Ich schlich knurrend zum Eingang, denn mein Magen tat seinen Protest laut kund. Er und ich waren derselben Meinung: Wir wollten keinen Besuch, wir wollten fressen. Je nachdem, wer uns gerade mit welchem Anliegen störte, konnte dies auch der Einfachheit halber miteinander kombiniert werden. Rohkost ist gesund.
Es schellte erneut in dem Augenblick, als ich die Tür öffnete.
„Hallo, ich bins“, sagte Kai.
„Du kommst ungelegen“, antwortete ich mürrisch. „Ich habe keine Zeit.“
„Wieso, was machst du gerade?“, fragte Kai.
„Ich koche.“
„Vor Wut?“
„Vor Hunger.“
„Aha“, meinte Kai. „Da kann ich helfen. Ich bin gut im Helfen.“
„Ich weiß.“ Ich wusste nicht, ob ich das wusste oder wissen wollte. Doch ich gab verdrießlich trotzdem den Weg frei. „Komm rein, aber stör mich nicht.“
„Kein Problem, du kennst mich doch“, sagte Kai, war bereits eingetreten und legte den Mantel ab.
Mein Magen kommentierte Kais Aussage mit einem kurzen Knurren, ich kommentierte die Aussage mit einem vielsagenden Blick. Dann schloss ich die Tür und ging hinüber zu meiner Kücheninsel.
„Also, was gibt’s denn?“, fragte Kai neugierig, nachdem sie sich einen Stuhl an die Arbeitsfläche herangerückt hatte und nun darauf kniete. Interessiert besah sie sich die unterschiedlichen Geflügelsorten, die bereits gerupft, ausgenommen und zu kleinen Haufen zusammengeschoben waren.
„Federvieh-Frikassee à la Estdragon.“
„Heißt das nicht Estragon?“
„Waren wir uns nicht einig, dass du hilfst und nicht störst?“, hielt ich dagegen. „Es heißt natürlich Estdragon, weil dieses Rezept von Ester, meiner Schwester stammt.“
„Du hast eine Schwester?“
„Ja, warum auch nicht?“, zuckte ich mit den Schultern, während ich begann, die Fasane mit einer Kralle zu zerteilen, um sie dann in den großen Kessel zu werfen, der über der lodernden Bratfeuerstelle hing. Zuvor hatte ich fünf Pfund Butter hineingeschmissen, denn als erstes musste das Fleisch angeschwitzt werden.
„Wir Drachen sind im ausgewachsenen Alter zwar Einzelflieger, aber jeder von uns war Mal ein Schlüpfling. Wir haben also Familie, ob wir wollen oder nicht. Hier, du kannst das Grünzeug von den Mohrrüben abmachen.“
„Und schälen?“, fragte Kai nach.
„Nein, so genau muss es nicht sein“, antwortete ich und griff nach den Kapaunen. „Ich mag die Haut gerne.“
„Vom Gemüse? Ich wusste gar nicht, dass Drachen überhaupt gerne Gemüse essen“, sprach Kai.
„Naja“, ich drehte mich etwas schamhaft zur Seite. „Normalerweise tun sie das auch nicht.“
„Aber du bist da eine Ausnahme?“
Ich rollte ertappt mit den Augen, bevor ich genervt antwortete.
„Ja, beim großen Drachen nochmal. Ich gebe es zu, ich mag Gemüse. Fast so sehr wie Fleisch. Und Drachen lieben Fleisch. Also ist Gemüse sehr oft mein Fleisch.“
Verwirrt blickt Kai mich an. Ich stieß einen gequälten Seufzer aus.
„Ich fresse oft Gemüse und auch Obst, für einen Drachen zu oft. Daher fresse ich mittlerweile manchmal sogar Fleisch in Gemüseform, denn ich muss auf meine Linie achten. So reduziere ich mein Gemüsepensum und erhöhe zugleich mein Fleischpensum. Scharlatan, mein Wunderheiler, hat außerdem gesagt, dass mein Blutdruck für einen Drachen zu niedrig ist. Unser Blutdruck muss immer so hoch wie möglich sein, weil der unseren Feuerstoß beeinflusst.“
Kais Mimik zeigte ein gewisses Maß an eingefrorenem Grübeln. Sie versuchte offenbar, meine Erklärung zu verstehen. Ich warf derweil den letzten Schwan in den Kessel. Dann griff ich nach dem Mehl und bestäubte den Kesselinhalt reichlich. Zum Ablöschen schüttete ich mehrere Krüge Brühe hinzu. Danach zerteilte ich einige Äpfel, die ebenfalls im leicht siedenden Sud landeten. Vorsichtig schob ich das Fleisch, das bereits selig vor sich hindünstete, mit einer großen Kelle im Kessel herum.
„Eigentlich dürfte ich gar nicht so viel Gekochtes oder Gebratenes zu mir nehmen“, fuhr ich fort, während ich mich dazu entschied, noch einige Täubchen als Geschmacksabrundung zur Frikassee-Basis hinzuzugeben. „Genau wie zu viel Gemüse schadet es leider meiner Gesundheit. Aber was soll ich machen, ich liebe Röstaromen und wenn das Fleisch so zart ist, dass es in einer sämigen Soße von den Knochen fällt … das ist einfach herrlich.“
Kai nickte versucht verständnisvoll, während sie mir die Möhren hinüberschob, die ich in den Kessel rutschen ließ. Ich goss noch ein Fässchen Brühe obendrauf.
„Und der FDH-Passus aus den Zwielichtrichtlinien ist bei der Einstellung zur Drachenernährung absolut eindeutig“, ergänzte ich mein eben Gesagtes.
„Was heißt denn FDH?“, wollte Kai wissen. „Friss die Hälfte?“
„Nein, das macht doch niemanden glücklich. FDH heißt ‘Friss dich hyggelig‘!“
„Dass heißt …“, begann Kai zögerlich.
„Dass heißt, dass es für Drachen eines der obersten Gebote ist, dass sie sich mit ihrer Lebensweise wohlfühlen sollen. Und das schließt die Ernährung grundlegend mit ein. Was kann ich denn dafür, dass mir Gemüse, Gekochtes und Gebratenes schmecken?“ Ich wedelte mit der Klaue in Richtung Küchenecke. „Reichst du mir mal die Erdäpfel rüber?“
„Die was?“
„Die Kar-tof-feln“, betonte ich etwas übertrieben den bei den Menschen geläufigeren Namen der Knolle. „Man kocht sie, stampft sie, tut sie in die Suppe.“
„Ich weiß, was man mit Kartoffeln machen kann“, sagte Kai, während sie mir einen kleinen Sack der Erdäpfel entgegenstreckte. „Ich mag sie gerne als Pommes Lanze rot-weiß.“
„Ja, zum echten Jägerschnitzel sind die nicht schlecht“, bestätigte ich. „Zusammen mit der typischen Pilzsoße sogar wirklich schmackhaft.“
„Ich mag keine Pilze“, sagte Kai.
„Macht ja nichts. Pilze sind optional und nicht jedermans Sache“, sprach ich gelassen und schüttete einen Korb Steinpilze aus eigener Feendrachenhöhlenzüchtung in das Kesselgemisch.
„Du kochst anscheinend gerne“, stellte Kai fest.
„Das kann man so sagen“, sagte ich. „Es gibt nur eins, was ich lieber tue als kochen und das ist fressen. Fressen ist eindeutig eine Drachensache. Für viele Drachen ist es so wichtig, dass sie ihre Speisekammer gleich neben ihrer Schatzkammer haben. Manche haben ihre Speisekammer sogar in der Schatzkammer versteckt.“
„Und deine Speisekammer, die ist wo?“, fragte Kai.
Ich kniff ein Auge zusammen und sah Kai misstrauisch an.
„Wozu willst das wissen?“
„Naja, vielleicht kann ich mich mal da drin umsehen und schauen, ob es Zutaten gibt, aus denen ich etwas kochen könnte“, antwortete Kai.
„Hast du Hunger?“
Kai zuckte mit den Achseln. Ich guckte nachdenklich auf die Pilze, die im blubbernden Frikassee schwammen. Dann blickte ich wieder Kai an.
„Was willst du denn kochen?“, fragte ich versöhnlich.
„Armer Ritter.“
Ich erstarrte kurz. Hatte ich gerade richtig gehört?
„Armer was?“
„Armer Ritter“, wiederholte Kai. „Kennst du das nicht?“
„Ähhh …“ Doch, ich kannte das Gericht. Mir war allerdings bisher nicht klar gewesen, dass die Menschen ebenfalls ein solches Rezept hatten. Und dass sie es sogar von ihren Kindern kochen ließen. Ein weiteres Mal war ich erstaunt darüber, wie barbarisch Menschen sein konnten.
„Ich weiß aber nicht, ob ich gerade Ritter da habe“, sagte ich daher vorsichtig.
„Das ist auch nicht nötig“, antwortete Kai ruhig. „Ich brauch bloß ein bisschen weißes Brot und Milch, ein oder zwei Eier, etwas Zucker und Vanille und …“
Offenbar war das menschliche Rezept nicht so kannibalisch, wie ich zuerst angenommen hatte. Da ich mir jedoch vor Kai nicht die Blöße geben wollte, dass ich diese Rezeptvariante nicht kannte, beschloss ich die aufgezählten Zutaten schnellstens aus meiner Speisekammer zu holen.
„Bin gleich wieder da. Kannst du in der Zwischenzeit das Frikassee weiter rühren?“ bat ich, als ich hinter der Schatzkammertür verschwand. Kurz darauf war ich wieder zurück und legte Kai das Gewünschte vor. Nachdem sie sich noch eine Pfanne von mir geliehen hatte, begann Kai sofort mit der Zubereitung ihres Gerichts. Ich sah ihr interessiert über den Kopf, während ich hin und wieder in meinem Frikassee herumrührte. Kai tauchte die Brotscheiben in ein Milch-Eier-Zucker-Vanille-Salz Gemisch und legte sie danach in die heiße Butterschmalz-Pfanne. Sie briet die Scheiben kurz von beiden Seiten an, sodass sie leicht knusprig braun wurden. Ich muss zugegeben, obwohl weder Fleisch noch Gemüse im Spiel waren, bekam ich Appetit.
„Darf ich auch einen armen Ritter probieren?“, fragte ich deshalb. „Du bekommst dafür etwas vom Federvieh-Frikassee, wenn du magst.“
„Na klar“, sagte Kai und schob die Brotscheiben auf den Teller, den ich ihr bereitgestellt hatte. Meine Frikassee-Portion schöpfte ich aus dem Kessel auf eine Drachenplatte, die aus einem Plattenpanzer gefertigt war. Kai legte mir zwei Brotscheiben an die Seite. Ich suchte dafür etwas Täubchenfleisch mit Mohrrübe und Apfel heraus und drapierte dieses um ihre armen Ritter herum.
„Guten Appetit“, sagte Kai und biss herzhaft in eine Brotscheibe.
„FDH“, meinte ich und schob mir einen halben Schwan mit Steinpilz-Möhren-Soße zwischen die Kiefer. Noch zehn, fünfzehn Kartoffeln dazu und ich kaute und schlang zufrieden vor mich hin. Danach testete ich Kais armen Ritter. Er schmeckte vorzüglich.
„Sehr lecker“, bemerkte ich.
„Hm, dein Frikassee aber auch“, gab Kai mit vollem Mund zurück.
So aßen wir beide schmatzend unsere Portionen leer. Satt schob Kai ihren Teller von sich. Ich nahm mir natürlich noch eine zweite Platte nach.
„Sage mal“, sprach Kai schließlich, während sie mir auf dem Arm gestützt beim Schlemmen zusah. „Ist dir eigentlich schon aufgefallen, wofür FDH noch stehen könnte?“
„Was meinst du?“, fragte ich nebenher. Meine ganze Konzentration galt mehreren Fasanen-Kapaunen-Teilchen.
„Na, das liegt doch ganz nahe. Eigentlich liegt es sogar um dich, um uns herum“, meinte Kai und breitete die Arme aus.
Ich unterbrach für einen Moment meine Fresserei und tastete mich mit den Augen durch meine gesamte Feendrachenhöhle. FDH?
„Keine Ahnung“, antwortete ich dann flügelzuckend und schob mir die nächste Klaue Federvieh-Frikassee à la Estdragon ins Maul. Kai schmunzelte nur.
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