Andreas Giesbert (Zauberwelten-Online): Liebe Cassandra, du bist in der Rollenspielszene aktiv. Machst Let‘s Plays und bist Host des Podcasts 3P - Pen, Paper & Pampers. Dabei thematisierst du immer wieder deine doppelte Rolle als Mutter und Nerd und berichtest über deine Erfahrungen von Rollenspielrunden mit deinen Kindern. Bevor wir näher zum Thema kommen. Stell dich uns doch erst einmal vor. Wer bist du, was machst du und was fasziniert dich so am Rollenspiel?
Cassandra Lill: Also, ich heiße Cassandra und bin mit meinen 36 Jahren und seit ungefähr 20 Jahren aktive Pen- und Paper-Rollenspielerin. Über das Hobby habe ich auch Manni kennengelernt, mit dem ich den 3P-Podcast zusammen betreibe. Seit wir Kinder haben, versuchen wir dieses Hobby, das bei uns sehr viel Raum einnimmt, natürlich auch mit der Familie zu vereinbaren. Ich bin Geisteswissenschaftlerin (Soziologie, Literatur- und Medienwissenschaften sowie Linguistik), warum mich auch immer der soziale Aspekt beim Rollenspiel und auch der ganze kreative Prozess um das Geschichtenerzählen herum mindestens genauso interessiert haben wie die Spiele und Systeme an sich. Manni arbeitet nebenbei als Übersetzer und Lektor für diverse Rollenspielverlage, weshalb durch ihn der ganze handwerkliche Aspekt des Geschichtenschreibens als Perspektive noch mit dazu kommt. Wir ergänzen uns thematisch also ganz gut.
Tatsächlich ist die Idee zum Podcast aus unseren üblichen Gesprächen beim sonntäglichen Kaffee über unsere Rollenspielrunden am Samstagabend davor entstanden. Wir haben am Anfang diese Gesprächsinhalte als Podcastthemen aufbereitet, einen Blog für Artikel und Rollenspielmaterial erstellt und sind mittlerweile bei Let’s Plays und Systemvorstellungen sowie natürlich den Kinderrollenspielen gelandet. Darum sind wir auch mit Live-Runden bei Twitch vertreten, aus denen wir später Videos für unseren YouTube-Kanal schneiden.
Andreas (ZWO): Als Elternteil oder Bezugsperson mit Phantastikhintergrund liegt es nahe, Rollenspiel mit Kindern auszuprobieren. Schließlich gehört das Spielen mit Rollen und kreieren von Phantasiewelten schon bei den Kleinsten zum alltäglichen Spiel. Aber worin unterscheidet sich das ganz normale Rollenspiel, vom "richtigen" Rollenspiel?
Cassandra: Im "normalen" Rollenspiel der Kinder wird hauptsächlich nachgeahmt. Dinge, die die Kinder in ihrem Alltag erleben, werden nachgespielt. Sobald sie anfangen, sich für gewisse Held*innen zu interessieren, finden auch die mehr Raum in ihrem unangeleiteten Spiel. Sie sind dann ihre Lieblingsninjas oder zähmen Drachen, während sie durch die Gegend toben.
Im Gegensatz dazu ist Pen- and Paper-Rollenspiel doch schon etwas anderes. Die Kinder denken und agieren in einem Charakter, der nach gewissen Regeln und mit einem bestimmten Hintergrund ausgedacht wurde. Außerdem können sie nicht einfach "alles", sondern lernen, auch mit Misserfolgen (beispielsweise verpatzten Würfelwürfen) umzugehen und auch die Erzählrechte der anderen zu wahren. Das Miteinander bekommt einen wichtigeren Stellenwert und die üblichen Gruppendynamiken in ihrer eigenen Clique (oder Geschwisterkonstellation) werden unterbrochen.
Andreas (ZWO): Mit welchem Alter kann man denn, deiner Erfahrung nach, mit geleitetem Rollenspiel beginnen?
Cassandra: Meiner Meinung nach ab 5 Jahren. Es gibt Rollenspiele, die ohne Zahlen und Rechnerei auskommen, warum die Kinder dafür auch noch nicht zwingend lesen, schreiben und rechnen können müssen. Aber das Vorschulalter, in dem die Kinder sowieso anfangen, sich länger auf Dinge zu konzentrieren und abstraktere (Spiel-)Regeln befolgen zu können, eignet sich unserer Meinung nach schon sehr gut. Natürlich gibt es Ausnahmen und auch jüngere können viel Disziplin am Tisch oder Ältere keine Lust aufs Pen- and Paper-Rollenspiel haben. Sowieso spielt die Tagesform und die Persönlichkeit des Kindes auch immer eine große Rolle.
Wobei mir wichtig ist, zu betonen, dass man prinzipiell immer alle teilhaben lassen sollte. Dann sitzt der 3-jährige Bruder eben dabei und malt, oder die zappelige 9-jährige geht kurz raus und tobt oder das Baby brabbelt auf der Couch daneben. Da wir in keinem homogenen professionellen Feld unsere Runden haben – wenn beispielsweise Jugendgruppenleiter eine Kindernachmittagsrunde mit ungefähr gleichaltrigen Kindern anbieten – sind die Runden und Umstände, in denen sie stattfinden, so individuell, wie Familien eben sind.
Andreas (ZWO): Mittlerweile gibt es einige explizite Kinder- und Jugendrollenspiele. Kannst du uns deine drei liebsten kurz vorstellen?
Cassandra: Ganz vorne steht für mich Little Wizards von Green Gorilla. In diesem Kinderrollenspiel verkörpern die Kinder kleine Hexen oder Zauberer mit einem tierischen Begleiter. Die ganze Welt ist unglaublich niedlich und kindgerecht und das "Zaubersystem" sehr frei, sodass die Kinder zu sehr viel Kreativität animiert werden. Außerdem gefällt mir am besten, dass es komplett gewaltfrei ist und Konflikte mit Empathie, Verstand und Magie zu lösen sind.
Mannis Favorit ist So nicht, Schurke!, das es bei Pegasus Spiele gibt. Hier ist besonders gut gelungen, dass die Charaktererschaffung mit dem Alter der Kinder komplexer wird und es einen Punktevorrat in Form von Spielchips gibt. Damit bekommen die Kinder beim Spielen noch etwas in die Hand. Punkten kann So nicht, Schurke! auch mit dem weiteren Spielmaterial wie Figurenaufsteller, Karten zu den Begleitern und Erweiterungsboxen zum Spielleiten und der Monstererschaffung. Auf unserem Blog www.penpaperpampers.de haben wir die Spiele ausführlicher vorgestellt [nämlich hier: So nicht Schurke! und hier Little Wizards – Anm. d. Redaktion).
Andreas (ZWO): Worin unterscheiden sich diese Rollenspiele denn konkret von den bekannten Systemen. Was machen Welt, Regeln und Abenteuer anders?
Cassandra: Sie holen die Kinder da ab, wo sie stehen. Sie stellen ihnen beispielsweise Begleiter*innen zur Seite – Kinder lieben das einfach – und lassen die Abenteuer kindgerecht ablaufen. Am Ende ist immer alles gut und die unheimliche Hexe im Wald war eigentlich gar nicht böse, sondern nur unverstanden. Das ist für jüngere Kinder sehr wichtig, damit sie mit einem guten Gefühl aus den Runden gehen.
Außerdem sind die Regeln meist so simpel, dass sie den Spielfluss nie stören und sie sich auch dazu eignen, erste Rechenaufgaben mit Vorschulkinder zu lösen. Es macht ihnen immer Spaß, wenn sie selbst das Würfelergebnis zusammenrechnen können. Trotz der Regeln räumen alle Rollenspiele den Kindern sehr viel Platz für eigene Ideen und Kreativität ein.
Die Abenteuer sind sehr geradlinig und passen sich auch da der Lösungskompetenz von Kindern an. Die Spielleitungen bekommen zudem viel Hilfestellung, warum ich Rollenspiele für Kinder auch sehr für Eltern geeignet finde, die selbst noch keine oder nicht viel Erfahrung im Pen- und Paper-Bereich haben. Man wird in den meisten Grundregelwerken gut an die Hand genommen, um eine gute Zeit mit seinen Kindern erleben zu können.
Andreas (ZWO): Das beste Rollenspielsystem ist noch lange keine Garantie für gelungene Spielrunden. Welche Tipps würdest du uns für gutes Rollenspiel mit Kindern geben?
Cassandra: So platt das klingen mag, aber tatsächlich in erster Linie die Tagesform zu beachten. Eltern kennen ihre Kinder am besten und wissen, wann sie am konzentriertesten und ehesten aufnahmebereit sind. Rollenspiel fordert doch auch sehr viel Konzentration – auch bei der erwachsenen Spielleitung – da ist der totale Stimmungskiller, wenn man oberzappelige Kinder hat, die nicht richtig zuhören (können) oder ständig um den Tisch toben.
Wir machen auch ein kleines Event aus unseren Spielsitzungen und fragen die Kinder, wann sie Lust haben. Dann machen wir mit ihnen einen Termin aus, so wie wir es mit unseren eigenen Erwachsenenrunden auch halten. Dann gibt es vorab genug Zeit an der frischen Luft, weil wir mit unserem jüngsten Sohn (mittlerweile 6, aber angefangen haben wir mit ihm zu spielen, als er 4 war) auch einen richtigen Wildfang haben. Der muss sich vorher bewegt haben, damit er uns vor Aufregung nicht auf den Tisch springt. Aber so lassen sich dann zwei Stunden bis zum Abendessen gut überbrücken und die Kinder freuen sich tagelang auf das Spielen.
Aber wie gesagt, das muss auch immer in die jeweilige Familie passen. Vielleicht sind manche nach dem Frühstück an einem verregneten Sonntag oder als Gute-Nacht-Geschichte vor dem Schlafengehen unter der Woche eher in Stimmung für Familienrollenspiel. Wichtig ist, dass man sich eine möglichst schöne Zeit zusammen macht, egal, wie die gestaltet ist. Wir versuchen auch immer an den Feiertagen, wenn wir mit der erweiterten Familie zusammenkommen, eine Runde gemeinsam mit den Nichten zu spielen. So schreiben wir dann spezielle Oster-Abenteuer oder Countown-Runden an Silvester mit den Kindern. Das ist bei uns schon zur Familientradition geworden.
Andreas (ZWO): Dabei muss es nicht immer pädagogisch sein. Spielen soll ja erstmal Spaß machen. Aber es gibt ja immer mehr Versuche, Rollenspiel in Bildungskontexten anzuwenden. Worin siehst du persönlich pädagogische Chancen des Rollenspiels?
Cassandra: Bei 3P geht es ja wirklich um das Kinderrollenspiel aus der Elternsicht, wir sind keine Pädagog*innen. Das betone ich auch immer wieder, weil ich mir diese Fachkompetenz nicht zuschreiben würde. Meiner (also laienhaften) Erfahrung nach sehe ich die pädagogische Chance in allererster Linie in der Empathiefähigkeit, die durchs Rollenspiel sehr geschärft wird. Das finde ich auch so viel wichtiger als das Rechnen und Schreiben, das sie dabei fast "nebenbei" automatisch üben. Aber dadurch, dass sich die Kinder in selbst geschaffene Charaktere reindenken und dabei versuchen, mit der Umwelt zu agieren oder miteinander im Spiel Rätsel zu lösen oder Konflikte zu besprechen, sind sie ständig in Kommunikation miteinander und fühlen sich auch in andere hinein.
Außerdem bekommen hier auch die sonst eher stilleren oder schüchternen Kinder ihr Spotlight und ich erlebe immer wieder, dass diese Kinder total aufblühen. Kinder genießen richtig, ihre Ideen und Aktionen im Rollenspiel von anderen gefeiert zu bekommen.
Andreas (ZWO): Pädagogisch oder auch nicht. Was war denn eine der schönsten Szenen im Rollenspiel mit Kindern, die du erleben durftest?
Cassandra: Es sind wirklich viele, mir kommt aber am ehesten in Gedanken, wie unser schon erwähntes wildes Kind sich im Rollenspiel immer als der sozialste und liebste Charakter am Tisch zeigt. In einer Situation wollten alle Kinder etwas anderes machen und sie standen kurz davor, die Gruppe zu trennen, da hat er sich als Jüngster am Tisch ganz deutlich ausgesprochen und sie alle motiviert, doch zusammen zu bleiben.
Ich finde, dass man ganz tolle Seiten an seinen eigenen Kinder entdeckt, die man so im Alltag gar nicht mitbekommt. Ob ein Kind besonders gewieft Rätsel löst oder einfach unfassbar lustig mit seinem Charakter ist, oder mutig oder oder oder, es gibt in jeder Spielrunde immer wieder eine schöne Überraschung.
Andreas (ZWO): Was dürfen wir denn in naher Zukunft von dir erwarten? Sehen wir dich in weiteren Let‘s Plays, hast du Überraschungsprojekte? Planst du eine neue Kampagne mit den Kindern?
Cassandra: Es wird viele weitere Let’s Plays geben, hauptsächlich mit Erwachsenen auf YouTube und unsere Kinderrunden zum Anhören im Podcast. Wir sind mittlerweile mit dem Green Gorilla Verlag befreundet und hoffen, auch in Zukunft tolle Kooperationen mit ihnen zu machen. Unter anderen spielt Basti von Green Gorilla auch bei meinen Little Wizards Let’s Plays auf YouTube mit oder ich leite Runden auf Conventions für den Verlag, um Little Wizards auch anderen vorzustellen. Konkret arbeiten wir jetzt vermehrt an Systemvorstellungen und auch da haben wir ein sehr spannendes Rollenspiel für Jugendliche im Regal liegen, das Gebärdensprache zum Inhalt hat und bald auf unserem Kanal gezeigt wird.
Andreas (ZWO): Da können wir alle sehr gespannt sein! Danke für das aufschlussreiche Interview. Ich wünsche euch noch zahllose tolle Spielrunden!