Nighttrain: Hellbound – Höllenfahrt ohne Wiederkehr
In der vielleicht letzten Anthologie aus dem Hause Nighttrain geht es auf schnellen Gleisen in die Hölle. Acht Kurzgeschichten und zwei großformatige Illustrationen begleiten uns bei dieser Reise. Dabei beweist der Band, dass es um die weirde Phantastik durchaus gut bestellt ist. Auf den knapp 160 Seiten reihen sich Highlight an Highlight.
Mittlerweile ist es über 6 Jahre her, dass ich auf den WhiteTrain aufmerksam wurde. Seitdem ich das IF Magazin des Kollektivs lesen durfte, bin ich von dem Autor*innen- und Künstlerkreis um Tobias Reckermann nicht mehr los gekommen. Es gibt kaum eine Publikation des Trains, die ich seitdem nicht gelesen hätte und – so viel auch als Disclaimer vorweg – dabei haben sich über die Jahre auch kleinere Zusammenarbeiten und Freundschaften entwickelt. Der Train ist für mich zu etwas Besonderem geworden und war sogar mein Einstieg in die Literatur. Ich habe ihm also einiges zu verdanken.
Viel zu verdanken haben die Autor*innen auch dem genannten Reckermann, der den Zug als Maschinist am Laufen hält. Seit etwa 15 Jahren schreibt, lektoriert und korrespondiert er unermüdlich, um das Feuer der weirden Phantastik in der deutschsprachigen Literatur lebendig zu halten. Da das eine durchaus kräftezehrende Aufgabe ist, soll der Zug nun langsam seine Endstation erreichen. Hellbound soll die letzte Anthologie unter dem Trainlabel sein und ist daher auch ein bisschen ein Geschenk des Maschinisten an befreundete Autor*innen, die sich hier noch einmal in gewohnter Umgebung frei entfalten können.
All on Board!
Den Anfang (und auch das Ende) der Anthologie machen zwei großformatige Illustrationen von David Staege, die den Band mit dessem unverwechselbaren Stil mehr als würdig rahmen. Staege ist einer der stetigen Illustratoren des Teams und derjenige, der mich damals überhaupt auf den Train aufmerksam machte und mit seiner Begeisterung anstecken konnte.
Die erste Geschichte stammt aus der Feder von Jayaprakash Satyamurthy und wurde gelungen von Christian Veit Eschenfelder übersetzt. Der “Express nach Eden” arbeitet gekonnt mit dem Zugmotiv, das den Kleinverlag bestimmt. Die kurze Geschichte begleitet die Reise von drei Collegestudierenden in einem überfüllten Zug durch Indien. Die Fahrt wird mystisch und schicksalsschwer, doch während sie stilistisch stark ist, hat sie bei mir viele Fragezeichen hinterlassen und konnte mich daher nicht ganz überzeugen. Die Schlaglichter auf die Reise sind in der Gesamtschau einfach ein bisschen zu surreal für meinen Geschmack.
Deutlich klassischer fällt “Diasmo” von Martin Ruf aus. Rufs Geschichte konnte mich voll in ihren Bann ziehen, was aber vielleicht auch meinem Faible für editionsgeschichtliche Details entspringt. Dreifach verschachtelt lesen wir einen Brief von Thomas Lovell Beddoes, der ein Manuskript enthält, das den Fund eines ganz und gar unchristlichen Textes beschreibt, der selber wiederum Teil des Manuskripts ist. Dieser Text rüttelt in angenehm behaglichem Tempo an unserem Weltbild. Diese Form des akademischen Horrors, der seine Pseudo-Glaubwürdigkeit über Präzision und akademischen Duktus gewinnt, geht für mich voll auf und erinnert in bester Weise an Poe oder Lovecraft. Allein die Sprache der aufgefundenen Schrift hätte stilistisch noch deutlicher abgehoben werden können.
Blutige Schreie!
Christian Veit Eschenfelder der bereits als Übersetzer zum Zug kam, legt mit “Biologische Harpyien” eines meiner unerwarteten Highlights der Sammlung vor. Hier erzählt er eine wahrhaft schauderhafte Geschichte einer abgeschiedenen Kultur, die sich mit dem oder den “Fremden” auseinandersetzen muss. Die andeutungsreichen Rituale sind teils grotesk brutal und sicherlich nichts für schwache Nerven. Manches erinnert mich an die makabersten Stellen von Rumors Fährte. Die Folgerichtigkeit der Rituale und die äußerst spannende Wendung des Entdeckungsmotivs machen die Geschichte für mich besonders interessant. Eine absolute Leseempfehlung.
Mit Erik R. Andaras Hotel Kummer und der Geschichte von Ina Elbracht geht es stark weiter. Andaras Kurzgeschichte habe ich bereits im Rahmen der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung besprochen, weshalb ich mir hier die begeisterten Worte sparen kann. Auch zu Elbracht befürchte ich mich zu wiederholen. Sie ist für mich eine der stärksten Stimmen der aktuellen dunklen Phantastik. Ihr Sprachgeschick und ihre Charakterzeichungen sind brillant und enttäuschen nicht. “Rosemary’s Scabies” hält mühelos den sowieso schon hohen Standard, den ich von der Kölner Autorin erwarte. Getragen von einer Protagonisten mit Flugangst gelingt es ihr, das Zugmotiv als Anlass für eine wahrhaft mysteriöse Geschichte zu nutzen. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ihre Realitätswendungen der letzten Abschnitte vollständig nachvollzogen zu haben, löst die Geschichte in mir einen einmaligen Sense of Wonder aus, der durch die Verschmelzung von Wirklichkeit und Übernatürlichem wieder einmal ins Volle trifft.
“J?”
Das hohe Niveau kann Felix Woitkowski mit “J” meines Erachtens leider nicht halten. Er beschreibt einen grotesk-surrealen Horrortrip in die Hölle. Knöpfe öffnen und schließen sich, Gliedmaßen werden aufs absurdeste überstreckt und über allen tickt ein drohendes Uhrwerk. Nach der Lektüre blieb mir Sinn und Zweck der Szenen allerdings weitgehend verborgen. Das Geheimnis lüftet sich etwas, wenn man die Intention des Autors (#14) erfährt, die fand ich jedoch eher enttäuschend als erhellend, da sich der Text dann als einfache Spielerei entpuppt, die so betrachtet leider verhältnismäßig plump ist. Die Geschichte arbeitet zwar deutlicher als die anderen mit der Idee der Höllenfahrt, konnte seine Zündkraft bei mir jedoch trotz reichlich Sprengstoff nicht erfüllen. Um so schöner das mir seine neueste Erzählung in den Kryptologicae wieder deutlich besser gefällt.
Hellbound im Kreise der verwandten Nighttrain-Bücher
An Woitkowskis Höllenfahrt schließt sich die Erzählung von Louis Marvick an. Übersetzt von Martin Ruf, haben wir hier eine Geschichte die durchaus Ähnlichkeiten zu Rufs “Diasmo” aufweist. Im Mittelpunkt steht ein seltsames musikalisches Artefakt. Wie auch in Rufs Geschichte werden das Auffinden und die Eigenschaften des Instruments genau beschrieben und lösen so einen akademischen Horror aus, der bei mir perfekt andockt. Dabei gelingt es dem musikbegeisterten Marvick die musiktheoretischen Aspekte auf eine Art und Weise zu beschreiben, die auch für nicht musikbegabte Lesende nachvollziehbar bleibt. Auch dank der hochwertigen Übersetzung eine absolute Leseempfehlung.
Zum Abschluss wird es dann noch einmal eisig. Silke Brand nimmt uns in “Unter dem Eis die Finsternis” auf eine Boots- und Zugfahrt durchs Packeis und in einen mysteriösen roten Wald mit. Die Geschichte ist ein mehr als würdiger Schlusspunkt der Sammlung, der durch ungemein atmosphärische Beschreibungen überzeugen kann.
Fazit:
Auch bei der letzten Einfahrt beweist Tobias Reckermann und das Nighttrainkollektiv, welches immense Potential deutschsprachige weirde Phantastik hat. Die versammelten Autor*innen und Übersetzungen haben ein durchweg hohes Niveau. Die meisten Erzählungen kann ich dabei umstandslos als Highlights bezeichnen. Am positivsten ist vielleicht, dass sich keine der Geschichten nach bloßem Genre liest. Immer ist da eine Spur “mehr” enthalten, die das absonderliche in die Wirklichkeit pflanzt. Nicht zuletzt weil Hellbound ein starkes Buch ist, das zeigt welche literarische Kraft die Lokomotive antreibt, hoffe ich, dass sich die Endstation als ein Kopfbahnhof entpuppt, und der weiße Nachtzug noch viele weitere Stationen anfährt. Und auch wenn nicht, dürfen wir sicher sein von den beteiligten Passagieren noch vieles weitere lesen zu dürfen.
Das Produkt wurde kostenlos für die Besprechung zur Verfügung gestellt.
Dieser Artikel ist erschienen bei: Zauberwelten-Online.de
Kommentare
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