‚Wer ist so verrückt und bei diesem Wetter draußen unterwegs?‘, dachte ich und hielt mit einem ungehaltenen Wisch den Zauberspiegel an. ‚Das wird doch wohl nicht Kai sein? Zuzutrauen wäre es ihr.‘
Widerwillig begab ich mich zum Höhleneingang. Dort öffnete ich die Tür einen Spalt breit … und bekam von den schweren Holzbrettern sofort mächtig einen vor die Schnauze geknallt. Der Wind war wirklich stark. Schnell drückte ich die Tür wieder zu, nicht jedoch ohne einen kurzen Blick hinausgeworfen zu haben. Aber da war niemand. Ich zuckte die Schultern, rieb mir die schmerzhafte Stelle und drehte mich wieder dem Höhleninneren zu.
„Hallo“, sagte Kai.
Vor Schreck rutschte mir das Herz fast in den Drachenschwanz.
„Wie kommst du hier rein?“, fragte ich, als ich mich wieder einigermaßen gefasst und ein Schreckrauchwölkchen runtergeschluckt hatte.
„Du hast mir die Tür aufgemacht. Hast du das etwa schon vergessen?“ Kai sah mich prüfend an.
„Was? ... Nein. Aber du warst doch gar nicht … Ach, ist ja auch egal“, sprach ich und zuckelte genervt zu meinem Zauberspiegel zurück. Meine Schnauze tat noch immer weh und ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken, wie schnell Kai unbemerkt an mir vorbeigeschlüpft war, während ich einen Einhornkuss von der Tür erhalten hatte.
„Geht es dir wieder gut?“, fragte Kai und legte ihren Regenmantel ab.
„Naja, so halbwegs“, grummelte ich. „Meine Nüstern haben was abbekommen.“
„Das mein ich nicht. Ich frage wegen deines Kopfes“, sagte Kai und tippte sich an die Stirn. „Du weißt schon, wegen Halloween. Dir war an dem Abend so schwindelig.“
„Ach das.“ Daran wollte ich erst recht nicht denken. Doch der Abend war allemal besser als der Morgen danach, denn der war so ziemlich das Letzte, an das ich mich erinnern wollte. Mir war bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar, dass alkoholisierte Schokoladentrüffel eine solch hämmernde Nachwirkung auf mich haben. „Jaja, das ist schon wieder in Ordnung.“
„Das ist gut, dann können wir heute wieder etwas unternehmen.“
Erst jetzt fiel mir auf, dass Kai zwei Taschen neben sich auf den Boden gestellt hatte. Dünne Holzleisten und eine Papierrolle ragten heraus.
„Schon wieder?“, meinte ich gequält.
„Jepp. Und zwar etwas, was prima zu diesem Wetter passt. Wir lassen einen Drachen steigen.“
Ich sah Kai an, als ob entweder sie oder ich nicht alle Juwelen in der Krone hätten.
„Wie meinst du das?“, fragte ich vorsichtig.
„Na, wie ich es sage“, erklärte Kai und begann den Inhalt der Taschen auf dem Boden zu verteilen. „Drachensteigenlassen ist bei dem Wind super!“
„Aber das ist kein Wind zum Fliegen, da kann sonst was passieren“, begann ich mich aufzuplustern. „Ich weiß das ganz genau, weil ich ein sehr guter Flieger bin. Es ist furchtbar windig und luftig und … und …“ ein kleines Rauchwölkchen stahl sich heraus, „ … wenn ich da in die Luft gehen soll, das kannst du vergessen. Da mach ich nicht mit!“
Kai sah mich verwundert an.
„Wer hat denn von dir gesprochen?“
„Na du“, meinte ich verärgert, setzte mich bockig auf die Hinterläufe und verschränkte die Vorderbeine.
„Nicht doch.“ Kai schüttelte den Kopf. „Ich habe gesagt, wir lassen einen Drachen steigen. Nicht dich! Wir basteln uns zuerst einen Papierdrachen, binden ihn an eine lange Schnur und lassen ihn dann im Wind fliegen.“
„Ach so?“ Verdutzt kroch ich an Kais Krimskrams heran. Ich schnüffelte die Sachen einmal neugierig ab. Bei einem Töpfchen musste ich kräftig schnauben. Der Geruch stach mir in meine überempfindlichen, vor Schmerz pochenden Nüstern. Es roch ähnlich wie Benzin.
„He, Vorsicht mit dem Klebstoff! Den brauchen wir noch“, sprach Kai. Sie hatte bereits alle Materialen zurechtgelegt und wollte gerade beginnen.
„Ich glaub, ich will das nicht“, sagte ich daraufhin. Das mit dem Klebstoff, das war nichts für mich.
„Ach, und was willst du lieber machen?“, fragte Kai während sie einen Pinsel in das vermaledeite Töpfchen tauchte und dann die zähe, stinkige Flüssigkeit auf den Holzleisten verteilte.
„Na das, was Drachen so machen“, antwortete ich ausweichend. „Drachensachen eben.“
„Und was wäre so eine Drachensache?“
„Äh, nun ja … in den Zauberspiegel schauen beispielsweise“, gab ich verschämt und sehnsuchtsvoll zugleich zu.
„Zauberspiegel? Ich dachte, die Palland-Tier-Kugel funktioniert nicht.“ Kai hatte die Holzleisten zu einem rauteförmigen Gestell verbunden und in dessen Mitte ein Kreuz übereinander gelegt. Gerade war sie dabei, mit einer Schere etwas aus dem mitgebrachten Papier auszuschneiden.
„Aber nicht doch. Der Zauberspiegel ist doch keine Wahrsagerkugel“, belehrte ich Kai. „Im Zauberspiegel laufen bewegte Bildgeschichten, zur Unterhaltung. Das ist ähnlich wie für euch Menschen fernsehen oder das mit den Strömungen. Ich habe mir letztens mehrere Abos zugelegt, unter anderem eins von Nedd-fix. Seitdem muss ich einfach immer weitergucken, ich kann gar nicht aufhören. Es ist so spannend.“
„Aha, du suchtest also“, stellte Kai fest. „Du bist ein Serien-Junkie.“
„Also bitte, ich versuche doch kein kleiner Junker zu sein!“, empörte ich mich und richtete mich zu voller Größe auf. „Ich bin ein ausgewachsener Feendrache.“
„Das habe ich nicht gemeint.“ Kai werkelte unbeirrt fort und blickte nicht einmal auf. „Du bist abhängig vom Seriengucken. Und deshalb ist es gerade gut, wenn wir zur Abwechslung was anderes machen. Drachensteigenlassen ist auch eine tolle Drachensache.“
‚Wer’s glaubt‘, dachte ich mürrisch und betrachtete Kai, oder besser gesagt ihr Werk, gelangweilt. „Was machst du da eigentlich?“
„Wie gesagt, ich bastle den Drachen aus Holz und Papier.“
„Aber das sieht gar nicht aus wie ein Drachen“, moserte ich skeptisch herum.
„Nun ja“, sagte Kai. „Ich weiß auch nicht, warum das Drachen heißt. Das ist ein bisschen wie bei Origami. Da hat man auch keine Ahnung, warum manche Figuren heißen wie sie heißen, weil aussehen tun sie irgendwie anders.“ Kai hatte das mit Papier bezogene Drachengestänge vor sich liegen. An das eine spitze Ende band sie eine Schnur, an welche sie in Abständen wiederrum mehrere kleinere, schleifenartig gefaltete Papiere befestigte. „Du weißt doch was Origami ist?“
„Aber natürlich“, antwortete ich überlegen nickend. „Das ist Computersprech für Original-Spiel.“
„So in etwa“, kommentierte Kai knapp und erhob sich vom Boden. Sie hielt stolz den Papierdrachen in der Hand. „Jetzt muss nur noch die lange Halteleine dran, dann können wir auch schon los.“
Als ich an diesem Tag erneut die Tür öffnete, gab ich sorgfältig acht, dass der Wind sie mir kein zweites Mal aus den Vorderklauen riss. Es war nicht ganz einfach, aber Kai, wieder in ihren Regenmantel, und ich kämpften uns durch die steife Brise auf einen nahegelegenen Hügel. Hier standen keine Bäume und der Wind pfiff uns ungebremst um Hörner und Ohren.
„Das ist eine sehr gute Stelle“, sagte Kai. „Dann wollen wir mal.“
Ich war gespannt, was als nächstes passieren würde, und nicht wenig verblüfft, als Kai den Drachen, an dem sie so hingebungsvoll gearbeitet hatte, voller Kraft wegschmiss. Das Papier-Holz-Gebilde wurde augenblicklich vom Wind erfasst und in die Höhe getragen. Doch es konnte nicht davonfliegen, denn Kai hielt es an der langen Leine.
„Der fliegt aber ganz schön hoch“, fiel mir auf.
„Ja!“ Kai strahlte übers ganze Gesicht. „Das ist ein tolles Gefühl!“
Der Wind zog enorm an dem Drachen und ich beäugte die relativ dünne Halteleine misstrauisch. Kai lächelte froh, während sie die Schnur mit ganzer Kraft festhielt. Mir jedoch schwante Ungutes.
„Vielleicht solltest du die Leine etwas verkürzen“, schlug ich vor. „Soweit oben braust und saust es noch viel mehr als hier unten. Es könnte sein, dass …“
Ich hatte den Satz noch nicht beendet, da prallte eine besonders stürmische Böe ruckartig auf den Papierdrachen und die Schnur riss. Kai fiel der Länge nach hin und das papierbedeckte Gestänge verschwand auf Nimmerwiedersehen zwischen den grauen, schnell ziehenden Wolkenbergen. Kai hielt die abgerissene, flatternde Leine weiter fest.
„Oh“, machte Kai enttäuscht und krabbelte zurück auf die Beine.
„Hast du dir weh getan?“, fragte ich besorgt.
„Nein.“ Kai schniefte einmal. „Alles okay“, sagte sie so leise, dass ich sie bei dem Getöse kaum verstand. Sie starrte zuerst auf das Leinenende in ihrer Hand und dann, für einen kurzen Augenblick, mich an. Doch schnell senkte sie wieder den Kopf und zog sich die Kapuze über. Mit der anderen Hand fuhr sie sich übers Gesicht. Kai wollte nicht dass ich sah, wie ihre Augen einen feuchten Glanz bekommen hatten.
Aber uns Feendrachen entgeht so etwas nicht, wir haben einen scharfen Blick. Und nicht nur das! Das war ein Moment, in dem ich zeigen konnte, aus welchem Holz wir wahrhaft geschnitzt sind!
Entschlossen angelte ich nach dem losen Ende der immer noch sehr langen Schnur, legte mir meinen Drachenschwanz zurecht und zurrte die Leine geschickt gleich hinter dem Pfeilspitzenende fest.
„Was hast du vor?“, fragte Kai aufgeregt.
„Du hast vollkommen recht“, erklärte ich bestimmt. „Dieser Wind ist sehr gut dafür geeignet, einen Drachen steigen zu lassen.“
Ich öffnete meine imposanten Flügel und breitete sie weit aus. Sofort spürte ich, wie die Luft mit aller Macht an ihnen zerrte und zugleich wie Segel aufbauschte.
„Du musst mich aber gut festhalten“, sagte ich an Kai gewandt. Als diese mit aufgerissenen Augen eifrig genickt und beide Hände fest um ihr Stück der Halteleine geschlossen hatte, stieß ich mich ab. Das Manövrieren war wie erwartet äußerst schwierig und wäre ich nicht ein sehr guter Flieger – mein Spitzname in der Flugschule lautete nicht umsonst „McDragonfly“ – wäre ich garantiert vom Winde verweht worden. Aber ich glitt und tauchte durch die stürmischen Massen, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Ich flog Kreise und drehte Pirouetten. Aus der Luft konnte ich mit meinen scharfen Drachenaugen Kais glückliches Gesicht erkennen und jedes Mal, wenn ich einen Sturzflug machte, jauchzte sie vor Freude.
‚Ja‘, dachte ich bei mir. ‚Kai hat vollkommen recht. Drachensteigenlassen ist eine tolle Drachensache.“
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