksalsgöttinnen Urd, Verdandi und Skuld lenken ihre Geschicke und leiten sie in ihrem Leben an.
Im krassen Gegensatz dazu steht die technologisierte, von Männern beherrschte Welt des Königreichs Cyan. Statt in Einklang mit der Natur zu leben, wollen sie diese ausbeuten und für sich nutzbar machen. Im Bestreben, sich die Erde untertan zu machen, fangen sie die Elementargeister mit Maschinen ein und zerstören so das Leben und die Natur selbst. Die Naturvölker sind nur Wilde für sie.
Nils und Alba: Hände der Götter
Zwischen dem Egoismus, der in der Herrschaft Cyans und seiner Gegenspieler vorherrscht, stehen Nils und Alba. Auf das eigene Wohl gerichteter Pragmatismus ist der Antrieb für das Matriarchat, Cyan und auch für Nils’ Vater Jonah. Nur Nils und Alba lassen sich von dem Hass der einzelnen Parteien nicht mitreißen, sie zweifeln, nehmen ihre Schicksale nicht als gegeben hin, wollen etwas ändern. Sie sind beide recht hitzköpfig und voreilig, wollen aber stets nur das Richtige tun.
Und so werden sie in ihrem Eifer, die Natur zu retten, zum Spielball der Götter, die in die Geschicke der Menschen nicht selbst eingreifen können oder wollen. So lenkt Skuld, die Göttin der Schuld, Alba auf einen Kriegszug gegen das Land Cyan; Verdandi, Göttin des Werdegangs, schickt Nils hingegen auf die Suche nach dem Leben selbst: nach Yggdrasil, dem Baum des Lebens.
Der Gegensatz in der Farbe
Während die natürliche Umgebung, der Wald und die Seen, vornehmlich in Blautönen gehalten sind, sind die zivilisierten Gegenden, die Stadt Cyan etwa oder der zerstörte Teil des Waldes, eher in Gelbtöne gefärbt. Auch farblich unterstreicht Nils somit den Gegensatz zwischen den beiden Welten.
Der Stil ist einerseits sehr detailreich und natürlich, ist aber andererseits frei von allen Schnörkeln und völlig klar. Die starken schwarzen Linien, die alles umranden, geben Nils einen sehr comichaften Look.
Alte Bilder in neuem Gewand
Das Bild, das Jérôme Hamon mit seiner Geschichte zeichnet, ist literaturhistorisch alles andere als neu – man denke etwa an Joseph Conrads Herz der Finsternis oder an Friedrich de la Motte Fouqués Undine. Trotzdem ist die Motivik, die in der nordischen Mythologie angesiedelt ist, doch ein innovativer und künstlerisch schöner Blick auf eine der ältesten Geschichten der Menschheit: der Konflikt zwischen weiblicher Natur und männlicher Zivilisation.
Charaktere mit viel Potenzial zu Tiefgang und Facettenreichtum sowie eine Geschichte voller Spannung und immerwährender Aktualität bieten dem Leser gute Unterhaltung – und gelegentlich die Möglichkeit, die eigene Position in dem auch für uns noch andauernden Konflikt zwischen Natur und Menschheit zu überdenken. Nils ist lesenswert und, obwohl er einige moralische Fragen aufwirft, nicht belehrend.
Nils – Band 1: Elementargeister
Jérôme Hamon, Antoine Carrion (Swantje Baumgart)
(Splitter Verlag, 2017)
55 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-95839-510-7
www.splitter-verlag.de