„K-kann mi-chniii-chtrü-hürhen“, klapperte ich mit den Zähnen, während ich versuchte die Augen Richtung Tür zu verdrehen.
Ein kleines mir mittlerweile wohlbekanntes Gesicht schob sich von unten in die runde Fensteröffnung, die sich neben meinem Höhleneingang befindet.
„He, warum stehst du da wie festgefroren und öffnest nicht?“, rief Kai hinein.
Nur langsam taute ich wieder auf.
„Komm einf-f-f-ach sel-b-b-bst rein“, stotterte ich.
„Komm du einfach raus“, gab Kai zurück. „Es ist ein herrlicher Wintertag. Die Sonne scheint und überall liegt Schnee. Lass uns was draußen machen.“
Ich schüttelte mich einmal und strich mir dann mit einem kleinen Feuerstrahl über den unterkühlten Drachenrücken. Als ich wieder bewegungsfähig war, schlurfte ich kniggerig zum Fenster. Die kalte Luft schlug mir entgegen, genau wie Kais Stimme.
„Na los, nun komm schon raus!“, lachte Kai und war bereits dabei, Schnee für einen weiteres Wurfgeschoss zusammenzuschieben.
„Wir Feendrachen mögen keinen Schnee, wir verabscheuen ihn“, erklärte ich gewichtig, nachdem ich meinen Kopf durch das Fenster gesteckt hatte. „Im Gegensatz zu vielen anderen Drachenarten haben wir nämlich keine Schuppen im herkömmlichen Sinn, außer am Bauch. Unsere Haut ist zwar dick wie Jägerleber, aber zugleich so empfindlich wie ein Elfenpo. Also ist es nur natürlich wenn …“
Weiter kam ich nicht, denn der nächste Schneeball knallte an die Höhlenwand und verfehlte mich dabei nur knapp um Maulesbreite.
„Ach, jetzt sei doch kein Frostköttel“, neckte Kai mich. „Komm endlich raus!“
„Ich glaube, ich möchte das nicht“, sagte ich verschnupft und zog den Hals wieder ein. Am liebsten wollte ich mich in meiner Höhle verkriechen und diese bis zum Frühjahr nicht mehr verlassen.
Kai öffnete die Tür und steckte den Kopf rein.
„Mir zuliebe, büühte.“
Ich schnaufte einmal gereizt und beging dabei den Fehler in Richtung Kai zu blicken. Ich sah direkt in ihre großen Kulleraugen.
„Na gut“, ließ ich mich erstaunlich schnell breitschlagen.
Muffelig schob ich mich zu meiner Garderobe, griff nach einem langen Schal aus Yetiwolle und fummelte diesen umständlich um den gesamten Hals. Mit dem zweiten, noch längeren Schal umwickelte ich sorgfältig meinen Drachenschwanz. Dann zog ich mir Klauenschuhe über, die inwendig mit Zerberusfell ausgekleidet sind und aus denen meine Krallen herausragen. Und schließlich stülpte ich mir noch eine Mütze aus Phönixfedern über, die zwei Löcher für meine Hörner besitzt.
„Gut gerüstet“, stellte Kai fest, die selbst in ihren Wintermantel eingehüllt war und ebenfalls Mütze, Schal und Handschuhe trug. „Dann kanns ja losgehen.“
„Moment noch“, maulte ich. Aus dem kleinen Schränkchen, welches neben der Garderobe hing, holte ich eine Phiole hervor. Ich entstöpselte diese mit einem leisen Plöpp, kippte den Inhalt hinunter und legte das leere Fläschchen zurück. Eine weitere Phiole klemmte ich zur Sicherheit unter meinen Drachenschwanzschal.
„In Ordnung, wir können“, ergab ich mich in mein Schicksal und trat vor die Tür. Die gleißende Wintersonne stach mir unangenehm in die Augen. Ich war an die zwielichtigen Verhältnisse meiner Feendrachenhöhle gewöhnt. Bei so viel Helligkeit auf einmal musste ich einige Male zwinkern, um danach ziemlich klar zu sehen.
„Was hast du denn da getrunken?“, fragte Kai interessiert, als sie die Tür schloss.
„Das war ein Zaubertrank gegen innere Kälte. Der erspart mir das Hineinzwängen in den Drachenhoodie“, antwortete ich, während ich vorsichtig mit meiner beschuhten Klaue in die weiße Widerlichkeit stippte. Es war unheimlich, wie die Klaue darin verschwand, aber wenigstens spürte ich die feuchte Nässe nicht. Nach dem erfolgreich verlaufenen Test tapste ich los. Ich hob jedes meiner vier Beine nacheinander betont empor und hielt auch den Schwanz in die Luft, umso wenig Kontakt wie möglich mit dem Schnee zu haben. Das war allerdings auch anstrengend und daher musste ich bereits nach den ersten umständlichen Schritten eine Pause einlegen. Mit gespreizten Gliedmaßen stand ich im Schnee und sah mich nach Kai um.
„Wo willst du hin?“, fragte ich angespannt.
„Lass uns einen Spaziergang durch den verschneiten Wald machen“, schlug Kai vor.
„Wenn's sein muss. Wir könnten zum schalen See gehen. Dort war ich schon seit längerem nicht mehr“, erwiderte ich und stakste weiter, wie ein Spanferkel, dem man soeben den Bratspieß in den Allerwertesten geschoben hatte.
„Der schale See?“, fragte Kai.
„Ja, er ist nicht besonders groß oder tief, aber er erfüllt seinen Zweck.“
„Das klingt doch gut“, sagte Kai und wir schlugen den Weg zum Wald diesseits des feuchten Flusses ein.
Als wir den Frostforst betraten, umfing uns sofort jene Art von frostiger Stimmung, die eben nur ein Forst im Frost verströmen kann. Jeder Baum, jeder Strauch bog sich unter der Last der weißgefrorenen Wassermassen. Zudem hingen Eiszapfen von den Ästen herab. Die glänzende Sonne, die von einem stechendblauen Himmel herabstrahlte, ließ Schneekristalle und Eisstalaktiten glitzern. Die Welt wirkte wie in Watte gepackt, zugedeckt. Eine ganz eigene Stille verschluckte die gewohnten Geräusche. Selbst das Knirschen und Knautschen, das Kai und ich verursachten, als wir über die unberührten zugeschneiten Waldwege stapften, wirkte gedämpft. Unser nebelhafter Atem schien, neben unserem schweigenden Gang, die einzige Form von Zeit anzuzeigen.
Plötzlich vernahm ich ein Knacken und Stampfen im Gebüsch.
„Kai“, sagte ich, blieb stehen und sah mich suchend um.
„Was ist?“, fragte Kai zurück.
„Guck mal da hinten!“ Ich deutete mit meiner Schnauze in das Dickicht. „Siehst du die braunen Flecken?“
„Ja“, antwortete Kai. „Sind das Rehe?“
„Nein, keine Rehe. Die gibt es hier nicht mehr, ausgestorben. Das sind Einhörner. Aber nur eine kleine Herde.“
„Ähm“, Kai hörte sich skeptisch an, „seit wann sind Einhörner braun? Die sind doch weiß. Und sind Einhörner nicht eher Einzelgänger? Du weißt schon, kämpfen mit dem Löwen um die Herrschaft im Wald und so.“
Mit dieser Aussage wurde mir einmal mehr bewusst, wie viel Ahnung Menschen von uns phantastischen Wesen und unserer Lebensweise in Wirklichkeit hatten: Nämlich keine. Die ganzen Märchen, die man Menschenkindern beibrachte, waren allesamt derart mit Fake-Facts, Fantasy-Finten und Fata Morganas gespickt, dass es einem fähigen Fabulierfakir in der Fabelfabrik vor Freude frontal die Fratzenfalten in die Visage gefräst hätte. Mir hingegen rollten sich bei diesen Legenden nur die ungeschnittenen Klauennägel hoch. Da musste ich wohl oder übel Aufklärungsarbeit leisten.
„Die Einhörner tragen jetzt ihr Winterfell“, erläuterte ich so nachsichtig wie möglich. „Im Sommer weiß, im Winter braun. Müssen schließlich immer auffallen, sonst wären es ja keine Einhörner. Und natürlich treten die gerne in bzw. vor einer Gruppe auf. Vor allem die Waldeinhörner. Haben meist ein paar Pferde im Schlepptau, als Groupies. Lass dir außerdem gesagt sein: Kein Löwe ist so dämlich, in einem Wald zu leben, in dem Einhörner wohnen. Löwen wollen nur ihre Ruhe, aber Einhörner brauchen den großen Auftritt und Drama, Drama, Drama.“
Die Einhörner hatten uns aus der Ferne erblickt, begutachtet und für zu uninteressant befunden. Empört über die banale Schlichtheit unserer bloßen Existenz, drehten sie stante pferdes auf ihren gespaltenen Hufen um und verschwanden laut schnaubend zwischen den Bäumen.
„Wir sind gleich da“, sagte ich und ging weiter, während Kai dorthin starrte, wo eben noch die Einhornherde gestanden hatte. Nur langsam konnte sie sich lösen und kam mir hinterher.
Der Weg schlängelte sich. Als wir um eine weitere Kurve bogen, hatten wir unser Ziel erreicht. Vor uns breitete sich wie in einer Schale der schale See aus. Ich zupfte mir erstmal meinen Schal zurecht. Jetzt, bei diesen Temperaturen, war die Oberfläche natürlich zugefroren, aber der Anblick dennoch magisch. Ein violetter, milchiger Schimmer wallte darüber.
„Hier ist es ja wunderhübsch“, sagte Kai und drückte die Hände zusammen.
„Ja, das stimmt“, pflichtete ich Kai bei. „Wenn ich diesen See seh, brauch ich keine Mär mehr. Und noch etwas. Im Sommer hockt hier manchmal eine junge Frau drin.“
„Oh“, hauchte Kai und machte wieder Kulleraugen. „Eine Seejungfrau, mit einem Fischschwanz?“
„Ich weiß nicht, ob sie einen Fischschwanz hat. Wenn ich sie sehe, streckt sie eigentlich immer nur ihren Arm aus dem Wasser und fuchtelt dabei mit einem Schwert in der Hand rum. Keine Ahnung was sie damit bezweckt. Vielleicht will sie nur die Mücken vertreiben, die einen im Sommer hier fast auffressen.“
„Und ist sie jetzt auch da?“, erkundigte sich Kai weiter.
Ich zuckte mit den Flügeln.
„Weiß nicht, vielleicht. Aber gesehen hab ich sie im Winter noch nie.“
„Was daran liegen könnte, dass dann der See zugefroren ist“, sprach Kai.
„Ja, mag sein.“
Einen Moment lang blickte Kai sehnsüchtig auf die gefrorene Wasseroberfläche. Dabei entrang sich ihr ein leiser Seufzer. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu.
„Und, wollen wir was machen?“
„Ja“, antwortete ich gleichgültig. „Wo wir sowieso schon mitten im Winterwald stehen. An was hast du gedacht?“
„Willst du einen Schneemann bauen? Oder etwas anders bauen?“, fragte Kai zurück.
„Du fängst aber nicht an zu singen oder lässt jetzt irgendwas los?“, erkundigte ich mich mit hochgezogener wenn auch nicht vorhandener Braue.
„Wieso?“
„Ich mein ja nur“, wiegelte ich ab.
„Nein. Jeder von uns macht einfach eine Figur aus Schnee“, sagte Kai und begann bereits eine Schneekugel zu formen und diese durch den auf den Boden liegenden Schnee rollend zu vergrößern. Dieser Anblick und die Vorstellung an die Kälte ließen mich einmal erzittern. Aus Sorge, dass die Wirkung des Trankes bereits nachlassen könnte, holte ich die zweite Phiole hervor und leerte diese in einem Zug.
Dann machte ich mich ebenfalls an die Arbeit und schob Schnee zusammen. Ich wusste, dass ich für meine Figur sehr viel von diesem weißem Pappzeug brauchen würde. Daher sammelte ich zuerst einen großen Haufen und presste und klopfte und stülpte dann noch mehr von der lockeren Masse oben drauf. Ich wollte eine besonders hohe und breite Schneefigur bauen, um Kai zu beeindrucken. Durch die Anstrengung oder den zweiten Trank wurde mir richtig warm. Ich zog daher meine vorderen Klauenschuhe aus. Mit meinem Bau kam ich sehr schnell voran. Ich hatte Kai schon eingeholt. Wir waren zeitgleich fertig, betrachteten nebeneinanderstehend unser Werk.
„Beeindruckend! Das nenn ich mal Schneedrachen. Und so groß“, sagte Kai wie erhofft. Meine Figur stand gleich neben der ihren, nahe dem Seeufer, und ragte zwischen den verschneiten Tannen hinauf.
„Naja“, erwiderte ich geschmeichelt und wischte mir über die heiße Stirn. Ich setzte die Phönixfedermütze ab. „Das soll ein Verwandter von mir sein, ein angeheirateter Cousin meines Onkels mütterlicherseits. Er ist ein Eisdrache. Aber ich habe ihn schon ewig nicht mehr getroffen, unser Verhältnis ist etwas unterkühlt. Hast du Klüpfel nachgebaut?“
„Ja, genau“, freute sich Kai, weil ich den Zyklopen erkannt hatte. „Aber irgendwie finde ich, sieht er eher aus wie ein Olaf.“
„Olaf?“, wiederholte ich ungläubig. „Das klingt wie ein Narrengruß.“
„Puh“, sagte Kai da und machte ein paar Schritte von mir weg. „Du bist ganz schön warm.“
Das stimmte, mir war wirklich sehr warm geworden und ich begann wie ein heißer Pilz zu strahlen. Ich hatte offenbar noch genug intus gehabt und den zweiten Trank zu früh zu mir genommen. Nun wärmte dieser mein Inneres nicht nur gegen die Kälte an, sondern heizte es regelrecht auf. Schon musste ich mir den Drachenschwanzschal abwickeln und auch die beiden hinteren Klauenschuhe abstreifen.
„Es wäre vielleicht gut, wenn du etwas von deinem Schneedrachen weggehen würdest. Du bringst die Umgebung zum Schmelzen“, sagte Kai und deutete auf den Flecken, auf dem ich stand. Der Schnee war kreisförmig um mich herum weggetaut und ich stand auf grasigem, nassem Waldboden.
„Ach“, winkte ich ab, „was soll da schon passieren.“
„Naja“, grübelte Kai und betrachtete meinen tropfenden Schneedrachen. „Vielleicht fällt die Figur um und auf dich drauf. Wie bei … Wie heißt das nochmal wenn der Schnee in den Bergen geballt runterkommt und man sich darunter nicht mehr bewegen kann?“
„Flockdown?“, versuchte ich zu helfen.
„Nein, es war was mit La am Anfang und ne am Ende“
„Lasagne, Laverne, Laterne, Latrine,…“, leierte ich runter und wickelte dabei auch noch den zweiten Schal ab.
„Jetzt weiß ichs wieder“, rief Kai. „Lawine!“
In diesem Moment stürzte mein Schneedrachen über mir zusammen. Durch die Masse wurde ich nach hinten gedrückt. Ich plumpste auf den gefrorenen See. Für einen Augenblick war ich ganz von Schnee und Eis eingeschlossen. Doch nicht lange, denn durch mein inneres Feuer schmolz beides sehr schnell dahin.
„He“, hörte ich Kai rufen. „Geht’s dir gut?“
Das Eis splitterte und ich krachte in den See. Natürlich war das Wasser an der Stelle nicht tief. Aber nass. Und auch wenn ich die Kälte nicht spürte, war es einfach unangenehm.
„Hach“, meinte ich genervt. „Genau deshalb mag ich Winter und Schnee nicht. Das gibt nichts als Scherereien. Aua!“
Wie vom Hafer gestochen hüpfte ich aus dem See. Ich weiß nicht was es gewesen war, aber es hatte sich so angefühlt, als ob mich etwas sehr Hartes, sehr Spitzes in meinen Drachenschwanz gepiekt hatte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kai.
„Ich weiß nicht“, sagte ich und rieb mir die schmerzende Stelle. Als ich auf das Wasserloch im Eissee blickte, glaubte ich eine Schwertspitze im Wasser verschwinden zu sehen. „Ich will jetzt wieder in meine Feendrachenhöhle.“
„Dieser Trank, den du genommen hast, woher hattest du den?“, fragte Kai, während sie mir half, meine Klauenschuhe und Schals zusammenzusuchen.
„Von dem fahrenden Zauberer“, antwortete ich.
„Du meinst den, mit der kaputten Palland-Tier-Kugel?“, erkundigte sich Kai.
„Ja, genau den.“
„Na, der Trank hat aber funktioniert. Und das nicht zu knapp.“
„Hmpf“, machte ich, während wir den Heimweg antraten. „Ich hätte mir denken, können, dass so etwas passiert. Erst hatte ich Glühfüße, dann eine Glühbirne. Bei dem Namen des Trankes hätte mir eigentlich ein Licht aufgehen sollen.“
„Wieso?“
„Der Zauberer sagte, es handele sich um Glühwein.“
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